Das Reich des weißen Goldes
Mitte 1982 gab es in Kolumbien verschiedene Guerillagruppen, alle entweder Marxisten oder Maoisten und begeisterte Bewunderer des kubanischen Modells. Sie lebten von Subventionen der Sowjetunion, der Entführung von Personen, die sie für reich hielten, und vom Diebstahl des Viehs der Großgrundbesitzer. Die wichtigste Gruppe unter ihnen bildeten die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens, kurz FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia). Die FARC waren aus den gewaltsamen Konflikten der Fünfzigerjahre hervorgegangen, eine Zeit derart grenzenloser Grausamkeit und Bestialität, dass man sich bei ihrer Beschreibung schämt, der menschlichen Spezies anzugehören. Die Nationale Befreiungsarmee ELN (Ejército de Liberación Nacional) hatte zahlreiche Minderjährige in ihren Reihen; sie löste sich später auf und verwandelte sich in eine politische Partei. 1984 entstand die nach einem berühmten Führer der Ureinwohner benannte Bewegung Quintín Lame (Movimiento Armado Quintín Lame, MAQL).
Und dann gab es da noch die Bewegung des 19. April (Movimiento 19 de Abril), kurz M-19, die für ihre spektakulären, filmreifen Anschläge bekannt war und sich aus einer eklektischen Mischung aus Akademikern, gut ausgebildeten Menschen, Intellektuellen und Künstlern, Bürgerkindern und Militärs sowie harten Kämpfern zusammensetzte, die im Guerillajargon troperos (»Herdenführer«) genannt werden. Im Gegensatz zu den übrigen Guerillagruppen, die auf dem Land und im Urwald operierten, der beinahe die Hälfte des kolumbianischen Territoriums einnimmt, war der M-19 ausgesprochen städtisch und zählte bemerkenswerte Frauen zu seinen Führungskadern, die ebenso publizitätssüchtig waren wie ihre männlichen Kameraden.
Im Gefolge der Operation Condor – einer Geheimdienstkooperation vieler lateinamerikanischer Staaten zur Unterdrückung und Ermordung linker Oppositioneller von Ende der 1960er bis Ende der 1980er Jahre – galten in Kolumbien bei der Guerillabekämpfung einfache Regeln: Wenn irgendein Mitglied einer dieser Gruppierungen in die Hände des Militärs oder anderer Sicherheitskräfte des Staates fiel, wurde es eingesperrt und häufig umstandslos zu Tode gefoltert, ohne je einen Richter zu Gesicht zu bekommen. Fiel umgekehrt eine wohlhabende Person in die Gewalt einer Guerillagruppe, kam sie nicht frei, ehe die Familie Lösegeld gezahlt hatte, häufig erst nach jahrelangen Verhandlungen. Wer nicht zahlte, musste sterben, und seine sterblichen Überreste wurden selten gefunden, was, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bis heute gilt. Alle Kolumbianer der gehobenen Schichten kennen unter ihren Freunden, Angehörigen und Beschäftigten über ein Dutzend Entführte: solche, die gesund und unversehrt nach Hause zurückkehrten, und solche, die für immer verschwanden. Letztere unterteilen sich in diejenigen, deren Familien die Mittel fehlten, um die Forderungen der Entführer zu erfüllen, in jene, für die das saftige Lösegeld zwar entrichtet wurde, die jedoch trotzdem nie freigelassen wurden, sowie in diejenigen, für deren Leben niemand das über Generationen oder auch nur in einer Lebensspanne ehrlicher Arbeit angehäufte Erbe hergeben wollte.
Den Kopf an Aníbals Schulter gelehnt, bin ich eingeschlafen und wache abrupt auf, als die Maschine mit dem zweifachen Hüpfer, den Leichtflugzeuge bei der Landung machen, auf der Piste aufsetzt. Aníbal streichelt meine Wange und hält mich sanft am Arm zurück, als ich aufstehen will, um mir zu bedeuten, besser sitzen zu bleiben. Er zeigt aus dem Fenster, und ich kann nicht glauben, was ich draußen sehe: Zu beiden Seiten der Landepiste ist je ein Dutzend junge Männer postiert, manche tragen dunkle Sonnenbrillen, andere blinzeln mit gerunzelter Stirn in die Nachmittagssonne. Sie umringen das kleine Flugzeug und richten, mit dem Gesichtsausdruck von Leuten, die es gewohnt sind, zuerst zu schießen und dann die Fragen zu stellen, ihre Maschinengewehre auf uns. Andere stehen halbverdeckt im Dickicht, zwei von ihnen spielen sogar mit ihren Uzi-Maschinenpistolen wie unsereins mit den Autoschlüsseln. Ich muss die ganze Zeit daran denken, was wohl passieren würde, wenn eine der Waffen zu Boden fallen und mit sechshundert Schuss pro Minute losrattern würde. Die Männer, alle sehr jung, tragen bequeme, modische Kleidung: bunte Polohemden, Jeans und importierte Turnschuhe. Keiner von ihnen hat eine Uniform oder einen Tarnanzug an.
Während das kleine Flugzeug über die Piste rollt, rechne ich mir schon aus, welchen Wert wir wohl alle zusammen für eine Guerillagruppe haben könnten. Mein Verlobter ist der Neffe des früheren Präsidenten Julio César Turbay, dessen Regierung (1978–1982) mit massiver militärischer Repression gegen die aufständischen Gruppen vorging, besonders den M-19, dessen Führungsebene zum Großteil im Gefängnis gelandet ist. Aber Belisario Betancur, der gerade ins Amt gekommene Präsident, hat allen Aufständischen, die sich seinem Friedensprozess anschließen, Freiheit und Amnestie versprochen. Mein Blick wandert zu Aníbals Kindern, und das Herz zieht sich mir zusammen: Der elfjährige Juan Pablo und die neunjährige Adriana sind jetzt die Stiefkinder des zweitreichsten Mannes von Kolumbien: Carlos Ardila Lülle, Herr über alle Abfüllwerke von Sprudelgetränken des Landes. Dann sind da die Freunde, die uns begleiten: Olguita Suárez, die in einigen Wochen den sympathischen spanischen Liedermacher Rafael Urraza heiraten wird, der den Ausflug organisiert hat, ist die Tochter eines Viehmillionärs von der Atlantikküste, ihre Schwester ist mit Felipe Echavarría Rocha verlobt, Spross einer der wichtigsten Industriellendynastien Kolumbiens. Nano und Ethel sind Dekorateure und Kunsthändler, Ángela ist ein Topmodel, und ich bin eine der bekanntesten Fernsehmoderatorinnen des Landes. Mir ist klar: Wenn wir in die Hände der Guerilla fallen, wird sie alle Flugzeuginsassen nach ihrer speziellen Definition samt und sonders als »Oligarchen« und folglich als secuestrables (entführbar) einstufen, ein ebenso typisch kolumbianisches Wort wie narcos (Drogenhändler).
Aníbal ist verstummt und ungewöhnlich blass. Ich überhäufe ihn mit einem Schwall Fragen, ohne eine Antwort abzuwarten: »Woher wusstest du eigentlich, dass dies wirklich das Flugzeug ist, das uns abholen sollte? Ist dir nicht klar, dass die uns jetzt wahrscheinlich entführen? Wie viele Monate werden sie uns wohl festhalten, wenn sie erfahren, wer die Mutter deiner Kinder ist? Die sehen gar nicht wie arme Guerillakämpfer aus: Schau dir nur mal ihre Waffen und Turnschuhe an! Warum hast du mir nicht gesagt, dass ich meine Turnschuhe mitbringen soll? Diese Entführer werden mich in italienischen Sandalen und ohne meinen Strohhut durch den ganzen Dschungel schleifen! Warum hast du mich nicht in Ruhe meine Tropenkleidung einpacken lassen? Und warum nimmst du eigentlich Einladungen von unbekannten Leuten an? Die Leibwächter der Leute, die ich kenne, richten jedenfalls keine Maschinengewehre auf die Gäste! Wir sind in eine Falle getappt, weil das Kokain dir den Realitätssinn vernebelt! Wenn wir hier je wieder heil herauskommen, werde ich dich nicht heiraten, weil du von dem Zeug einen Herzinfarkt kriegst, und ich will nicht als deine Witwe enden!«
Aníbal Turbay ist groß, schön und ein Freigeist, zärtlich bis zur Ermüdung und großzügig mit seinen Worten, seiner Zeit und seinem Geld, obwohl er kein Multimillionär ist wie alle meine Exverlobten. Er wird ebenso von seinem buntgemischten Freundeskreis bewundert – darunter der Schatzsucher Manolito de Arnaude – wie von Hunderten von Frauen, deren Leben sich in »vor Aníbal« und »nach Aníbal« teilt. Sein einziger Fehler ist seine unheilbare Sucht nach dem weißen Nasenpulver. Ich finde es abstoßend, er dagegen vergöttert es noch mehr als seine Kinder, als mich, als das Geld, als alles andere. Bevor der Arme auf meine Schimpfkanonade antworten kann, öffnet sich die Tür des Flugzeugs und ein verführerischer Schwall Tropenluft flutet herein, der davon kündet, dass wir im heißen Teil dieses Landes ohne Jahreszeiten angekommen sind, der Tierra Caliente.
Zwei der bewaffneten Männer kommen an Bord, und als sie unsere perplexen Gesichter sehen, ruft einer von ihnen: »Himmel! Sie werden es nicht glauben: Wir hatten ein paar Käfige mit einem Panther und mehreren Tigern erwartet, aber die wurden wohl mit einem anderen Flugzeug geschickt. Wir bitten vielmals um Entschuldigung. Wie peinlich, vor den Damen und den Kindern … Wenn der Boss das erfährt, bringt er uns um!«
Die Hazienda besitzt, wie sie uns erklären, einen großen Zoo, und offenkundig wurde das Flugzeug mit den Gästen mit dem Transportflugzeug mit den wilden Tieren verwechselt. Während die Männer sich mit Entschuldigungen überschlagen, steigen die Piloten aus, mit der gleichgültigen Miene von Leuten, die Fremden keine Erklärungen schuldig sind, da ihre Aufgabe in der Einhaltung des Flugplans besteht und nicht in der Prüfung der Fracht.
Drei Jeeps stehen für uns bereit, um uns zur Hazienda zu fahren. Ich setze Sonnenbrille und Safarihut auf, steige aus dem Flugzeug und betrete, ohne es zu ahnen, den Boden, der mein Leben für immer verändern wird. Wir steigen in die Fahrzeuge, und als Aníbal seinen Arm um meine Schulter legt, werde ich ruhig und nehme mir vor, jede verbleibende Minute unseres Ausflugs auszukosten.
»Was für ein wunderschöner Ort!«, flüstere ich ihm zu und zeige auf zwei Reiher, die sich an einem fernen Ufer in die Luft erheben. »Und so weitläufig … Ich glaube, die Reise hierher hat sich gelohnt …«
Versonnen und in völligem Schweigen betrachten wir die herrliche...