2. Wie entsteht unser Verhalten? Emotionale Überlebensstrategien
Emotionalen Überlebensstrategien sind wir bereits in Zusammenhang mit dem Fall des Dr. K. begegnet. Sie stellen in komprimierter Form wesentliche Informationen darüber zur Verfügung, wie eine Person in problematischen Situationen „tickt“. Ihr psychologischer Gehalt soll an dieser Stelle noch genauer erklärt werden. Wie schon erwähnt, werden sie durch unser Impulsives System in bestimmten Situationen als Verhaltensoptionen angeboten, da sie sich bei einer Fülle von Gelegenheiten bereits als zielführend erwiesen haben. Dieses „Angebot“ passiert sehr schnell und unbewusst, d. h., man denkt gar nicht weiter darüber nach. Es sichert kurzfristig das emotionale Gleichgewicht und bewahrt ein Minimum an Handlungsfähigkeit und Kompetenzgefühl. Wir haben es jedoch dabei mit einer „schematischen“ Antwort zu tun. Die Passung einer Überlebensstrategie als Verhaltensanweisung ist daher immer nur mehr oder weniger gut und „über den Daumen“ bestimmt. Nur sehr große Diskrepanzen wecken die bewusste Aufmerksamkeit und stoßen eventuell eine Überprüfung des gezeigten Verhaltens an. Im Interesse des inneren Gleichgewichts sucht man aber eher nach Bestätigung: Informationslücken werden kurzerhand durch bisherige Erfahrungswerte ersetzt. An sich wichtige Mehrdeutigkeiten können bei besonders starkem Bedürfnisdruck weginterpretiert oder gar ignoriert werden. Somit wird eine Überlebensstrategie vielen Aspekten einer Situation gerecht, versagt aber unter Umständen bei wichtigen Details. Überlebensstrategien wurden in unserer Lerngeschichte erworben. Damals waren wir andere Menschen: Wir befanden uns in starker Abhängigkeit zu unseren mächtigen Bezugspersonen, die wir möglicherweise nicht gegen uns aufbringen durften, wir waren vielleicht hilfloser und weniger kompetent als heute, aufgrund unseres Entwicklungsstatus waren wir in manchen Aspekten empfindsamer usw. Sie spiegeln eine alte Verfassung wider, die nun in einer aktuellen Situation aktiviert wird. Je nachdem ist sie manchmal passend, oftmals aber auch nicht, und es kommt – insbesondere unter Stress – zu wenig angemessenen Verhaltensweisen. Im Strategischen Coaching werden diese Überlebensstrategien erarbeitet und gemeinsam bewertet. Gleichzeitig ergibt sich dabei auch eine Strategie der Veränderung: Unsere Klienten lernen, mehr und mehr entgegen den teilweise rigiden Vorgaben ihrer Überlebensstrategie zu handeln und erfolgreichere Optionen zu entwickeln.
Wie kommt es, dass diese nicht immer angemessenen Überlebensstrategien im aktuellen Verhalten derart dominieren?
2.1 Arbeit dient der Befriedigung von Bedürfnissen
Das Streben nach Bedürfnisbefriedigung ist ein universelles Phänomen (Ryan & Deci, 2008). Strategisches Coaching betont deshalb, dass die Arbeit in einem Unternehmen der Befriedigung grundlegender Bedürfnisse nach Bindung und Autonomie dient (Hauke, 2009). Sowohl die Qualität von Arbeitsergebnissen als auch das Wohlbefinden der Person hängen entscheidend davon ab, wie gut es im Arbeitsumfeld gelingt, solche Bedürfnisse zu befriedigen (Tab. 2.1). Dies wiederum ist entscheidend für ihren Umgang mit Teams und übergeordneten Anliegen des Unternehmens.
Zugehörigkeit Wärme Willkommen sein Harmonie Geborgenheit Zuverlässigkeit Gesehen werden Empathie erfahren Wertschätzung Lob bekommen | Einfluss, Führung wollen Leistung Sich profilieren Konkurrieren Selbstbehauptung Handlungsspielraum brauchen Selbst machen Neugier Eigene Wege gehen Experimentierbereitschaft |
Tabelle 2.1: Beispiele wichtiger Bedürfnisse gruppiert nach Motivationsrichtung
Probleme können sich daraus ergeben, dass von ihrer Arbeit frustrierte Klienten ihre Bedürfnisse nicht genau kennen und nicht präzise benennen können, z. B. weil sie sich selbst nicht ausreichend beobachten und reflektieren, in einem Kontext tätig sind, der kaum Gelegenheiten für die notwendige Bedürfnisbefriedigung bietet (z. B. Rahmenbedingungen „aushalten“, die ein vermehrtes eigenständiges Arbeiten oder reibungslosere, harmonischere Teamprozesse nicht erlauben etc.), bestehende Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung nicht ausschöpfen oder nicht einfordern (z. B. Aufstiegsmöglichkeiten nicht eruieren, Wertschätzung nicht einfordern, einen Konflikt zwischen beiden Bedürfnisgruppen verspüren, d. h., sie fühlen sich hin- und hergerissen zwischen Bestrebungen nach Bindung und Autonomie, z. B. wenn sie alleine Entscheidungen als Vorgesetzte treffen und umsetzen müssen, die nicht unbedingt die Haltung ihres Teams widerspiegeln).
Die Befriedigung von Autonomiebedürfnissen richtet sich z. B. darauf, sich unabhängiger machen zu dürfen, Vorgehensweisen nach eigener Einsicht selbst zu gestalten, Auswahlmöglichkeiten zu nutzen und bei Entscheidungen Mitspracherecht und Anteilnahme ausüben zu können. Solche Verhaltensweisen beeinflussen auch das soziale Geschehen in Bezug auf Rangordnung und Dominanz. Hier steht das Streben nach Selbstverwirklichung und Selbsterweiterung, d. h. die Erweiterung des Ich durch neue Erfahrungen, Wissen, Können und Beziehungen, im Vordergrund. Des Weiteren zeichnet sich ein autonomieförderndes Arbeitsumfeld durch klar definierte Anforderungen und minimalen externen Druck aus.
Ebenso tief in unserer Natur verankert ist das Bedürfnis nach Bindung und Geborgenheit. Für das innere Gleichgewicht sind hier die Nähe und Harmonie zu den Mitarbeitern wichtig. Insbesondere will man sich als Teil eines schützenden und sicheren Beziehungsnetzwerkes fühlen, das ein Stück Heimat und Geborgenheit vermittelt. Bindungsfördernde Arbeitsbedingungen vermitteln Mitarbeitern ein Gefühl der Wertschätzung und des Willkommenseins. Individuelle Bedürfnisse und Ziele werden gesehen und unterstützt. Das setzt die Existenz von Empathie sowie Bereitschaft zu sozialer und emotionaler Unterstützung im Arbeitskontext voraus. Gegebenenfalls wird dabei geholfen, Strukturen und Pläne zu entwickeln, um individuelle Zielsetzungen zu erreichen, den Erwartungen des Unternehmens zu entsprechen. Zeitnahes, ermutigendes und insgesamt wertschätzendes Feedback ist dabei unerlässlich. Die Befriedigung des Bedürfnisses nach Verbundenheit setzt gegenseitiges Vertrauen voraus, das leicht verspielt werden kann und deshalb gepflegt werden muss.
Zentrale Bedürfnisse und Verhalten
Unser Verhalten ist stets darauf ausgerichtet, wichtige Grundbedürfnisse (z. B. nach Geborgenheit, Selbstbestimmung, Sexualität usw.) zu befriedigen, um gesund zu bleiben und zufrieden leben zu können. Bedürfnisse bezeichnen das, was eine Person zu ihrer Erhaltung und Entfaltung braucht. Sie lassen sich am besten als Diskrepanz zwischen einem situativen Ist-Wert, der Ausgangslage, und einem angestrebten Soll-Wert, dem angestrebten Grad der Befriedigung, beschreiben. Diese Diskrepanz motiviert Verhalten. Die Stärke eines Bedürfnisses ist im Sinne einer Persönlichkeitseigenschaft zu verstehen und definiert den Soll-Wert (Asendorpf, 2004). Wie ist es möglich, dass Bedürfnisse derart prägenden Einfluss auf die Persönlichkeit haben können? Die Antwort auf diese Frage finden wir meist in unserer Lerngeschichte. Dort herrschen Bedingungen, die einerseits eine rasche und unkomplizierte Befriedigung bestimmter Bedürfnisse ermöglichen. Dabei findet ein völlig unproblematischer Abgleich zwischen Ist- und Soll-Wert statt. Ein solches Bedürfnis wird kaum gespürt. Da hier meist keine nennenswerten Diskrepanzen auftreten, schenken wir diesem Abgleich keine weitere Beachtung und nehmen die Befriedigung solcher Bedürfnisse auch als selbstverständlich. Bewusstsein für unsere Bedürfnisse entsteht in der Regel erst dann, wenn ihre Befriedigung in irgendeiner Weise behindert oder blockiert wird, z. B. wenn ich nach einer langwierigen Anstrengung Lob und Anerkennung brauche, jedoch keinerlei Feedback für meine Leistungen bekomme. Nun gibt es Bedürfnisse, die in unserem Leben eine besondere Rolle spielen, da wir immer wieder auf Schwierigkeiten bei ihrer Befriedigung gestoßen sind und dafür haben kämpfen müssen. Sie stehen wie Obelisken in unserer Bedürfnislandschaft und dirigieren unser Verhalten – oftmals bis heute. Wegen ihrer herausragenden Rolle bezeichnen wir sie als „zentrale Bedürfnisse“.
2.2 Überlebensstrategie: Befriedige deine Bedürfnisse und bleib dabei im inneren Gleichgewicht
Unsere Bedürfnisbefriedigung ist das Ergebnis einer intuitiven Verhaltenssteuerung. Bauchgefühle, Körperempfindungen und Emotionen weisen den Weg zur Quelle. Im Verlauf der Lerngeschichte ergeben sich unzählige Episoden der Bedürftigkeit und der Bedürfnisbefriedigung, wobei in einer Vielzahl von Situationen verschiedenste Verhaltensvarianten ausprobiert werden, die zu mehr oder weniger befriedigenden Erfahrungen führen. Solche Erfahrungen werden vom Impulsiven System aufbewahrt. Wir hatten es als ein ausgedehntes Netzwerk von Handlungsoptionen, selbst erlebten Episoden, Vorlieben, Ängsten und anderen damit verbundenen Gefühlen beschrieben. Wegen seines immensen Umfanges ist es freilich nicht möglich, dass gleichzeitig...