1 Ein großer Welpe
Wir versicherten uns gegenseitig, wir würden nur gucken. Mom und ich parkten vor dem CVS-Drugstore auf der Franklin Road. Um zehn Uhr morgens war die Luft bereits feucht in Brentwood, dem Vorort von Nashville, in dem ich aufgewachsen war. Durch die Windschutzscheibe hätten wir eine Reihe von Bäumen sehen können, aber wir steckten die Köpfe in die Anzeigenseiten des Tennessean und stöberten in unserer Lieblingssparte: bei den Welpen.
Wir hatten eigentlich keinen Grund, dort zu gucken. Wir besaßen bereits zwei Hunde, Yoda und Bertha, ganz zu schweigen von einer Reihe anderer Viecher und diesem Familienproblem, das ein neuer Welpe wohl auch nicht lösen würde.
»Labrador?«, schlug ich vor und biss in meinen Bagel mit allem.
Mom schüttelte den Kopf, ebenfalls mit vollem Mund. Sie gestikulierte mit dem Daumen nach oben. Größer!
»Coonhound?«
»Hm.« Sie überlegte. »Ist der nicht das Maskottchen der UT oder so, Süße?« Sie hatte recht. Der schlappohrige, sabbernde Coonhound war das Maskottchen der Vols, des Football-Teams der University of Tennessee, an der ich im Herbst mein Studium beginnen würde. Vielleicht wirkte das ein bisschen überangepasst für eine neue Studentin, sich gleich das Maskottchen der Uni zuzulegen. Wir hatten beide denselben Gedanken, sahen uns an und lächelten.
Seit ich diesen Sommer nach Hause gekommen war, hatte Mom eine neue Vorliebe für persönliche Gespräche am Morgen entwickelt und schlug mehrmals in der Woche vor, etwas bei Starbucks oder beim Bäcker zu holen: Bagels und irgendein super süßes Kaffeegetränk zum Mitnehmen. Dann parkten wir nur ein paar Meilen von unserem Küchentisch zu Hause entfernt, so dass wir »reden« konnten. Nur wir beide.
Was meine Mutter anging, bestanden unsere Gespräche hauptsächlich darin, dass sie sich entschuldigte und allen weismachte, es gehe ihr »hundertprozentig gut«. Dann senkte sie den Blick und wartete darauf, dass ich wie üblich antwortete: »Ist schon gut. In Ordnung! Ich glaube dir ja.« Und dann wechselten wir das Thema – auch wenn nichts in Ordnung war und ich nicht mehr sicher war, was ich glauben sollte.
Mom war meine beste Freundin, natürlich wollte ich ihr glauben. Sie legte mir Botschaften in meine Brotdose, bis ich meinen Highschoolabschluss machte (manchmal sogar mit Glitzerkonfetti), erzählte uns, Meerjungfrauen gäbe es wirklich und kaufte meiner kleinen Schwester Erisy und mir Klamotten, die wir nicht brauchten. »Sagt es nicht Daddy«, flüsterte sie dann immer mit ihrer sanften, hohen, trällernden Stimme (die ich von ihr geerbt habe), wenn sie uns mit Einkaufstüten in unsere Zimmer scheuchte. Sie ging alles so an, als müsse es Spaß machen, und wenn irgendein Detail im Leben nicht aufregend war, sorgte sie dafür, dass sich das änderte.
An diesem Samstagmorgen leuchtete das Gesicht meiner Mom, so sehr war sie im Welpenfieber. Wir saßen im geparkten Auto. Trotzdem fühlte es sich so an, als wären wir in Bewegung. Mein Frappuccino schwitzte im Becherhalter, Moms Gedanken rasten. Sicher überlegte sie, wie sie den gestrigen Abend wieder gutmachen konnte. Sie drehte den Kopf und sah mich an.
»Weißt du, was wir heute machen?« Sie lehnte sich zu mir herüber. »Ich finde, wir brauchen einen neuen Welpen.«
Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. »Ich möchte dir wirklich gern einen großen Hund kaufen. Wir sind Große-Hunde-Ladys. Du solltest unbedingt einen großen Hund haben, Süße.« Ich wusste nicht, was sie damit meinte, aber es war mir egal. Ich legte den Bagel auf das Armaturenbrett und ließ den Frappuccino schmelzen.
Wir breiteten den Anzeigenteil aus, drapierten das gräuliche Papier über unsere Beine und das Armaturenbrett.
Deutscher Schäferhund?
Aktiv und sportlich, das wäre super. Aber verstanden die sich mit anderen Hunden? Wir mussten an Yoda und Bertha denken.
Golden Retriever?
Schöne Hunde, aber wir dachten eher an einen, na ja, richtig großen Hund.
Pyrenäenberghund …
Oh! Definitiv groß, aber vielleicht zu haarig?
Boxer?
Mit Boxern kannten wir uns sehr gut aus, wir hatten zwei geliebt und verloren, als ich noch jünger war.
In dem Moment, als wir schon die Nummer für einen Husky-Labrador-Mischling wählen wollten, bohrte Mom einen Finger in die Zeitung und drückte sie tief in ihren Schoß.
»ENGLISH-MASTIFF-WELPEN!«
Es gibt einen Spruch in der Mastiff-Welt: »Was ein Löwe im Verhältnis zu einer Katze ist, ist der Mastiff für den Hund.« Mastiffs sind stark, sanftmütig und bekannt für ihre Treue. Außerdem sind sie die größten Hunde, die es gibt. Ein Old English Mastiff namens Aicama Zorba stellte mit knapp dreihundertfünfzig Pfund den Rekord für den größten Hund der Welt auf. Das entspricht einem kleinen Esel. Kein Wunder, dass die alten Griechen und Römer den Mastiff als Kriegshund verwendeten. Mastiffs kämpften sogar im Kolosseum an der Seite der Gladiatoren. Irgendwann bekam die Rasse den Spitznamen »Sanfter Riese«, denn das sind sie: gutmütige, ruhige, freundliche Kolosse.
Mom stellte ihr Handy auf laut. Ich war so aufgeregt, dass ich fast den Atem anhielt. Ich hoffte, jemand würde ans Telefon gehen.
»Hallo?« Eine Frau meldete sich. Sie hatte einen starken Südstaatenakzent. Das Wort »hello« klang wie »yellow.«
Mom fragte, ob sie ein Weibchen hätten.
Ja.
Ein gestromtes?
Ja.
Ob wir uns die Welpen heute einmal angucken (angucken) könnten?
Ja.
Jetzt gleich vielleicht?
Ja.
Gegen jede Vernunft fuhren wir also auf den I-65, um mal zu gucken.
Unser Zuhause war schon immer eine Art Zoo gewesen. Mein Bruder, meine Schwester und ich hatten jedes Haustier, das ein Kind sich wünschen konnte: mit Fell, mit Federn, glitschige, mit Panzer und sogar eins, das oink machte.
Wenn es ein Tierliebhaber-Gen gibt, dann habe ich es von meiner Mom geerbt. Als ich klein war, bin ich angeblich nach jedem Regen den Bürgersteig auf und ab gelaufen und habe Regenwürmer gerettet, indem ich sie wieder auf die Erde legte, damit sie nicht austrockneten. Das klingt extrem, ist aber nichts im Vergleich zu meiner Mutter.
Als Mom noch ein Mädchen war (erzählte sie mir), bestellte sie Krokodile aus einem Katalog und legte sie in die Badewanne ihres Vaters.
»Können wir auch Krokodile bestellen?«, bettelte ich als Kind.
»Nein, Süße. Das ist in Wirklichkeit gar nicht so angenehm für die Tiere. Aber das wusste ich damals nicht.«
Ich glaube, es ist keine große Übertreibung, wenn ich sage, dass meine Mom über fünfzig Jahre lang Tiere nach Hause gebracht hat. Meistens ohne zu fragen. So haben wir auch unsere beiden Hunde Yoda und Bertha bekommen: aus der Zeitung und aus einer Laune heraus. Yoda war unser Chihuahua. Mein älterer Bruder, Tripp, bezeichnete sie als Ratte. Gut, sie war nicht größer als ein Meerschweinchen und hatte nur fünf Zähne, aber ich liebte sie. Yodas beste Hundefreundin war Bertha, unsere Englische Bulldogge, die eher wie eine Kreuzung aus gestrandetem Seeelefant und Schwein aussah. Sie hatte einen lustigen rosafarbenen Schwanz, der sich aufrollte wie eine Zimtschnecke. Deswegen nannten meine Geschwister und ich sie Cinnabum. Irgendwann gab ihr jemand den Spitznamen Fatty, und den wurde sie nicht mehr los. Fatty bewegte sich am liebsten gar nicht, hatte furchtbare Tischmanieren und schnarchte laut genug, um die Nachbarn zu wecken. Trotzdem saß ich an Sommerabenden in unserem Garten und sang über das Zirpen der Grillen im nahegelegenen Wald hinweg »You Are So Beautiful« für sie. Fatty war Dads Liebling.
Man weiß ja von Paaren, die ein Baby bekommen, weil sie glauben, das würde irgendwie ihre Ehe retten. Vielleicht hat Mom in diese Richtung gedacht, als sie an jenem Tag beschloss, dass wir einen dritten Hund bräuchten. Ein neuer Hund ist ein neuer Anfang! Alles auf Start.
Also, auf ging’s …
Zwei Stunden später fuhren wir in Sparta ab und über einen langen Wirtschaftsweg zu einem kleinen weißen Haus. Aus dem Garten dröhnte ein tiefes Bellen.
Eine Frau öffnete die Fliegengittertür.
»Kommt ihr wegen der Mastiff-Welpen? Hier lang«, sagte sie und zeigte nach hinten.
Wir folgten ihr zur Rückseite des Hauses, liefen dem tiefen Gebell entgegen. Eine lange Reihe dunkler, scharfer Wuffs, unterbrochen durch Pausen.
Ich begann mich zu fragen, ob das wirklich eine so gute Idee war. Ich ärgerte mich, dass Mom mich überredet hatte, diese wahrscheinlich ziemlich lächerliche Tour mit ihr zu machen. Glaubte sie wirklich, sie könnte ihre schlampige, betrunkene Schimpferei vom Vorabend vergessen machen, indem sie mir einen Welpen holte? Als müsse sie nur ein Pflaster über alles kleben? Die Entscheidung für einen Welpen ist nicht unerheblich. Eine Familienentscheidung. Sollten wir nicht zuerst mit Dad darüber sprechen? Schuldgefühle überkamen mich, als ich mir vorstellte, wie meine Eltern sich noch konsequenter ignorierten, weil Mom und ich ein weiteres Tier nach Hause gebracht hatten.
Wir betraten den Garten, und Mom drückte aufgeregt meine Hand. Das Bellen wurde lauter. »Ach, das ist bloß Dozer!« Die Frau klatschte eine Fliege aus ihrem Gesicht. »Stört euch nicht an dem Gebell, sie ist sanft wie ein Lamm.« So ein Bellen hatte ich noch nie gehört. Es war gewaltig, laut und unheilvoll, als wüsste die Hündin genau, warum wir gekommen waren. Mir wurde schwer ums Herz. Wir gingen weiter,...