2 Sexuelle Selbstbestimmung für erwachsene Menschen mit Behinderung
Menschen mit (geistiger) Behinderung sind im Erleben und Ausleben ihrer Sexualität oft auf die Unterstützung von anderen Menschen angewiesen. Dabei sind verschiedene Aspekte auf beiden Seiten bedeutsam. Von Seiten der Menschen ohne Behinderung können als relevant benannt werden:
• Das Wissen über mögliche Veränderungen der sexuellen Entwicklung durch das Leben mit einer Behinderung, aber auch das Wissen über sexuelle Entwicklung und Sexualität allgemein,
• die Bereitschaft, sich auf das Gegenüber in vielen Facetten seines/ihres Lebens offen einzulassen,
• die eigenen diesbezüglichen Kompetenzen, die durch berufliche Kompetenzen, aber auch die eigene (sexuelle) Lerngeschichte bestimmt sind,
• sowie die individuellen Normen und Werte im Lebensbereich der Sexualität, die durch einen gesamtgesellschaftlichen Rahmen geprägt sind.
Leben Menschen mit Behinderung in Wohneinrichtungen, so können sie bei der Realisierung sexueller Selbstbestimmung auf die Mitarbeitenden angewiesen bzw. von ihnen abhängig sein. Die persönlichen und professionellen Begegnungen sind neben den beiderseitigen individuellen Voraussetzungen noch durch weitere strukturelle Rahmenbedingungen beeinflusst. Hier lassen sich z. B. die baulichen Gegebenheiten nennen (Einzelzimmer, eigenes Bad etc.) sowie die Teamstruktur in einer Wohngruppe, Vorgaben und Unterstützungsleistungen durch die Leitungskräfte, die inhaltliche Ausrichtung des Trägers sowie die Organisationskultur.
Im Folgenden soll dieses Handlungsfeld anhand aktueller Forschungsergebnisse skizziert werden, um daraus die leitende Fragestellung für die Befragung abzuleiten. Dazu wird zunächst dargestellt, was unter sexueller Selbstbestimmung verstanden wird und wie diese oft für Erwachsene mit Behinderung eingeschränkt wird. Vor dem Hintergrund der Forderungen der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung werden Konsequenzen für die Erhebung abgeleitet.
2.1 Sexuelle Selbstbestimmung
Grundlegend ist sexuelle Selbstbestimmung mit der Frage verbunden, wie Sexualität inhaltlich gefüllt wird.
Das hier vertretene Verständnis von Sexualität setzt bei der für alle Menschen angenommenen Möglichkeit der individuellen Realisierung von Sexualität an. Jedem Menschen wird die Ausbildung einer subjektiv befriedigenden Sexualität zugetraut und demgemäß auch zugemutet. Sexuelle Selbstbestimmung ist somit eine Entwicklungsoption und -ressource, die jeder Mensch hat, egal wie seine Lebensvoraussetzungen sind. Das grundgelegte weite Verständnis von Sexualität ist durch folgende Aspekte, die bereits an anderer Stelle ausführlicher dargelegt sind (vgl. Ortland 2008, 16 ff.), gekennzeichnet:
• Sexualität ist mehr als Geschlechtsverkehr.
• Sexualität umfasst immer den ganzen Menschen mit seinen Gedanken, Gefühlen und dem Körper. Eine subjektiv befriedigende Sexualität ist nicht an die Intaktheit des Körpers gebunden.
• Sexualität ist eine unverzichtbare Lebensenergie, deren Ausleben weitere Energien freisetzen und deren Fehlen zu Bedrückung oder auch (Auto-)Aggression führen kann.
• Sexualität gehört ein Leben lang zu einem Menschen.
• Sexualität hat viele Schattierungen, die als positiv oder negativ erlebt und bewertet werden können.
• Der Weg zu einer individuelen, subjektiv befriedigenden Sexualität ist ein Lernprozess, der Erfahrungen braucht und jedem möglich ist.
Dies wird in folgender Definition zusammengefasst:
»Sexualität kann begriffen werden als allgemeine, jeden Menschen und die gesamte menschliche Biografie einschließende Lebensenergie, die den gesamten Menschen umfasst und aus vielfältigen Quellen – soziogenen und biogenen Ursprungs – gespeist wird. Sie beinhaltet eine geschlechtsspezifische Ausprägung, kennt ganz unterschiedliche – positiv oder negativ erfahrbare – Ausdrucksformen und ist in verschiedenster Weise sinnvoll« (Ortland, 2005, 38).
Sexuelle Selbstbestimmung hat in ihrer Realisierung als subjektiv befriedigende Sexualität keine äußere Norm, an der sie erkennbar wäre. So kann sich sexuelle Selbstbestimmung in vielen Facetten bewusst oder unbewusst durch das Individuum herstellen lassen. Sexuell selbstbestimmt zu leben kann eine (zeitweise) Entscheidung gegen oder für Genitalsexualität bedeuten, eine Entscheidung gegen oder für partnerschaftliche Sexualität, eine Entscheidung gegen oder für vermehrte Masturbation, gegen oder für bestimmte Formen der Gestaltung der eigenen Geschlechtsidentität in den Polen zwischen Mann und Frau und vieles andere mehr. Diese oft unbewussten Gestaltungsprozesse subjektiver sexueller Selbstbestimmung sind nicht für jeden Menschen in gleicher Weise reflektierbar und kommunizierbar.
Sexuelle Selbstbestimmung beinhaltet, dass (bewusste oder unbewusste) individuelle Entscheidungen für oder gegen verschiedenste Formen sexuellen Lebens durch das Individuum in der jeweils aktuellen Lebenssituation selbst getroffen werden. Dies geschieht auf der Grundlage unterschiedlicher emotionaler, körperlicher und kognitiver Lebensvoraussetzungen und kann bei Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung in der Ausdrucksform sehr basal sein. Diese Entscheidungen verändern sich im Laufe des Lebens z. B. durch die eigenen körperlichen, emotionalen, psychischen, sozialen, kommunikativen, perzeptiven etc. Veränderungen und die sexuelle Biografie bzw. Lerngeschichte.
Die Annahme der Realisierung sexueller Selbstbestimmung für jeden Menschen schließt aufgrund deren hoher Individualität die Benennung eines definierbaren ›richtigen‹ oder ›erwachsenen‹ Sexualverhaltens aus. Subjektiv befriedigendes Sexualverhalten ist in allen individuellen Variationen denk- und lebbar und findet seine klare Grenze immer in der Persönlichkeit und den Rechten des anderen.
Sexualität braucht also Lernerfahrungen und diese wiederum Lernmöglichkeiten mit sich selbst und anderen. Individuelle sexuelle Entwicklung braucht demzufolge ein Umfeld, das aufgrund des Anerkennens der Sexualität eines jeden Menschen, egal wie schwer dessen Beeinträchtigungen sind, passende Lernmöglichkeiten in der Lebenswelt bereit hält. Sexualität als Lebensenergie und Entwicklungsressource kann vielfältig erfahren werden. Sie kann idealerweise von leichten, spielerischen Aspekten und Momenten getragen sein, die z. B. in der Erkundung des eigenen Körpers und dessen lustvollen Möglichkeiten liegen können. Eine vergleichbare spielerische Leichtigkeit können die Erfahrungen mit anderen haben, die sich in der Erprobung des Flirtens, des sich Annäherns, des sich gegenseitig Kennenlernens in allen Facetten und auch Grenzen ereignet. Gleichzeitig gibt es Erfahrungen von eigenen Unmöglichkeiten, eigenen (körperlichen) Grenzen oder auch Ablehnungserfahrungen durch erwünschte Partner/innen. Offenheit für und Bereitschaft zu neuen, immer auch leichten und spielerischen Lernerfahrungen, denen Grenzerfahrungen immanent sind, sind tragend für die lebenslange Weiterentwicklung der individuellen Sexualität. Auf diesem Weg können auch die körperlichen Veränderungen, die sich z. B. in der pubertären Entwicklung als auch im Klimakterium sehr offensichtlich zeigen, in das eigene sexuelle Leben integriert werden.
Die Offenheit für die Notwendigkeit und Möglichkeit sexuellen Lernens sowie deren individuelle Nutzung zu subjektivem Lernen gehen in dem Spannungsfeld von Bedürftigkeit und Fähigkeit, das Gröschke (2008, 248) beschreibt, auf. In diesem Spannungsfeld leben alle Menschen. »Jeder Mensch ist immer zugleich bedürftig und fähig« (ebd., Hervorhebung im Original). Für Menschen mit Behinderung beschreibt Gröschke, dass hier »diese anthropologische Bedürftigkeit allenfalls existentiell zugespitzt und mehr auf äußere Ressourcen und Unterstützung der Bedürfnisbefriedigung angewiesen« (ebd.) ist.
In Bezug auf die Fähigkeiten eines jeden Menschen benennt er im Rahmen seiner heilpädagogischen Anthropologie drei »allgemeingültige menschliche Grundbefähigungen«: Entwicklungsfähigkeit, Lernfähigkeit und Handlungsfähigkeit. Entwicklungsfähigkeit beschreibt Gröschke (2008, 236) folgendermaßen:
»Jeder Mensch, unabhängig vom Ausmaß...