Eine Botschaft für alle Menschen
10. Januar 1993
1. Sonntag nach Epiphanias
Matthäus 4,12-17
Am vergangenen Donnerstag war ich hier in unserer Kirche zu einem Gottesdienst. Im Anschluss daran reichten mir einige der Gottesdienstbesucher die Hand und wünschten mir frohe Weihnachten. Wir hatten unseren Tannenbaum bereits am Morgen abgeschmückt und in den Hintergarten befördert. Weihnachten war aus unserem Bewusstsein schon gestrichen. Der Blick war schon mehr auf die Aufgaben des neuen Jahres gerichtet.
Diejenigen, die am vergangenen Donnerstag und auch schon am Mittwochabend zum Gottesdienst zusammengekommen waren, feierten an diesen Tagen ihr Weihnachtsfest. Der 6. Januar ist der Tag der Heiligen Drei Könige. Es waren unsere mazedonischen Gäste, die sich seit eineinhalb Jahren in unserer Kirche zu Gottesdiensten versammeln. Es sind orthodoxe Christen. In der orthodoxen Kirche wird der 6. Januar als Fest der Geburt Jesu begangen. Stroh lag hier in der Kirche auf dem Boden. So war die Kirche zeichenhaft verwandelt in den Stall von Bethlehem. Wenn wir am Vorabend, am 5. Januar abends, direkt in Mazedonien selbst hätten sein können, dann hätten wir viele Feuer beobachten können, die erinnern sollen an die Feuer der Hirten auf den Feldern von Bethlehem.
In der vergangenen Woche fragte mich einer der Konfirmanden: „Wann ist denn Jesus eigentlich geboren? Stimmt denn das mit dem 24. Dezember überhaupt - oder war es vielleicht ein anderes Datum?“ So genau weiß das keiner. In der Kirche haben sich unterschiedliche Traditionen eingebürgert, wann der Geburtstag Jesu gefeiert wird.
Dass Jesus in der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember geboren sein soll, geht auf eine römische Tradition zurück. Die Vorstellung von der Geburt am 6. Januar beruht auf einer ägyptischen Tradition. Das will ich jetzt im Einzelnen aber nicht darstellen. Was ich deutlich machen möchte, ist dies: Unsere Art, die Geburt Jesu zu feiern, ist nur eine von mehreren in der christlichen Welt. Es ist faszinierend zu sehen, welch unterschiedliche Formen sich auf dem einen gemeinsamen Fundament, unserem Glauben an Jesus Christus, ausgebildet haben. Dies betone ich nicht nur, weil wir heute in diesem Gottesdienst mazedonische Gäste unter uns haben, die ich hiermit herzlich begrüße - nachher werde ich dazu noch ein paar Worte sagen -, sondern auch weil Matthäus in unserem heutigen Predigttext den universalen, den weltweiten Charakter der christlichen Botschaft hervorhebt. Schon Jesus selbst hat die Grenzen seiner israelitisch-jüdischen Herkunft überschritten und ist auf Menschen jenseits der Grenzen zugegangen.
Als einen Grund für diese Grenzüberschreitung finden wir bei Matthäus die immer erneuten Hinweise darauf, dass Jesus in seiner engeren Heimat nicht wohlgelitten war. Mit der Geburtsgeschichte fängt das schon an. Matthäus überliefert als einziger der Evangelisten die Legende von den sog. Heiligen Drei Königen. Es waren Magier, Astrologen aus dem Osten, die von weither angereist waren, um das neugeborene Christkind anzubeten. Der Landsmann Jesu, der einheimische König Herodes, dagegen wollte das Christkind umbringen. Da er es nicht finden konnte, ließ er alle männlichen Neugeborenen töten. Dieser Kindermord des Herodes wurde der erste Anlass für eine Grenzüberschreitung Jesu. Seine Eltern, Maria und Josef, flohen mit dem Kind nach Ägypten und kehrten erst wieder zurück, nachdem Herodes verstorben war. Einige Darstellungen der Flucht nach Ägypten finden Sie im Clubraum im Gemeindehaus ausgelegt. Frau Riewe aus unserer Gemeinde hat die Bilder zusammengestellt. Ich empfehle sie im Anschluss an diesen Gottesdienst Ihrer Aufmerksamkeit.
„Ein Prophet gilt nichts in seinem eigenen Land“ - wir erinnern uns an dieses biblische Wort. So muss denn der Prophet zu den Fremden gehen, um Gehör zu finden. Das Unverständnis im eigenen Haus ist eine der Wurzeln für die Ausbreitung des christlichen Glaubens. Aber es ist nur eine Wurzel. Die andere liegt im Charakter der christlichen Botschaft selbst. Die Liebe Gottes ist grenzenlos im mehrfachen Sinn des Wortes.
„Das Volk, das in Finsternis saß, hat ein großes Licht gesehen; und denen, die saßen am Ort und im Schatten des Todes, ist ein Licht aufgegangen.“ Mit diesen bildhaften Worten, Licht und Finsternis, beschreibt Matthäus, was sich in Jesus Christus ereignet hat. Seine Geburt war nicht nur die Geburt eines Menschen zur Freude seiner Eltern, auch nicht die Geburt eines Königssohnes nur zur Freude seines eigenen Volkes. Es war die Geburt eines Kindes, das in sich eine göttliche Botschaft für alle Menschen verkörperte, eine Botschaft für den Menschen schlechthin, ganz gleich, wo er lebt, welcher Nation und Volksgruppe und Rasse und Hautfarbe er zugehört, egal auch wie alt, welches Geschlecht, ob arm oder reich, gesund oder krank, intelligent oder nicht - eine Botschaft an den Menschen in seiner existentiellen Situation, die ihn mit allen Menschen verbindet: dass er sterben muss, dass er den Unbillen der Natur unterworfen ist, dass er verletzlich ist, dass er krank werden kann, dass er schuldig werden kann, dass er auf Zuwendung und Liebe angewiesen ist. In diesen und in einigen weiteren Punkten sind sich alle Menschen gleich.
An diesen Menschen - den Menschen mit all den Problemen, die jeder Mensch hat, wendet sich Gott in Jesus Christus.
Die Situation des Menschen beschreibt Matthäus als Finsternis. Das, was wir durch Jesus Christus empfangen, beschreibt er als Licht.
Diese Bilder bedürfen der Interpretation. Matthäus meint mit Finsternis die Gottesferne des Menschen. Vielleicht denkt er an die Paradiesesgeschichte und an den Sündenfall. Das Paradies als Ort der Gottesnähe, der Einheit von Gott und Mensch. Dieser Ort ist dem Menschen verloren gegangen durch schuldhaftes Verhalten. Adam und Eva verstießen gegen das Gebot Gottes; so wurden sie zur Strafe des Paradieses verwiesen. Seitdem irrt der Mensch durch die Welt, ist sterblich und auf sich selbst gestellt, muss mit der Freiheit leben, die er sich gegen Gottes Gebot selbst herausgenommen hat.
Gewiss sind das mit dem Paradies und dem Sündenfall und der Strafe Gottes auch alles Bilder, biblische Bilder. Sie beschreiben aber doch recht eindrücklich die Situation des Menschen. Tragen wir nicht alle in uns eine Ahnung von einer heilen Welt, die uns verloren gegangen ist und auf die wir nun sehnsuchtsvoll zustreben? Erleben wir nicht manche Vorgänge unseres Lebens wie eine Strafe? Und tragen wir nicht in der Tat in vielfacher Weise Schuld an den Zuständen unserer Welt, an den Missständen um uns herum und in unserem eigenen Leben? Und ist nicht die Freiheit, die wir haben, tatsächlich ein zweischneidig Ding? Erhebend zum einen, aber auch sehr belastend zum anderen?
Matthäus ist in der Bilderwelt des Alten Testaments groß geworden. Er kannte auch die darin beschriebenen Versuche - sowohl die Versuche des Menschen, wieder mit Gott ins Reine zu kommen, als auch die Versuche Gottes, dem Menschen zu helfen. Da weder die Gebote, weder Lohn noch Strafe noch die Ermahnungen der Propheten sich als geeignet erwiesen hatten, den Bruch zu heilen, den der Mensch schuldhaft in sein Leben gebracht hat, bietet Gott ein letztes Mittel der Heilung an: Es ist das Angebot seiner Liebe in der Gestalt eines Menschen.
Die Liebe hat heilende und verbindende Kraft. Sie ist zu allererst ein Geschenk, sie schenkt dem Geliebten, was dieser sich selbst nicht zu geben vermag. Sie gleicht dessen Schwächen und Fehler aus, sie trägt die Lasten mit, sie vergibt und gewährt einen immer neuen Anfang. Adam und Eva wären vielleicht nicht aus dem Paradies hinausgeworfen worden, hätte Gott zu ihnen von Anfang an die Position bezogen, die er in Jesus Christus eingenommen hat. Er hätte ihnen vergeben und sie hätten eine neue Chance in behüteter Umgebung gehabt. Aber dann hätten die beiden und wir alle nicht die Chancen und Risiken der Freiheit und der Selbstverantwortung erfahren.
So dürfen wir es wohl auch als einen Akt göttlicher Liebe ansehen, dass wir als selbstständige und selbstverantwortliche Wesen durch das Leben gehen, die die Freiheit der Wahl haben zwischen Gut und Böse. Mit den Lasten dieser Freiheit sind wir nicht alleingelassen. Christus trägt sie mit. Er trägt sie mit, indem er uns von unserem Versagen immer wieder neu entlastet. Jesus Christus, das Licht in der Finsternis, das ist der Inbegriff an Menschlichkeit im besten Sinne des Wortes. Solche wirkliche Menschlichkeit hat es in unserer Welt nicht leicht. Im Johannesevangelium ist das so formuliert: „Das Licht scheint in der Finsternis und die Finsternis hat‘s nicht ergriffen.“ Die Kräfte der Unmenschlichkeit sind stark. Wir erleben oft genug, dass wir ihnen ohnmächtig gegenüberstehen. Allerdings kennen wir auch die Regungen in uns selbst, das zu tun und zu sagen, was einer wahren Mitmenschlichkeit widerspricht. Auch gegenüber solchen Regungen in uns sind wir oftmals ohnmächtig und sagen und tun, was wir selbst missbilligen.
Aus dem Paradies ist der Mensch hinausgeworfen worden, auf das Himmelreich gehen wir zu. Was das Himmelreich ist, wird in Christus anschaubar. In ihm hat sich der Himmel zur Erde geneigt, und mit ihm haben wir einen Zipfel des Himmels in der...