Einleitung
»Es war die beste und die schlimmste Zeit,
ein Jahrhundert der Weisheit und des Unsinns,
eine Epoche des Glaubens und des Unglaubens ...«
Charles Dickens, Eine Geschichte aus zwei Städten2
Die vergangenen 20 Jahre in der modernen Welt waren tatsächlich die beste und die schlimmste Zeit zugleich, wie eine Geschichte aus zwei Epochen – einer ersten des Wachstums und der Stabilität, gefolgt von der zweiten mit der schlimmsten Bankenkrise, die die industrialisierte Welt je erlebt hat. In kaum mehr als einem Jahr, zwischen August 2007 und Oktober 2008, verwandelte sich das vermeintliche Zeitalter der Weisheit in eines des Unsinns, und Glaube in Unglaube. Die größten Banken an den wichtigsten Finanzplätzen strauchelten, lösten einen weltweiten Einbruch des Vertrauens aus und zogen die schlimmste Rezession seit den 1930er-Jahren nach sich.
Wie konnte es dazu kommen? War es das Versagen Einzelner? Oder scheiterten Institutionen oder Ideen? Die Ereignisse von 2007/2008 brachten eine Flut von Artikeln und Büchern, ja, auch Theaterstücken und Filmen über die Krise hervor. Wäre die Wirtschaft nach der Krise ähnlich rasch gewachsen wie die Zahl der Bücher zum Thema, hätten wir längst wieder Vollbeschäftigung.
Die meisten Darstellungen – ob in den Medien oder seinerzeit im öffentlichen Diskurs – fokussieren sich auf die Symptome, nicht auf die eigentlichen Ursachen. Schließlich waren diese Ereignisse, so stark sie sich Betroffenen und Zuschauern auch ins Gedächtnis eingebrannt haben, lediglich die letzte einer ganzen Reihe von Finanzkrisen, seit unser bestehendes Geld- und Bankensystem nach der Industriellen Revolution im 18. Jahrhundert zum Eckpfeiler des modernen Kapitalismus wurde. Die zunehmende Verschuldung, der Zusammenbruch von Banken, die anschließende Rezession – das alles waren Anzeichen für viel tiefer sitzende Probleme unseres Finanz- und Wirtschaftssystems. Und wenn wir nicht bis zu den eigentlichen Ursachen vordringen, werden wir nie begreifen, was wirklich passiert ist. Wir werden nicht verhindern können, dass es sich wiederholt. Und wir werden nicht in der Lage sein, unseren Volkswirtschaften zu einer echten Erholung zu verhelfen. Dieses Buch beleuchtet die großen Fragen, die von der deprimierenden Regelmäßigkeit der Krisen in unserem Geld- und Bankensystem aufgeworfen werden. Warum treten sie auf? Weshalb verursachen sie so hohe Kosten durch Arbeitsplatzverluste und Produktionseinbußen? Und was können wir tun, um sie zu verhindern? Das Buch greift aber auch neue Ideen auf, die Antworten auf diese Fragen andeuten.
Im Frühjahr 2011 war ich in Peking, um mich mit einem leitenden Mitarbeiter der chinesischen Zentralbank zu treffen. Beim Abendessen im Diaoyutai State Guesthouse, wo wir zuvor Tennis gespielt hatten, sprachen wir darüber, welche Lehren sich zur Lösung der anstehenden Probleme aus der Geschichte ziehen ließen – vor allem für die größte Herausforderung: die Wiederbelebung der Weltwirtschaft nach dem Zusammenbruch des westlichen Bankensystems 2008. In Erinnerung an die apokryphe Antwort von Premierminister Zhou Enlai auf die Frage, welche Bedeutung der Französischen Revolution beizumessen sei (das könne man »noch nicht sagen«), fragte ich meinen chinesischen Kollegen, welche Bedeutung er denn der Industriellen Revolution in Großbritannien in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zuordne. Er dachte lange nach. Dann entgegnete er: »In China haben wir vom Westen eine Menge darüber gelernt, wie Wettbewerb und eine Marktwirtschaft die Industrialisierung vorantreiben und einen höheren Lebensstandard herbeiführen. Das wollen wir nachmachen.« Sein Nachsatz enthielt dann eine kleine Spitze: »Aber das Geld- und Bankwesen, das habt ihr meiner Ansicht nach noch nicht richtig im Griff.«3 Diese Bemerkung war es, die mich zu diesem Buch anregte.
Seit der Krise haben sich viele daran versucht, die Schuldigen an dem verheerenden Ergebnis auszumachen. Mit dem Finger auf Einzelne zu zeigen, ist aber kontraproduktiv – verleitet es doch zu der Annahme, dass wir nie wieder eine Krise erleben werden, wenn wir die Betreffenden nur zur Rechenschaft ziehen – ganz gleich, wie viele es sind. Ach, wenn es doch nur so einfach wäre. Eine ganze Generation der klügsten und fähigsten Köpfe wurde ins Bankgewerbe gelockt, und insbesondere ins Handelsgeschäft, weil das enorme finanzielle Vorteile versprach, und weil die Arbeit, die so reiche Früchte trug, eine solche intellektuelle Herausforderung darstellte. Sie waren fatal irregeleitet. Die Krise war das Versagen eines Systems und der Ideen, die dahinterstanden – nicht das Versagen einzelner Politiker oder Banker, so inkompetent und gierig manche von ihnen zweifellos gewesen sein mochten. Es herrschte ein allgemeines Missverständnis darüber, wie die Weltwirtschaft funktioniert. Ist es angesichts der Größe und des politischen Einflusses des Bankensektors zu spät, den Geist wieder in die Flasche zu sperren? Nein – es ist nie zu spät, die richtigen Fragen zu stellen, und genau das will ich mit diesem Buch versuchen.
Wenn wir die Schuld schon nicht bei den Darstellern suchen, dann doch vielleicht bei den Drehbuchschreibern? Die wahren Schurken sind in den Augen vieler die Ökonomen. Als abstrakte und zunehmend mathematische Disziplin wird der Wirtschaftswissenschaft ein Versagen angelastet, weil sie die Krise nicht vorhergesehen hat. Das ist ein bisschen so, als würden wir die Naturwissenschaft für das wiederholte Auftreten von Naturkatastrophen verantwortlich machen. Allerdings müssten wir den Wissenschaftlern aber vorwerfen, wenn falsche Theorien die Wahrscheinlichkeit solcher Katastrophen erhöhten oder den Eindruck erweckten, als könnten keine auftreten. Eines der Argumente dieses Buches ist, dass die Wirtschaftswissenschaft Denkrichtungen Vorschub geleistet hat, die Krisen wahrscheinlicher machten. Das haben sich die Ökonomen selbst zuzuschreiben, weil sie vorgeben, Prognosen stellen zu können. So leicht lässt sich eine unerforschbare Zukunft aber nicht vorhersagen, auch nicht für Ökonomen. Trotz aller Kritik liefert uns die moderne Wirtschaftswissenschaft eine klare, hilfreiche Weltanschauung. Doch kein Fachgebiet kann auf seinem Stand verharren, und die Wirtschaftswissenschaft muss sich aufgrund der schlimmen Krisenerfahrung verändern – womöglich radikal. Eine brauchbare Theorie für die heutige Zeit erfordert eigenständiges Denken. Wir müssen auf den Schultern der Riesen der Vergangenheit stehen – nicht vor ihnen auf den Knien liegen.
Volkswirtschaften, die in der Lage sind, Menschen auf den Mond zu schicken und außergewöhnlich komplexe und innovative Waren und Dienstleistungen zu produzieren beziehungsweise zu erbringen, haben offenbar Schwierigkeiten, das viel profanere Problem des Umgangs mit dem Geld- und Bankwesen zu meistern. Die Häufigkeit und vor allem anderen die Schwere der Krisen hat, wenn überhaupt, im Lauf der Zeit eher zu- als abgenommen. Auf dem Höhepunkt der Krise im Oktober 2008 schulterten Nationalstaaten die Verantwortung für alle Anleihen und Verbindlichkeiten des globalen Bankensystems. Bilanziell war das Bankensystem praktisch verstaatlicht worden, jedoch ohne kollektive Kontrolle über das operative Geschäft. Diese staatliche Rettungsaktion kann nicht einfach unter den Teppich gekehrt werden. Als es hart auf hart ging, durfte genau der Sektor, der stets die Vorzüge der Marktdisziplin gepriesen hatte, weitermachen, obwohl er dafür auf die Unterstützung der Steuerzahler angewiesen war. Die Kreditwürdigkeit von Staaten stand auf dem Spiel und ging in manchen Fällen, etwa in Island und Irland, verloren. Gott mag das Universum geschaffen haben, doch wir Sterblichen schufen Papiergeld und risikobehaftete Banken. Sie sind menschliche Erfindungen und wichtige Quellen der Innovation, des Wohlstands und wesentlichen Fortschritts, aber auch der Gier, der Korruption und der Krisen. Auf Gedeih und Verderb haben sie maßgebliche Auswirkungen auf das Wohlergehen der Menschen.
In der Geschichte der Neuzeit gelten Banken nicht ohne Grund als die magischen Elemente, die uns aus einem stagnierenden Feudalsystem befreiten und die Entstehung dynamischer Märkte zuließen, welche in der Lage waren, die langfristigen Investitionen vorzunehmen, um eine wachsende Wirtschaft zu tragen.
Die Idee, dass Papiergeld Gold und Edelmetalle mit Substanzwert ersetzen könnte, und dass Banken sichere kurzfristige Einlagen hereinnehmen und sie in langfristige riskante Investments umwandeln könnten, kam mit der Industriellen Revolution im 18. Jahrhundert auf. Sie war ebenso revolutionär wie abgrundtief verführerisch. Das war nichts anderes als Finanzalchemie – die Erschaffung gewaltiger finanzieller Kräfte, die der Realität und dem gesunden Menschenverstand zuwiderliefen. Das Streben nach diesem monetären Elixier brachte eine Reihe von Wirtschaftskatastrophen mit sich – von Hyperinflationen bis zum Kollaps von Banken. Warum haben sich Geld- und Bankwesen, die Alchemisten einer Marktwirtschaft, in ihre Achillesferse verwandelt?
Diese Frage soll das vorliegende Buch beantworten. Es erläutert zunächst, warum die Fehlschläge einer modernen kapitalistischen Wirtschaft von unserem Geld- und Bankensystem herrühren, erörtert die Folgen für die Gesamtwirtschaft und lotet schließlich aus, wie wir die Alchemie ausmerzen können. Unsere Vorstellungen vom Geld- und Bankwesen sind ebenso ein Produkt unserer Zeit wie unsere politische Praxis und unsere Sicht auf die Vergangenheit. Die...