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E-Book

Warum die Franzosen so gute Bücher schreiben

Von Sartre bis Houellebecq

AutorIris Radisch
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783644001183
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Jean-Paul Sartre hat einst von Paris aus eine ganze Generation junger Europäer geprägt. Michel Houellebecq beschreibt Frankreich inzwischen als Land in der Krise: Die französische Literatur der Nachkriegszeit war stets Programm, mal existenzialistisch, mal politisch, immer verführerisch. Iris Radisch begibt sich auf einen Streifzug durch die neuere französische Literatur und stellt die wichtigsten Autoren vor. Die «Zeit»-Journalistin und Verfasserin eines Bestsellers über Albert Camus lässt sich von ihren eigenen Treffen mit den Autoren leiten und liefert einen einfühlsamen Überblick über die Welt von Sartre bis Duras, von Assia Djebar bis zu Patrick Modiano, Yasmina Reza und Houellebecq. Das Buch ist ein persönlicher Kanon der bedeutendsten Schriftsteller und Schriftstellerinnen Frankreichs - und richtet sich an alle, für die das Nachbarland schon immer der kulturelle und literarische Sehnsuchtsort war. In einem Jahr, in dem Frankreich einen neuen Präsidenten gewählt hat und vor dem Aufbruch steht, will dieses Buch gleichzeitig einen wichtigen Beitrag zur Debatte über den intellektuellen Stand der Dinge leisten.

Iris Radisch, geboren 1959 in Berlin. Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie in Frankfurt am Main und Tübingen. Tätig als Literaturkritikerin; seit 1990 Literaturredakteurin der ZEIT, seit 2013 dort Leiterin des Feuilletons. Daneben Tätigkeit als Fernsehmoderatorin. 2008 wurde sie mit dem Medienpreis für Sprachkultur der Gesellschaft für deutsche Sprache ausgezeichnet. 2009 ernannte die französische Kulturministerin Iris Radisch zum «Chevalier des Arts et Lettres».

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Leseprobe

1. Kapitel Die Sartre-Jahre


Sommer 1944


Am 5. August 1944 lässt sich Ernst Jünger zum letzten Mal in Paris die Haare schneiden. Er ist sich sicher, dass es das letzte Mal ist. Und sein Friseur weiß es auch. Die Amerikaner stehen schon bei Rennes. Vier Jahre lang ist Hauptmann Jünger in der besetzten Stadt stationiert gewesen und hat jeden Schriftsteller getroffen, der bereit war, einem Besatzungsoffizier aus dem Hauptquartier des deutschen Militärbefehlshabers die Hand zu geben, Jean Cocteau, Jean Giraudoux, Marcel Jouhandeau, Henry de Montherlant, Paul Léautaud, Pierre Drieu la Rochelle. Jünger geht noch einmal hinauf nach Montmartre und sieht hinunter auf die Stadt in der flirrenden Sonne. Er macht einen Abschiedsbesuch im literarischen Salon von Florence Gould in der Avenue de Malakoff. Er kauft sich in der Rue Copernic ein Notizbuch. «J’espère que les choses s’arrangerons», ich hoffe, dass sich alles regelt, sagt der Friseur zum Abschied.

Jean-Paul Sartre stand vor wenigen Wochen zum letzten Mal in seinem Leben vor einer Schulklasse im Lycée Condorcet. Ende Mai war sein Stück Geschlossene Gesellschaft am Théâtre du Vieux-Colombier uraufgeführt worden. Ein großer Erfolg. Wenige Tage später landeten die Alliierten in der Normandie. Die Befreiung liegt in der Luft, und ein über Nacht berühmt gewordener und schielender Philosophielehrer ist ihr Held.

Noch flattern auf den Pariser Straßen die Hakenkreuzfahnen. Noch trinken Herren mit strengem Scheitel und Reichsadler an der feldgrauen Brust im Café de Flore ihre Limonade. Im April meldeten die Zeitungen über vierhundert Tote bei Luftangriffen an der Gare de la Chapelle. Im Juni verbrannte die SS in Oradour-sur-Glane Hunderte von Zivilisten bei lebendigem Leib in der Dorfkirche; es gibt Gerüchte über Kinder, die an Fleischerhaken erhängt worden seien. Die Deutschen, die im Salon der reichen Amerikanerin Florence Gould über das Pariser Theaterleben parlieren und in den Kästen der Bouquinisten an den Quais französische Gedichtbände suchen, verhaften des Nachts ihre Feinde, foltern und exekutieren. In «jeder Sekunde», schreibt Sartres Lebensgefährtin Simone de Beauvoir im Rückblick über das Sommergefühl des Jahres 1944, «konnte jemand, den man liebte, getötet werden».

Albert Camus hatte zwei Jahre zuvor einen kleinen Essay veröffentlicht, in dem es darum ging, dass der Mensch in der Welt fremd sei, ausgesetzt und verstoßen, einsam in einem Meer des Absurden. Der Mythos des Sisyphos sprach den Parisern aus der Seele. Doch nicht jeden Tag ist Weltuntergang. Es gibt auch Nächte, in denen Camus mit der Sartre-Geliebten Simone Jollivet einen Paso doble tanzt. Es gibt Nächte, in denen man sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen muss, in denen man trinkt und sich verliebt. Die Feste der französischen Schriftsteller dauern bis weit nach der Sperrstunde. Im Morgengrauen fährt man dann durch das menschenleere Paris nach Hause.

Die Pariser Sommergäste, die in dieser Saison in den Künstlerwohnungen von Saint-Germain-des-Prés die Nacht zum Tag machen, sind Albert Camus und die Schauspielerin Maria Casarès, Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, Michel und Louise Leiris, der Schriftsteller und Gallimard-Lektor Raymond Queneau, Jacques-Laurent Bost und Olga Kosakiewicz, Pablo Picasso und dessen Muse Dora Maar, der frisch aus dem Gefängnis entlassene Schriftsteller Jean Genet, der Bibliothekar Georges Bataille, der Psychoanalytiker Jacques Lacan und der Dichter Paul Éluard.

Das Ehepaar Leiris wohnt in einem großen Appartement am Seineufer, ganz in der Nähe von Picassos Atelier. Michel Leiris, Schwiegersohn des einflussreichen Kunsthändlers Daniel-Henry Kahnweiler und vier Jahre älter als Sartre, ist bereits ein bekannter Ethnologe, der Forschungsreisen nach Afrika unternommen hat und am Musée de l’Homme arbeitet. Sartre hatte Leiris’ Autobiographie Mannesalter begeistert besprochen, Leiris nicht weniger freundlich Sartres Fliegen, auch Sartre und Camus haben einander reichlich mit literaturkritischem Lob bedacht – man weiß, was sich gehört.

In Leiris’ Wohnung am Quai des Grands-Augustins hören die Freunde BBC und Jazz, verbünden sich, planen die Zukunft Frankreichs, die sich, anders als die Pariser Friseure glauben, nicht von allein regeln wird. In der Erwartung einer endgültigen Niederlage der Deutschen hält sich im Herzen von Paris eine kleine Gruppe junger Schriftsteller bereit, die französische Geistesrepublik zu übernehmen. Man kann es auch so sagen: Die Sartre-Jahre stehen vor der Tür.

Kein Zweifel, der 39-jährige Schullehrer will an die Macht. Sartre, Pariser Bildungsbürgerkind und Absolvent der École Normale Supérieure, kennt die Regeln, nach denen im Quartier Latin gespielt wird. Er will zusammen mit dem Gallimard-Lektor Camus und seinem Schulkollegen, dem Philosophielehrer Maurice Merleau-Ponty, eine Zeitschrift gründen, er will ein Gruppenmanifest, er will die Pariser Theater beherrschen, er will Chansons schreiben, Drehbücher, Zeitungsartikel, Literaturkritiken, philosophische Grundsatzwerke; Letztere wenn möglich im Größenmaßstab von Martin Heideggers Sein und Zeit, seit seinem Berlin-Aufenthalt vor zehn Jahren die Lektüre, für die er sich begeistert. Die Zukunft ist ein freies Spielfeld, und Sartre ist dabei, seine Mannschaft zusammenzustellen, um es zu besetzen und der Nachkriegszeit seinen Stempel aufzudrücken. In den weinseligen Nächten dieses letzten Sommers alter Zeitrechnung klettert er schon mal auf einen Schrank und dirigiert ein imaginäres Orchester, während Camus am Boden auf Kochtöpfe schlägt.

Lesung eines Picasso-Stücks am 9. März 1944; vorn Sartre, Camus und Michel Leiris, hinten l. Jacques Lacan, 4. v.l. Louise Leiris neben Picasso, 2.v.r. Simone de Beauvoir.

Die Voraussetzungen für eine intellektuelle Machtübernahme waren günstig. Sartres Debüt Der Ekel (1938) und sein Erzählungsband Die Mauer (1939) wurden in Paris gefeiert. Im Jahr zuvor war sein achthundertseitiges philosophisches Hauptwerk Das Sein und das Nichts mit Erlaubnis des NS-Zensors Gerhard Heller bei Gallimard erschienen. Zwar haben seitdem nur wenige das grandios redselige Evangelium des französischen Existentialismus – Sartres von den deutschen Philosophen Hegel, Husserl und Heidegger inspirierte philosophische Grundlegung der menschlichen Freiheit – bewältigt, doch ist man vorauseilend begeistert.

Camus macht eine höfliche Bemerkung in seinem Tagebuch, aus der man schließen kann, dass er das Werk bis zur Seite 136 gelesen hat (Sartre wird dem Freund acht Jahre später, bei ihrem großen Zerwürfnis, nicht zu Unrecht unterstellen, er habe sich nicht die Mühe gemacht, Das Sein und das Nichts zu lesen). Martin Heidegger, dem das Buch von seinem französischen Gewährsmann Jean Beaufret zugesandt wurde, machte ein paar artige Bemerkungen über das literarische Talent des jungen Franzosen, legte das Werk jedoch schnell zur Seite. Das beste Buch des Vorjahres war für ihn nicht Das Sein und das Nichts, sondern Der kleine Prinz, dessen Erfinder Antoine de Saint-Exupéry seit ein paar Tagen, nach einem Aufklärungsflug über dem Mittelmeer, vermisst wird.

Bei Kriegsbeginn ist Sartre noch nicht der große Sartre gewesen, der er jetzt ist: der Mann, der mit seinen Werken die Nachkriegszeit neu ordnen will. Damals war er eher eine kleine Nummer – Soldat Nr. 1991 der 70. Artilleriedivision, ein schreibender Wetterbeobachter der 11. Armeegruppe, der sich die Langeweile mit autobiographischen Gelegenheitsarbeiten vertrieb. Er führte ein mehrtausendseitiges Kriegstagebuch, das heute zu seinen besten Werken zählt, schrieb Hunderte von Briefen an Simone de Beauvoir und seine zahllosen Nebenlieben, arbeitete an seiner Romantrilogie Die Wege der Freiheit.

Seine persönliche Kriegsbilanz umfasst 2500 Druckseiten. Schreiben ist Sartre so lebenswichtig wie atmen. Acht bis zehn Stunden ist das tägliche Minimum, um nicht zu ersticken, durchschnittlich zwanzig Seiten pro Tag wird Sartre bis zu seinem Lebensende geschrieben haben. Der «reizende Castor», wie Simone de Beauvoir sich in ihren Briefen an den «lieben Kleinen» nennt, antwortete dem Soldaten Sartre postwendend in mehrseitigen Depeschen auf die Wetterstation – Eilmeldungen über ihre Kleider, ihren neuen Nagellack «im Heidekrautton», ihren Schulstundenplan, ihre Liebschaften und vieles andere Unaufschiebbare mehr. Tägliche Briefe aus dem Dôme, aus dem Viking oder aus der Milk Bar, in denen sie schreibt, dass sie Briefe schreibend im Dôme, im Viking, in der Milk Bar sitzt und die Szene zu Hause noch ins Tagebuch übertragen muss.

Die Schreibsucht des Paares trug von Anfang an hochnervöse Züge: vormittags vier Stunden, nachmittags vier Stunden. Der rigide Schreibstundenplan wurde jahrzehntelang um jeden Preis eingehalten, zur Not mit Hilfe von Aufputschmitteln. «Man leidet und leidet daran, nicht genug zu leiden», schreibt Sartre in Das Sein und das Nichts. Manchmal heißt das aber auch: Man schreibt und schreibt darüber, dass man nichts zu schreiben hat. Der Blick hinter die Kulissen des legendären Paares in den posthum publizierten Kriegsbriefen war reichlich ernüchternd.

Der Briefstrom versiegte, als Sartre im März 1941 aus deutscher Kriegsgefangenschaft zurückkehrte und nicht zögerte, 1942 im besetzten Paris den Posten am renommierten Lycée...

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