2
Ausgangspunkte
Der Mensch mag einsam sein; das Gehirn ist es nicht. Die Übertragung von Eigenschaften des Menschen auf das Gehirn entstammt dem Kausalbedürfnis, geistige Erfahrungen durch materielle Gegebenheiten zu erklären. Die Ergebnisse der Hirnforschung werden heute diesem Bedürfnis entsprechend interpretiert. Im Großhirn sollen Gedanken und Wahrnehmungen, im sogenannten limbischen System Gefühle und triebhafte Regungen entstehen, in Hippokampus und Hirnrinde soll das Gedächtnis beheimatet sein usw. Für nahezu sämtliche seelischen und geistigen Erlebnisse sind inzwischen Korrelate im Gehirn entdeckt worden, die als Ursprung oder Repräsentationen der jeweiligen Erlebnisse und Aktvollzüge gedeutet werden. Dabei wird unterstellt, dass die Hirnaktivitäten auch die eigentliche Ursache des Erlebens und Handelns seien. Wie gesagt spricht jedoch einiges dagegen, die Hirntätigkeit zur Ursache des Geistes zu erklären:
1. Bewusstsein ist nicht reduzierbar; es stellt einen letzten, nicht weiter hintergehbaren, das heißt nicht durch andere Ursachen erklärbaren Endpunkt der phänomenologischen Analyse dar. Es gibt nichts, was die Fähigkeit, bewusst wahrzunehmen und vernünftig nachzudenken erklären könnte. Sie liegt vielmehr selbst allen anderen rationalen Begründungen und Ursachen zugrunde (Searle 1996).
2. Bewusstsein und Denken ereignen sich in einem phänomenologischen Raum, der umfassender und vor allem anders ist als das dreidimensionale Gehirn. Erleben und Denken sind phänomenologisch delokalisiert.6
3. Geist und Bewusstsein existieren nur im Erleben der ersten Person. Dagegen werden neuronale Prozesse stets von außen, das heißt in der Dritte-Person-Perspektive wahrgenommen. Wird die entsprechende Selbsterfahrung, das primäre Ich-Erleben unterschlagen (Selbst-Vergessenheit), lässt sich das Versäumte nicht mehr nachholen. Wer das Ich nachträglich, additiv, als Geist zum Leib hinzufügt, hat ein zweites Ich aus der Dritte-Person-Perspektive konstruiert das nicht wirklich existiert.
4. Das Auftauchen von Geist aus dem Gehirn (Annahme der Emergenz) ist ein Fehlschluss, ist nicht verstehbar. Die behauptete Kausalbeziehung von Gehirn und Geist wirft ein zusätzliches Problem auf statt das ursprüngliche zu lösen. Statt zu einem besseren Verständnis des Gehirns führt sie zu einer unüberbrückbaren Erklärungslücke (Levine7).
Wenn kein Kausalzusammenhang zwischen Gehirn und Bewusstsein besteht, welcher Art ist dann ihre Beziehung? Die Physiologie spricht hier von einer Weckung (Exzitation, Evozierung) der im gesamten Leib schlummernden Fähigkeiten und Potenzen.8 Deren Lokalisierung bleibt jedoch offen. Phänomenologisch erlebt man Angst und Freude nicht im Gehirn oder in den sogenannten Mandelkernen (Amygdalae), sondern im ganzen Leib, in Kopf und Bauch, Händen und Füßen, vielleicht auch »im Herzen«, wie der Volksmund sagt; sie werden lediglich von den Hirnkernen geweckt. Der Wille zum Handeln geht nicht vom Kopf (auch nicht vom sog. Bereitschaftspotential im Großhirn, B. 5), sondern von den auf die Umweltsituation antwortenden Gliedmaßen und Sinnesorganen aus. – Statt einer monokausalen finden sich lediglich kreisförmige Beziehungen zwischen Gehirn, Leib und Umwelt (»Gestaltkreis«, Weizsäcker 1943). Das Nervensystem ist als weckendes Verbindungsglied in den Funktionskreis von Wahrnehmen und Handeln eingeschaltet. Fällt eines der Glieder in der Kette aus, bricht die gesamte Funktion zusammen. Das Gehirn hat dabei keine übergeordnete, höhere Funktion als die anderen funktionellen Glieder. Es gibt hier, wie bei Henne und Ei, keine »erste Ursache«. –
Wie kommt es überhaupt zur Lokalisation von Seele und Geist im Gehirn? Die These eines vom eigenen Leib und von der Welt getrennten Geistes tritt zuerst bei René Descartes (1596–1650) auf. Dabei werden bewusster Geist und Materie einander unvermittelt gegenübergestellt (Dualismus; B. 4, Anm.59). Der Geist soll nach Descartes keine direkte Verbindung zur Welt haben. Er tritt mit dem Gehirn in Kontakt und empfängt hier die Bilder von der Umwelt. Auch für spätere Philosophen wie etwa Locke ist der Verstand wie ein Zimmer, das nur einige kleine Löcher hat, um äußere Bilder und Ideen von den Dingen einzulassen als Repräsentanten oder Ideen der Dinge, die er selbst niemals zu sehen bekommt.9
Die Auffassung, Bewusstsein entstehe im Gehirn, unterstellt eine im Innern der Schädelkapsel gelegene, für Andere unzugängliche Innenwelt, deren Verbindungen nach beiden Seiten gekappt sind: Der vermutete Geist im Gehirn erscheint vom übrigen Leib ebenso abgeschnitten wie von der Welt. Damit erhalten die Wahrnehmungen, die auf bloße Hirnkonstruktionen zurückgeführt werden, einen illusionären Charakter. – Der moderne Neurokonstruktivismus hat die Bildtheorie von Locke übernommen. Nur empfängt jetzt nicht mehr der Geist im Gehirn die kartesischen Ideen, sondern das Gehirn selbst, sei es in Form eines hypothetischen doppelten Ichs, sei es, dass Gehirn und Ich überhaupt gleichgesetzt werden (sog. Identitätstheorie A. 3.5).
Das lebendige, wirkliche Bewusstsein hat jedoch weder Ähnlichkeit mit dem Geist Descartes’ noch mit dem doppelten Ich der Neurokonstruktion. Persönliches Erleben kann von Leib und Umwelt nicht abgelöst, nicht isoliert werden. Ein vom Leib getrennter »Geist im Gehirn« ist ein ausgedachtes, irreales Phantom; ein sogenannter »Beobachter im Gehirn« ist nicht verifizierbar, ist ein Neuromythos (Fuchs 2006). Der erlebende Geist hat keinen bestimmten Ort im Körper. Geist lebt im gegenwärtigen Wahrnehmen, das heißt, er ist überall und nirgends – und damit auch nicht im Gehirn lokalisierbar ( D. 9).
Die Auffassung, der Mensch sei ein in seiner Innenwelt gefangenes Subjekt, ist nicht wertfrei, sondern stellt vielmehr eine Bewertung des menschlichen Geistes dar. Sie macht aus dem Individuum einen »Gefangenen des Gehirns« ohne eigenes Dasein.10 Wird das menschliche Ich von der Welt getrennt und als Ego gedacht11, dem nur ein illusionäres, unwirkliches Bewusstsein zukommt, sind die Konsequenzen weitreichend ( D. 11).
Mit der Isolation des Subjekts erheben sich zwei Erkenntnisklippen: Zum einen die Negierung der Freiheit, zum anderen die Eliminierung der Wahrheitssuche. Beides sind Hauptprobleme der heutigen Wissenschaft. Ein hirngesteuertes Individuum unterscheidet sich nicht von einem programmgesteuerten Automaten. Wissenschaftler welche die Auffassung vertreten, dass der Mensch in seinem bewussten Tun und Lassen vom Gehirn gesteuert sei, sehen in ihm ein grundsätzlich unfreies Wesen. Er sei das Opfer der Konditionierung seines Gehirns, Freiheit sei nur eine Illusion (Singer 2004; Roth 2003). Singer und Roth bestreiten dezidiert die Möglichkeit der Willensfreiheit. In der Konsequenz kommen nur zwei Denkmöglichkeiten infrage: Entweder ist die heutige Hirntheorie richtig – dann gibt es keine Willensfreiheit; oder es gibt diese – dann muss jene falsch sein.
Im Hinblick auf diese Konsequenz kann der Fragenkreis von Gehirn und Geist nicht mehr nur die Domäne der Naturwissenschaft sein. Vielmehr wird es nun zur Aufgabe der Philosophie, ja zur Sache des gesunden Menschenverstandes,
»das Menschenbild der Naturwissenschaften aufzuklären und den oft fragwürdigen Subtext ihrer ›reinen‹ und ›wertfreien‹ Erkenntnisse zu untersuchen. Denn was wird aus der offenen Gesellschaft, wenn man den Empfehlungen von Hirnforschern folgen und die Idee der Freiheit aufgeben würde, um sich in subalterner Demut dem Spiel der Evolution anzupassen?« (Assheuer 2011).
Die Behauptung einer generellen Unfreiheit des Menschen entzieht den heute gültigen modernen Rechtsvorstellungen den Boden. Wenn nämlich allein das Gehirn unsere Handlungen hervorbringen würde, könnte der Mensch für seine Handlungen nicht verantwortlich gemacht werden. Denn den genetischen Anlagen wie der Umwelt kommt ein erheblicher, wenn auch nur bedingt auszumachender Anteil an der Ausbildung des Gehirns zu ( B. 5, Anm.70).
Einer Preisgabe der Idee der Freiheit folgt die der Wahrheitssuche. Sieht man im menschlichen Erkennen lediglich eine Produktion des Gehirns – wird der Geist nur im materiellen Organ statt in der realen Interaktion des Menschen mit der Welt verortet – erscheint das Individuum von der äußeren Wirklichkeit abgeschnitten. Damit verliert das Bemühen um Wahrheit jeden Sinn.12 Ohne Zugang zur Wirklichkeit lassen sich Sätze nicht überprüfen, ihre Gültigkeit weder...