2. Das «auserwählte Volk» und die Wurzeln der «jüdischen Weltverschwörung»
Juden waren seit der Spätantike Objekte christlicher Mission. Wegen ihrer Verweigerung gegenüber der Heilslehre des Neuen Testaments wurden sie als Feinde wahrgenommen, deren Verstocktheit gebrochen werden sollte. Ihr Anspruch, das auserwählte Volk zu sein, machte die Anhänger des Alten Testaments noch suspekter. Judenfeindliche Phantasien, nach denen sich die Mitglieder der jüdischen Religionsgemeinschaft über alle Grenzen hinweg zum Kampf gegen die Christen verschworen hätten und nach der Weltherrschaft strebten, gehen bis ins Mittelalter zurück.
Im 12. Jahrhundert findet sich z.B. bei Thomas von Monmouth die Vorstellung, alljährlich bestimmten Rabbiner durch das Tos den Tod von Christen. Die Legenden von Ritualmorden, Brunnenvergiftung, Hostienfrevel usw., die immer wieder zum Anlass von Judenverfolgungen wurden, basieren auf Verschwörungsmythen. Sie bilden immer noch den durch Tradition überlieferten Hintergrund judenfeindlicher Ressentiments und daraus abgeleiteter Erklärungsmuster. Überlieferte Mythen lassen sich auch leicht aktualisieren und zur Erklärung für beliebige Ereignisse verwenden. Vor der Kamera des «Spiegel TV» erläuterte im Sommer 2006 ein 17-jähriger Kurde aus Bonn die Gründe für die Entstehung des Libanonkriegs: «Es war erstmal so, dass die Juden ein Kind oder so vergewaltigt haben». Dann berichtet er, er wisse aus sicherer Quelle, dass Juden auch schon mal Sechsjährige in einem Kindergarten systematisch erschossen hätten: «Nur die Lehrerin haben die leben lassen, damit die psychisch krank wird». Der 17jährige verfügt offenbar über ein geschlossenes Weltbild, in dem Juden die Rolle von Schurken haben.
Die mittelalterliche, religiös begründete Dämonisierung des Judentums war eine der Wurzeln des Ressentiments, das Juden als eine geschlossene, zentral gelenkte Gemeinschaft («Weltjudentum») in der Wahrnehmung des modernen Rassenantisemitismus verankerte, den Juden Herrschaftspläne unterstellte und damit Feindschaft gegen sie begründete. In der nationalsozialistischen Ideologie wurde die Wahnvorstellung vom Kampf des Judentums gegen Deutschland und die germanische «Rasse» propagiert und von vielen geglaubt. Wie unsinnig die Konstrukte vom Weltjudentum und von jüdischer Weltverschwörung sind, geht schon daraus hervor, dass antisemitische Propaganda sowohl die angebliche Erfindung und Durchsetzung des Bolschewismus als auch den Kapitalismus, die Beherrschung der Börsen und Banken, als jüdische Machenschaften anprangert, um das Zerrbild des Juden als Bolschewisten und das entgegengesetzte Zerrbild vom Juden als Plutokraten oder Finanzmagnaten zur Hetze gegen die Juden zu instrumentalisieren. Die jahrhundertelange Diasporaexistenz der Juden in vielen Ländern, ihre Bewahrung der kulturellen und religiösen Eigenart haben sicherlich solche Vorstellungen gefördert, die dazu dienten, die Juden zu Fremden, zu Feinden und Schuldigen zu stempeln.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts behauptete der französische Jesuit Augustin Barruel, «die Juden» erstrebten die Weltherrschaft. Die Obsession, Juden als organisierte, durch Religion und Kultur eng verbundene Gemeinschaft gierten nach Macht und Herrschaft, hat sich im 19. Jahrhundert, mit dem Wandel vom Antijudaismus zum rassistischen Antisemitismus, gefestigt und verstärkt. Das vermeintlich organisierte «internationale Judentum» wird als machtvolle Lobby, als Finanzen und Politik bewegende überstaatliche Kraft konstruiert und, gespeist aus spiritueller und ethnischer Eigenart, als stereotype Imagination wahrgenommen. Diese Vorstellung ist immer noch aktuell und stets revitalisierbar. So äußerte im Interview mit einer deutschen Tageszeitung im September 2005 der spätere polnische Ministerpräsident Jaroslaw Kaczynski die Gewissheit: «Die Juden sind zu einem der mächtigsten Völker der Welt aufgestiegen. Natürlich haben die Juden besondere Eigenschaften». Der norwegische Populärphilosoph Jostein Gaarder erregte im Sommer 2006 Aufsehen mit einem Essay, in dem er im Namen eines nicht spezifizierten Kollektives – Zivilgesellschaft, Intellektuelle, Kulturschaffende, Exponenten der Humanität? – eine Absage an den Staat Israel verkündete: «Wir glauben nicht an die Vorstellung von Gottes auserwähltem Volk … Als Gottes auserwähltes Volk aufzutreten ist nicht nur dumm und arrogant, sondern ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wir nennen es Rassismus».
Die Gewissheit, die Juden hätten besondere Eigenschaften (als Individuen wie als Kollektiv), und die Zurückweisung der Metapher «auserwähltes Volk» erfolgen in der Regel in aggressiver Form; sie stützt sich auf die Überzeugung, «die Juden» seien weltweit als Interessengemeinschaft gegen die Nichtjuden organisiert. Als Beweis dienen Mythen wie die «Protokolle der Weisen von Zion», deren Argumentationskraft aus ihrer langen Existenz abgeleitet wird und die im Appell an irrationale Bedrohungsängste besteht.
Tatsächlich gibt es keine Organisation, die alle Juden weltumspannend vereinigt und dazu berechtigen würde, von einem Weltjudentum zu sprechen. Auch der World Jewish Congress (Jüdischer Weltkongress), dem diese Funktion immer wieder zugeschrieben wird, wenn ihre Repräsentanten sich zu Wort melden, hat keine solche Kompetenz. Der im August 1936 in Genf als Zusammenschluss jüdischer Vereinigungen entstandene Jüdische Weltkongress ist lediglich eine Dachorganisation, die die Interessen der Juden gegenüber der Weltöffentlichkeit angesichts der nationalsozialistischen Verfolgung wahrnehmen sollte. Ziel der Organisation sollte es sein, «das Überleben und die Einheit des jüdischen Volkes» zu sichern.
Das Misstrauen gegenüber nichtstaatlichen übernationalen Organisationen, das im Zeitalter nationalstaatlicher Enge Freimaurer, Zeugen Jehovas, Jesuiten und andere traf, galt und gilt jüdischen Vereinigungen in besonderem Maße. Der 1843 in den USA gegründete humanitäre Bund B’nai B’rith, die Alliance Israelite Universelle (1860 in Paris als Wohltätigkeitsverein gegründet), die Zionistische Weltorganisation (1897 als Jüdische Nationalbewegung gegründet) oder nach dem Zweiten Weltkrieg die Jewish Claims Conference, die Ansprüche von Holocaust-Opfern auf Entschädigung und Wiedergutmachung vertritt, werden genannt, wenn das Konstrukt des «Weltjudentums» beschworen wird, obwohl die genannten Organisationen Ziele verfolgen, die für Verschwörungslegenden nicht im entferntesten zu vereinnahmen sind.
Zur Konstruktion der «jüdischen Weltverschwörung» gehört die Rezeption des Anspruchs «auserwähltes Volk» als Wurzel im Religiösen ebenso wie die Wahrnehmung der Juden als ethnisches Kollektiv. Der moderne Antisemitismus des 19. Jahrhunderts gründet seine Abneigung auf das Konstrukt «Rasse» und versucht sich damit als Wissenschaft zu legitimieren, auch oder vor allem, um zu verschleiern, dass es sich um eine politische Ideologie handelt.
Naturwissenschaftler definieren Rasse als eine Gruppe von Lebewesen, die sich durch gemeinsame Erbanlagen von anderen Angehörigen ihrer Art unterscheidet. Die menschliche Gesellschaft besteht aus Angehörigen verschiedener Rassen oder ethnischer Gruppen, die grundsätzlich gleichwertig und gleichberechtigt sind. Historisch ist freilich die ethnische Herkunft von Minderheiten (Indianer und Afrikaner in den USA, Inder in Südafrika, Kenia und Uganda, Chinesen in Indonesien usw.) von der Mehrheitsgesellschaft immer wieder zur Diskriminierung und Verfolgung benützt worden, mit den weitreichendsten Folgen im nationalsozialistischen Völkermord an den Juden.
Die Diskriminierung aus rassischen Gründen (Rassismus) folgt keinen rationalen Argumenten, sondern Vorurteilen und Feindbildern, die instrumentalisiert werden. Kulturelle und religiöse Traditionen spielen ebenso wie wirtschaftliche und soziale Gründe bei Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung von ethnischen Gruppen aus rassistischen Motiven eine entscheidende Rolle. Angeblich typische Rasseeigenschaften sind in der Realität oftmals überhaupt nicht vorhanden und nachweisbar. Auch die Rassenlehre der Nationalsozialisten, die auf sozialdarwinistischen und antisemitischen Überzeugungen des 19. Jahrhunderts basierte, war entgegen ihrem Anspruch kein wissenschaftlich gefestigtes Denkgebäude, sondern vor allem Ideologie und Propaganda. Mit ihr wurde das Konstrukt einer germanischen oder nordischen Rasse gestützt, deren Angehörige als «Herrenmenschen» bezeichnet wurden, die sich klar von minderwertigen Ostvölkern und «Untermenschen» am unteren Ende der Skala, zu denen vor allen anderen die Juden gerechnet wurden, abgrenzen lassen sollten. Unter dem Schlagwort «Rassehygiene» forderten Fanatiker Maßnahmen zur Bewahrung der völkischen Reinheit, wie sie im NS-Staat dann eingeführt wurden («Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses»). Mit dem Kriminaldelikt «Rassenschande» wurden ab 1935 deshalb sexuelle Beziehungen zwischen Deutschen und «Nicht-Ariern» unter Strafe gestellt.
Wie haltlos die angeblich wissenschaftlich...