Warum dieses Buch?
Unsere Zusammenarbeit bei diesem Buch geht auf eine Einladung zurück. Anfang 2015 kämpfte Jordanien täglich mit den Folgen des gescheiterten globalen Flüchtlingssystems. Das West Asia – North Africa Institute (WANA-Institut), ein jordanischer Thinktank, der mit unserer Arbeit vertraut war, lud uns deswegen zu einem Brainstorming mit der jordanischen Regierung ein. Wir waren beide keine Nahostexperten: Unser geografisches Interesse gilt vor allem Afrika. Und wir sind beide weder Juristen noch Anthropologen, also eher Außenseiter in der überschaubaren Auswahl akademischer Disziplinen, die die Flüchtlingsforschung dominieren. Paul ist Wirtschaftswissenschaftler und Alex ist Politologe, auch wenn wir beide regelmäßig die Grenzen unserer Fachbereiche überschreiten. Paul forscht zwar schon lange über die Themen Entwicklung und Konflikt, doch mit Flüchtlingen hatte er sich in seiner Arbeit noch nicht beschäftigt. Um keinen Schaden anzurichten, lehnte er es routinemäßig ab, sich in unbekanntes Terrain vorzuwagen, und so hätte er wahrscheinlich auch diese Anfrage abgelehnt. Doch für Alex ist das Thema Flüchtlinge kein unbekanntes Terrain, sondern sein Lebenswerk; seit 2014 leitet er das Refugee Studies Centre an der Oxford University, das weltgrößte Zentrum für Flüchtlingsforschung. Und so wurden wir ein Team.
Nach unserer Ankunft in Jordanien im März 2015 bemerkten wir schnell, dass wir es mit dem WANA-Institut sehr gut getroffen hatten. Seine Direktorin Erica Harper kannte den gesamten Kontext, der uns fehlte. Außerdem war ihr Mann Andrew Direktor des UNHCR in Jordanien. Seine eindrucksvolle Kombination von Tatkraft und Intelligenz wurde dringend gebraucht: Angesichts wachsender Not und schwindender Ressourcen wurde seine Arbeit täglich schwieriger. Durch ihn und Erica hatten wir leichten Zugang zu den Informationen und den Netzwerken, die wir brauchten, um unsere Wissenslücken zu schließen.
Dann begannen wir, eine neue Idee auszutesten. Die Regierung von Jordanien unterwarf die Flüchtlinge den typischen Restriktionen: Sie durften nicht arbeiten. Außerdem war das Land typisch für viele Länder mittleren Einkommens: nicht arm genug, um Entwicklungshilfe zu erhalten, aber kaum in der Lage, das bestehende Einkommensniveau zu verbessern. Wir fragten uns, ob es möglich wäre, den Zustrom von Flüchtlingen nicht mehr als Last, sondern als Chance zu betrachten und die internationale Gemeinschaft für eine neue Form des Engagements zu gewinnen. Wir diskutierten die Idee mit verschiedenen NGOs, internationalen Organisationen und der jordanischen Regierung, die alle zutiefst frustriert über die schwindende internationale Unterstützung für Flüchtlinge waren.
Wir besuchten das Flüchtlingslager Zaatari, wo es nach stillgelegten Leben stank: ein Thema, das dieses Buch immer wieder heimsuchen wird. Doch unser Besuch war von einem glücklichen Zufall gesegnet. Unserem offiziellen jordanischen Gastgeber wurde es langweilig, und er schlug vor, einen kleinen Abstecher zu machen und uns etwas anzusehen, auf das die jordanische Regierung stolz war. Nur eine Viertelstunde von Zaatari entfernt lag eine völlig andere Welt: Die King Hussain bin Talal Development Area (KHBTDA), in die das Land 120 Millionen Euro investiert hatte, eine riesige, gut ausgestattete Wirtschaftszone, die Unternehmen in diesen Teil des Landes locken sollte. Doch der Krieg in Syrien, auf der anderen Seite der Grenze, hatte das Projekt zum Stillstand gebracht. Nur zehn Prozent der Wirtschaftszone wurden genutzt, Jordanier wollten dort nicht arbeiten.
Bis zu 83 000 Flüchtlinge hatten also vier Jahre lang in erzwungener Untätigkeit in Zaatari gesessen, während 15 Minuten entfernt eine riesige Wirtschaftszone leer stand – aus Mangel an Arbeitskräften. Mit den vereinten geistigen Kräften zweier Oxfordprofessoren gelang es uns, eins und eins zusammenzuzählen: Mit ein bisschen passender internationaler Unterstützung konnte es allen besser gehen. Wir erkannten bald, dass die Idee auch auf andere Orte des Landes übertragen werden konnte: Überall gab es Flüchtlinge und Wirtschaftszonen. Und war der Fall Jordaniens einzigartig? Vielleicht konnte derselbe Ansatz auch anderswo funktionieren. Natürlich hatten wir kein Wundermittel gefunden: Jede denkbare Initiative wird auf viele praktische Hindernisse stoßen. Doch es lohnte sich, an ein paar Orten Pilotprojekte zu starten. Die jordanische Regierung war interessiert: Es war an der Zeit, von der Idee zur praktischen Umsetzung zu schreiten.
Zwischen einer wissenschaftlichen Idee und ihrer praktischen Umsetzung liegen entweder Jahre oder eine Ewigkeit. Im Sommer 2015 jedoch eskalierte das Flüchtlingsproblem zu einer massiven Krise. Wir brauchten eine Abkürzung. Also beschlossen wir, Artikel zu schreiben, die schnell publiziert würden und eine breite Leserschaft erreichen sollten. Im August stammte die Titelgeschichte des Spectator von uns, und im Oktober hatten wir einen wichtigen Artikel in Foreign Affairs. Unsere Vorschläge wurden gelesen und in Ermangelung einer besseren Idee aufgegriffen. Im Januar 2016 wurden sie den Teilnehmern des Weltwirtschaftsforums in Davos vorgetragen. Im Februar wurden sie auf einer Konferenz in London, die der jordanische König, der damalige britische Premierminister David Cameron und der Präsident der Weltbank gemeinsam einberufen hatten, offiziell angenommen. Mit dem sogenannten Jordan Compact startete ein Pilotprojekt, das unter anderem für syrische Flüchtlinge und jordanische Staatsbürger 200000 Arbeitsplätze schaffen soll, auch in einigen Wirtschaftszonen. Der Erfolg des Pilotprojekts hängt jetzt von den Politikern ab.
Wir selbst wollten unsere Überlegungen über Jordanien hinaus erweitern, denn diese Ideen basierten auf zahlreichen grundlegenden Gedanken, wie man ein versagendes Flüchtlingssystem neu konzipieren konnte. Unser Ansatz bedeutet jedoch nicht, das jordanische Pilotprojekt einfach zu erweitern: Jeder Kontext ist anders. Doch es gibt umfassendere Ideen, die es zu entwickeln gilt: das Argument, dass Asyl nicht nur ein humanitäres, sondern auch ein Entwicklungsproblem ist; den Fokus darauf, die Selbstständigkeit der Flüchtlinge durch Arbeit und Bildung wiederherzustellen; das zentrale Anliegen in den Gastländern, die die Mehrheit der globalen Flüchtlinge beherbergen, überlebensfähige und sichere Zufluchtsorte zu schaffen; die Einsicht, dass neben dem Staat und der Zivilgesellschaft auch die Privatwirtschaft eine wichtige Rolle zu spielen hat; und den Wunsch, die Flüchtlingshilfe neu zu denken für eine Welt, die sich radikal von der unterscheidet, für die das bis heute existierende Flüchtlingssystem ursprünglich konzipiert worden ist.
Unser erster Besuch in Jordanien fiel fast genau mit dem Beginn der europäischen »Flüchtlingskrise« zusammen. In jenem April 2015 ertranken 700 Menschen im Mittelmeer. Sie stammten primär aus Ländern mit gravierenden Fluchtursachen, und ihr Tod stand am Anfang eines Jahres mit beispiellosen Flüchtlingsbewegungen in Europa. In jenem Jahr kam eine Million Flüchtlinge nach Europa und löste eine nie dagewesene Nachfrage nach kreativen politischen Reaktionen aus. Doch die Zeit verstrich, und die Krise verschärfte sich, und der Mangel an politischen Ideen wurde immer größer.
Am Ende des Jahres 2015 war man sich weitgehend einig, dass das bestehende Flüchtlingssystem nicht mehr funktionierte und ein neuer Ansatz nötig war. Doch es fehlte an einem Konzept. Zu diesem Zeitpunkt trat Laura Stickney von Penguin erstmals mit der Idee an uns heran, gemeinsam ein Buch über die Flüchtlingskrise zu schreiben, das deren Ursprünge erklärte und praktische Lösungen vorschlug. Nach reiflicher Überlegung (wir waren beide schon erhebliche Verpflichtungen in Bezug auf andere Veröffentlichungen eingegangen) stimmten wir dem Vorschlag zu, weil wir ihn als eine Gelegenheit erkannten, unsere Ideen ausführlich darzustellen und zur Entwicklung eines effektiveren Flüchtlingssystems beizutragen, das den Anforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht wird.
Wir haben das Ziel, für ein allgemeines Publikum zu schreiben und eine intelligente und interessierte Öffentlichkeit zu erreichen, die die Ursachen der »Flüchtlingskrise« versteht und mit uns Ideen für praktikable Lösungen erforschen will. Wir hoffen außerdem, dass ein Teil unserer Leser selbst politische Entscheidungsträger sind. Wir wollen kein esoterisches oder idealistisches, sondern ein praxisorientiertes und realistisches Buch schreiben. Es soll sowohl mit den Beschränkungen als auch mit den Chancen der heutigen Welt arbeiten und aus ihnen ein System entwickeln, das den Flüchtlingen Würde und Selbstständigkeit verleiht und das zugleich den Bedenken der Gastländer und ihrer Gesellschaften Rechnung trägt sowie den Anforderungen demokratischer Kontrolle genügt.
Bei einem gemeinsamen Projekt haben wissenschaftliche Autoren stets unterschiedliche Ausgangspunkte. Wir wurden gefragt, wie sich zwei Autoren, die über Aspekte der Migration gegensätzliche Ansichten geäußert haben, auf die zentralen Argumente dieses Buches einigen konnten. Die Antwort lautet, dass wir diskutierten, nachdachten und argumentierten. Wir durchdachten die Probleme auf der Grundlage der vorhandenen Daten, bis wir uns einig waren. Dieses Verfahren empfanden wir beide als bereichernd und aufschlussreich und sahen uns oft dazu veranlasst, unsere ursprüngliche Position zu überdenken.
Beim Schreiben über ein Thema, das großen Einfluss auf das Leben vieler Menschen hat, haben wir versucht, zwischen der Verantwortung, überlegt und nüchtern zu schreiben, und dem Drang, uns zu engagieren, das richtige...