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E-Book

Auf der Suche nach dem verlorenen Glück

Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit

AutorJean Liedloff
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl221 Seiten
ISBN9783406705762
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,49 EUR
Die Autorin, die mehrere Jahre bei den Yequana-Indianern im Dschungel Venezuelas gelebt hat, schildert eindrucksvoll deren harmonisches, glückliches Zusammenleben und entdeckt seine Wurzeln im Umgang dieser Menschen mit ihren Kindern: Sie zeigt, daß dort noch ein bei uns längst verschüttetes natürliches Wissen um die ursprünglichen Bedürfnisse von Kleinkindern existiert, das wir erst neu zu entdecken haben.

<p>Jean Liedloff (1926 &ndash; 2011) ist in New York geboren und aufgewachsen. Nach dem Universit&auml;tsbesuch unternahm sie mehrere Expeditionen in den venezolanischen Urwald, auf denen sie die Gedanken dieses Buches entwickelte. Sie lebte bis zu ihrem Tod als Publizistin und Psychotherapeutin in Sausalito, USA.</p>

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Leseprobe

2. Der Begriff «Kontinuum»


Etwa zwei Millionen Jahre hindurch war der Mensch – obwohl die gleiche Art Tier, wie wir es sind – ein Erfolg. Er war vom Affendasein zum Menschsein evolviert als Sammler-Jäger mit einem wohl angepassten Lebensstil, der ihm, wäre er beibehalten worden, sicher noch viele Millionenjubiläen beschert hätte. So, wie es heute steht, sind sich jedoch die meisten Ökologen einig, dass seine Chancen, auch nur noch ein Jahrhundert zu überleben, mit den Ereignissen eines jeden Tages immer geringer werden.

In den wenigen kurzen Jahrtausenden jedoch, seit er von der Lebensweise abgewichen ist, an die ihn die Evolution angepasst hatte, hat er nicht nur die natürliche Ordnung des gesamten Planeten verwüstet, sondern er hat es auch fertiggebracht, das hochentwickelte sichere Gespür in Misskredit zu bringen, das sein Verhalten endlose Zeiten hindurch leitete. Viel davon wurde erst kürzlich untergraben, als die letzten Schlupfwinkel unserer instinktiven Fähigkeiten ausgehoben und dem verständnislosen Blick der Wissenschaft preisgegeben wurden. Immer häufiger wird unser angeborenes Gefühl dafür, was am besten für uns ist, durch Misstrauen abgeblockt, während der Intellekt, der nie viel über unsere wahren Bedürfnisse wusste, beschließt, was zu tun sei.

Es steht z.B. nicht dem Verstand zu, darüber zu entscheiden, wie man ein Baby behandeln muss. Lange ehe wir einen Entwicklungsstand erreichten, der dem des homo sapiens ähnelte, verfügten wir über hervorragend genaue Instinkte, die über jede Einzelheit der Kinderaufzucht Bescheid wussten. Aber wir haben alle miteinander dieses altbewährte Wissen so vollständig verwirrt, dass wir heute Forscher ganztags damit beschäftigen herauszuklügeln, wie wir uns zu unseren Kindern, zueinander und zu uns selbst verhalten sollten. Zwar ist es kein Geheimnis, dass die Experten nicht «entdeckt» haben, wie wir ein befriedigendes Leben führen können; doch je mehr sie versagen, desto mehr bemühen sie sich, die Probleme ausschließlich mit Hilfe des Verstandes anzugehen und all das, was sich vom Verstand nicht begreifen oder kontrollieren lässt, nicht gelten zu lassen.

Unsere vernunftmäßige Ausrichtung hat uns jetzt ziemlich ans Ende gebracht; unser natürliches Gespür dessen, was gut für uns ist, ist bis zu dem Punkt untergraben, an dem wir uns seines Wirkens kaum noch bewusst sind und einen ursprünglichen Impuls von einem verzerrten kaum noch unterscheiden können.

Ich halte es jedoch noch immer für möglich, von dem Ausgangspunkt, an dem wir stehen, verirrt und behindert, einen Weg zurückzufinden. Zumindest könnten wir die Richtung feststellen, in der unser bestes Interesse liegt, und von jenen Bestrebungen Abstand nehmen, die uns aller Wahrscheinlichkeit nach noch weiter vom Wege abführen werden. Der bewusste Teil der Psyche sollte wie ein guter «technischer Berater» in einem von anderen geführten Krieg bestrebt sein, sich selbst zurückzuziehen, wenn er den Irrtum seines Vorgehens erkennt, anstatt immer tiefer in fremdes Hoheitsgebiet einzudringen. Es gibt natürlich viele Aufgaben für unsere Fähigkeit, vernunftmäßig zu denken, ohne dass diese diejenige Arbeit an sich reißen muss, für welche Jahrmillionen hindurch die unendlich feineren und kenntnisreicheren Seelenbereiche, die wir Instinkt nennen, zuständig waren. Wären auch sie bewusst, sie würden uns den Kopf in Sekundenschnelle überfluten und entmachten, und sei es allein aus dem Grund, dass das Bewusstsein seinem Wesen nach nur immer eines nach dem anderen betrachten kann, während das Unbewusste unzählig viele Beobachtungen, Berechnungen, Synthesen und Ausführungen gleichzeitig und richtig zu bewerkstelligen vermag.

«Richtig» ist in diesem Zusammenhang ein schillerndes Wort. Es soll nicht andeuten, dass wir alle uns über die erwünschten Ergebnisse unseres Handelns einig seien, da sich ja in Wahrheit unsere intellektuellen Vorstellungen über das, was wir wollen, von Mensch zu Mensch unterscheiden. Hier bedeutet «richtig» das, was dem altüberlieferten Kontinuum unserer Gattung entspricht, insofern es den Neigungen und Erwartungen angemessen ist, mit denen wir uns entwickelt haben. Erwartung in diesem Sinne ist so tief im Menschen verwurzelt wie seine Struktur selbst. Seine Lungen haben nicht nur, sondern man kann sagen: Sie sind die Erwartung von Luft; seine Augen sind die Erwartung von Lichtstrahlen jener spezifischen Wellenbereiche, welche das, was für ihn nützlich zu sehen ist, zu den Zeiten aussendet, zu denen Sehen seiner Gattung angemessen ist. Seine Ohren sind die Erwartung von Schwingungen, hervorgerufen durch die Ereignisse, die ihn wahrscheinlich am ehesten betreffen, einschließlich der Stimmen anderer Menschen; und seine eigene Stimme ist die Erwartung von Ohren, die bei den anderen ähnlich wie die seinen funktionieren. Die Liste kann bis ins Unendliche erweitert werden: wasserdichte Haut und Haare – Erwartung von Regen; Haare in der Nase – Erwartung von Staub; Pigmentierung der Haut – Erwartung von Sonne; Schweißabsonderungsmechanismus – Erwartung von Hitze; Gerinnungsmechanismus – Erwartung von Verletzungen an der Körperoberfläche; das eine Geschlecht – Erwartung des anderen; Reflexmechanismus – Erwartung der Notwendigkeit schnellen Reagierens in Notfällen.

Woher nun wissen die Kräfte, aus denen ein Mensch besteht, im Voraus, was ein Mensch benötigen wird? Das Geheimnis ist die Erfahrung. Die Erfahrungskette, die einen Menschen auf sein Erdenleben vorbereitet, beginnt mit den Abenteuern der ersten einzelligen Einheit lebender Substanz. Was immer ihr widerfuhr hinsichtlich Temperatur, Zusammensetzung ihrer Umwelt, verfügbarer Nahrung als Brennstoff für ihre Tätigkeiten, Wetterwechsel und Kontakt mit anderen Gegenständen oder Mitgliedern ihrer eigenen Gattung, wurde ihren Nachkommen weitervermittelt. Auf der Grundlage dieser Daten – die auf eine Weise übermittelt wurden, welche der Wissenschaft noch immer weitgehend ein Rätsel ist – vollzogen sich die sehr, sehr allmählichen Veränderungen, die, nach dem Verstreichen unvorstellbarer Zeitabläufe, eine Vielfalt von Formen hervorbrachten, die durch unterschiedliche Formen der Bewältigung ihrer Lebensumstände überleben und sich reproduzieren konnten.

Wie immer, wenn ein System sich auffächert und zunehmend komplexer wird, einer größeren Vielfalt von Umständen immer genauer angepasst, war das Ergebnis größere Stabilität. Das Leben selbst war nun weniger vom Aussterben auf Grund natürlicher Katastrophen bedroht. Selbst wenn eine ganze Lebensform ausgelöscht wurde, gab es dann noch immer viele andere, die fortbestehen und sich weiterhin komplizieren, verzweigen, anpassen, stabilisieren würden. (Es ist eine einigermaßen sichere Vermutung, dass ziemlich viele «erste» Formen ausgelöscht wurden, ehe eine überlebte, vielleicht Millionen Jahre nach der letzten, und sich rechtzeitig diversifizierte, ehe irgendein unverträgliches Elementarereignis sie auslöschen konnte.)

Das Stabilisierungsprinzip wirkte dabei in jeder Form und in jedem Teil einer jeden Form weiter; seine Daten entnahm es seinem Erfahrungserbe, seinen Kontakten jeder Art, und stattete dabei seine Nachkommenschaft auf immer komplexere Weise dafür aus, mit solchen Erfahrungen noch wirksamer umzugehen. Die Struktur eines jeden Einzelwesens stellte daher eine Spiegelung seiner erwarteten Erfahrung dar. Welche Erfahrung es aushielt, bestimmte sich durch die Umstände, an die seine Vorfahren sich angepasst hatten.

Hatten sich die Geschöpfe während der Evolution in einem Klima entwickelt, dessen Temperatur 50°C nie länger als ein paar Stunden überschritt, noch unter 7°C absank, so war auch die bestehende Form dazu imstande; doch ebenso wenig wie ihre Vorfahren konnte sie ihr Wohlbefinden aufrechterhalten, wenn sie extrem lange an den Grenzen ihres Toleranzbereiches zu verweilen gezwungen war. Die Notreserven erschöpften sich dann, und wenn Erleichterung nicht eintrat, folgte der Tod, für Einzelwesen oder Gattung. Um zu wissen, was für irgendeine Gattung richtig ist, müssen wir die dieser Gattung eigenen Erwartungen kennen.

Wie viel nun wissen wir über die dem Menschen angeborenen Erwartungen? Wir wissen recht gut, was er bekommt, und man sagt uns oft, was er will oder dem herrschenden Wertsystem zufolge wollen sollte. Ironischerweise ist uns jedoch gerade das, was seine Entwicklungsgeschichte ihn als letztes Exemplar in seiner uralten Erbfolge zu erwarten gelehrt hat, eines der dunkleren Geheimnisse. Der Intellekt hat die Entscheidung darüber, was am besten sei, an sich gerissen und beharrt auf absoluter Vorherrschaft für seine jeweiligen...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel4
Zum Buch3
Über die Autorin3
Impressum221
Inhalt5
Vorwort????????????????????????????7
1. Wie sich meine Ansichten so grundlegend wandelten??????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????10
2. Der Begriff «Kontinuum»??????????????????????????????????????????????????????????????????31
3. Der Beginn des Lebens??????????????????????????????????????????????????????????????40
4. Das Heranwachsen????????????????????????????????????????????????????101
5. Die Versagung wesentlicher Erfahrungen????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????142
6. Die Gesellschaft????????????????????????????????????????????????????174
7. Die Rückkehr zum Kontinuum????????????????????????????????????????????????????????????????????????191
Berichte und Überlegungen zur Neuauflage 1988????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????205
Anmerkungen????????????????????????????????????220

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