|13|Kapitel 1
Personalentwicklung – ein Feld psychologischer Forschung und Gestaltung
Karlheinz Sonntag
Überblick:
Dieses einführende Kapitel diskutiert die zentrale Rolle der Personalentwicklung (PE) in erfolgreichen Organisationen. Die spürbaren Konsequenzen der Veränderungsdynamik in der Arbeitswelt erfordern Konzepte und Methoden, die eine den Menschen gleichermaßen fördernde wie gesunderhaltende Arbeitsgestaltung und Kompetenzentwicklung umfassen. Der Beitrag zeigt einen deutlichen Bedarf an psychologischem Grundlagen- und Anwendungswissen in der Personalentwicklung. Systematisch dargestellt an einem Phasenmodell personaler Förderung, werden beginnend mit der Bedarfsanalyse über die Gestaltung und Durchführung verschiedener Interventionen bis hin zur Evaluation dieser Maßnahmen und deren Transfer in den Arbeitsalltag innovative Konzepte sowie erprobte Techniken und Methoden genannt, die jeweils in den weiteren Kapiteln des Buches ausführlich beschrieben und diskutiert werden.
|14|1 Bedarf an psychologischer Kompetenz in der Personalentwicklung
Digitalisierung und technologische Entwicklung führen zu erheblichen qualitativen Veränderungen in der Arbeitswelt (vgl. Bauernhansl, ten Hompel & Vogel-Heuser, 2014; Gorecky, Schmitt & Loskyll, 2014; Hirsch-Kreinsen, Ittermann & Niehaus, 2015). Die Berücksichtigung menschlicher Verhaltensweisen und Denkprozesse sowie motivationaler und emotionaler Zusammenhänge ist vor diesem Hintergrund unabdingbar, sollen zunehmende Komplexität und Veränderungsdynamik für den Menschen bei seiner Arbeitstätigkeit bewältigbar bleiben. Gefragt ist ein vorausschauendes Management der Ressourcenerhaltung und -förderung der Organisationsmitglieder, bei dem Personalentwicklung, Führung und Gesundheitsprävention, abgestimmt auf intelligente technische und organisatorische Lösungen, eine zentrale Rolle spielen.
Sichtet man die Fülle vorhandener „Praxisliteratur“, Informationsmaterialien und Broschüren von Unternehmen, Verbänden und Gewerkschaften, so wird darin teilweise überzeugend dargelegt, dass eine zukunftsorientierte Personalentwicklung ohne psychologisches Grundlagen- und Methodenwissen nicht mehr durchführbar zu sein scheint. Zumindest legen Postulate nach psychischem Wohlbefinden in der zunehmend vernetzten Arbeitswelt, Persönlichkeitsentwicklung, Teamfähigkeit und Problemlösekompetenz der Mitarbeiter1 und Führungskräfte in flexiblen Arbeits- und Organisationsformen diesen Schluss nahe.
Ein Blick durch den Annoncenteil einschlägiger Zeitschriften macht deutlich, dass in Stellenangeboten für „Personalentwickler“ in vielen Fällen eine psychologische Ausbildung erwünscht ist (Schwerpunkt Arbeits- und Organisationspsychologie). Die Inanspruchnahme von Psychologen durch die betriebliche Praxis mag primär instrumentell motiviert und an die Hoffnung geknüpft sein, bislang ungenutzte Ressourcen und Potenziale der Organisationsmitglieder erschließen zu können. Inwieweit das aber dann seriös, fair und effizient realisiert werden kann, ist abhängig von der theoretischen und methodischen Kompetenz, die die ausgebildeten Psychologen für Lösungen im Human Resource (HR)-Management mitbringen.
In den vom Arbeitskreis Assessment Center formulierten „Qualitätsstandards für Personalentwicklung in Wirtschaft und Verwaltung“ wird ausdrücklich auf die |15|erforderliche fachspezifische Erfahrung von Arbeits- und Organisationspsychologen bei der Konzeption, Durchführung und Evaluation geeigneter Maßnahmen und Instrumente personaler Förderung hingewiesen (vgl. Wolf, Diesner, Fennekels et al., 1998; Höft & Wolf, 2003).
2 Forschungsstand und Literaturlage
2.1 Historische Entwicklung
Als traditionelles Teilgebiet des Personalwesens fand Personalentwicklung (PE) bis in die 1980er Jahre fast ausschließlich Beachtung in der betriebswirtschaftlichen Literatur, wo in den entsprechenden Lehrbüchern und Monografien meist Ansätze der nordamerikanischen Managementforschung thematisiert wurden. Vergleichsweise bescheiden nahm sich bis dahin die psychologierelevante Literatur zur Personalentwicklung aus. Monografien von Conradi (1983) und Neuberger (1991) stellten erste Systematisierungsversuche und Ansätze einer teilweisen psychologischen Aufarbeitung auf verhaltenswissenschaftlichen Grundlagen dar. Andere Veröffentlichungen beschränkten sich auf Teilbereiche der Personalentwicklung, wie beispielsweise Ausbildung und Training (Stocker-Kreichgauer, 1978), Evaluation von Führungskräftetraining (Fisch & Fiala, 1984), Erwachsenenbildung (Sarges & Fricke, 1986), Assessment Center (Schuler & Stehle, 1987) oder Trainingsforschung (Sonntag, 1989).
Fragen der beruflichen Qualifizierung, des betrieblichen Anlernens und Schulens zählten allerdings schon seit Münsterberg (1912) und Giese (1927) – mit unterschiedlichem Verständnis und thematischem Gewicht – zum Gegenstandsbereich der Angewandten Psychologie (vgl. zu einem historischen Überblick Kraiger & Ford, 2007; Sonntag, Frieling & Stegmaier, 2012). Die in der damaligen Psychotechnik meist einseitig ökonomisch ausgerichtete Rationalisierung der Fertigkeitsschulung veranlasste Arbeitspsychologen in der Folge einen stärkeren Bezug zur Allgemeinen Psychologie und zur Lernpsychologie in Fragen der beruflichen Qualifizierung herzustellen. Realisiert wurde dies erst Mitte der 1960er Jahre durch Forschungsarbeiten zum sensumotorischen Lernen (vgl. bspw. Ulich, 1964; Volpert, 1971) und zum Training sozialer Fertigkeiten (Semmer & Pfäfflin, 1978). Erst ab diesem Zeitpunkt kann von einer theoretisch begründeten, experimentell überprüften Methodenentwicklung gesprochen werden, die sich in den Folgejahren auch auf das Training kognitiv anspruchsvoller und komplexer Tätigkeiten bezog (vgl. Sonntag 1990, 1992; Felfe, 1992; Hacker & Skell, 1993; Greif & Kurtz, 1996).
Neben der Erprobung von Trainingsverfahren als Mittel zur Veränderung und Weiterentwicklung beruflicher Qualifikationen sind die, Ende der 1970er Jahre begonnenen, mehrjährigen Forschungsaktivitäten einer theoretischen und empi|16|rischen Annäherung der arbeitsimmanenten Qualifizierung und Kompetenzentwicklung durch Arbeitsgestaltung zu nennen (vgl. Frei, Duell & Baitsch, 1984; Franke & Kleinschmitt, 1987). Die dort begonnenen Arbeiten besitzen für die gegenwärtige Personalentwicklung noch immer Relevanz und Aktualität.
Zu Beginn des neuen Jahrtausends konnte in der Folge auf eine Reihe von Übersichtsarbeiten zur Personalentwicklung unter Nutzung psychologischen Anwendungswissens zurückgegriffen werden, wie in Reviews von Holling und Liepmann (2004), Sonntag (2002, 2004) oder in Beiträgen zu speziellen Themenfeldern, wie Personalentwicklung mit computer- und netzbasierten Medien (vgl. Schaper, Sonntag & Baumgart, 2003), selbstgesteuertes Lernen (vgl. Deitering, 2001), wissensorientierte (vgl. Sonntag & Schaper, 2006) oder verhaltensorientierte Verfahren der Personalentwicklung (vgl. Sonntag & Stegmaier, 2006), gesundheitsbezogene Interventionen (vgl. Semmer & Zapf, 2004), Mentoring-Ansätze (vgl. Blickle, 2000), Training von Führungskräften (vgl. Kaschube & von Rosenstiel, 2004), Potenzialdiagnose und -förderung (vgl. Kleinmann und Strauß, 2000), Beurteilung und Förderung beruflicher Leistung (vgl. Schuler & Marcus, 2004) oder Karriereentwicklung (vgl. von Rosenstiel, Lang von Wins & Sigl, 1997). Weiterhin wurden Themenhefte zur Personalentwicklung in deutschsprachigen psychologischen Zeitschriften editiert (vgl. Schuler, 1989; Sonntag & Schaper, 2000; Schaper & Kauffeld, 2008), wobei in der letzteren Ansätze der Kompetenzentwicklung und des Lerntransfers dargestellt wurden.
Bedeutsam werden in diesem Zeitraum Forschungs- und Entwicklungsarbeiten zum arbeitsbezogenen Lernen. Lernen findet demnach direkt im Arbeitsprozess oder in speziell gestalteten Lernumgebungen statt. Erhöhung des Transfers, Berücksichtigung aktueller Lernerfordernisse sowie eine Verbesserung der Selbstorganisation und Eigenverantwortung sind Zielgrößen arbeitsbezogenen Lernens. Theoretische Grundlagen, empirische Befunde, Instrumente und Konzepte zum arbeitsbezogenen Lernen finden sich in Sonntag und Stegmaier (2007). Weitere inhaltliche Entwicklungen in diesen Jahren zeigen mehr oder minder elaborierte und systematische Ansätze der Kompetenzmodellierung, die das operative Tagesgeschäft in der Personalauswahl und -entwicklung effektiv unterstützen sollen. Ein solches ...