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»Such dir einen schönen Stern am Himmel«

Krankheit ALS - Die Geschichte eines Abschieds

AutorDorothea Seitz, Karl-Heinz Zacher, Nina Zacher
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783104905860
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
***Ein großes Liebesversprechen*** Das Schicksal trifft Nina Zacher aus heiterem Himmel. Mit Anfang 40 wird bei der vierfachen Mutter ALS diagnostiziert, eine Erkrankung, bei der der Körper langsam zerfällt, der Geist aber hellwach bleibt. Doch statt sich zurückzuziehen und auf den Tod zu warten, geht Nina Zacher an die Öffentlichkeit. Zehntausende folgen der jungen Frau und Mutter von vier kleinen Kindern auf Facebook. Ehrlich und direkt schreibt sie über ihr Leben, ihr Leiden und ihr Sterben und beweist dabei ungeheure Stärke und Lebensmut. Bis kurz vor ihrem Tod teilt sie ihre Gedanken, und als sie sich fast nicht mehr bewegen kann, schreibt sie ihre Texte mit einem augengesteuerten Spezial-Computer. Ihren größten Traum, ein Buch zu schreiben, kann sie nicht mehr verwirklichen. Doch ihr Mann erfüllt ihr diesen letzten Wunsch und löst damit sein Versprechen ein, den entschlossenen Kampf seiner Frau gegen die heimtückische Krankheit weiterzuführen. So ist ein tiefberührendes Vermächtnis entstanden, das über den Tod hinausgeht. Für Karl-Heinz Zacher ist es ein Zeugnis ihrer unerschütterlichen Liebe, das ihm nun ermöglicht, die Familie in ein Leben ohne seine Frau zu führen. Und es ist eine tiefgründige Antwort auf die Frage, was am Ende wirklich zählt.

Karl-Heinz Zacher, geboren 1969. Noch zu Lebzeiten seiner Frau gründete der studierte Physiker die Initiative faceALS. Gemeinsam mit renommierten Wissenschaftlern möchte er die medizinische Erforschung der Erkrankung vorantreiben - eine beispiellose private deutsche Initiative, von der »vielversprechende Erkenntnisse« (SZ) in der ALS-Forschung erwartet werden. Karl-Heinz Zacher betreibt das Ausflugsrestaurant »St. Emmeramsmühle« und lebt mit seinen vier Kindern Lola 6, Luke 9, Lenny 14 und Helena 16 in München.

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Leseprobe

Ein dumpfes Gefühl


Als ich am Gründonnerstag vor vierundvierzig Jahren zur Welt kam, hat mich leider niemand gefragt, ob ich bereit bin für diese Welt. Und für dieses Leben, das ich mir – laut mancher Glaubensrichtungen – gegebenenfalls selbst gewählt haben könnte. Hätte ich gewusst, was ich heute weiß, hätte ich sicherlich »nein« gesagt. Aber wer von uns wurde schon gefragt, ob er bereit ist für das Leben, das für jeden bestimmt ist, ohne vorher zu wissen, was einen erwartet? Schon gar nicht zu ertragen, in der Blüte seines Lebens all seine mühevoll erworbenen Fähigkeiten wieder zu verlieren und das unfassbare Los zu ziehen, die einzige unheilbare schnell tödliche Krankheit zu bekommen, die es im 21. Jahrhundert noch gibt. Überraschungen mochte ich noch nie. Wahrscheinlich, weil sie nie wirklich positiv waren und immer eine Art russisches Roulette darstellten. Ich schaue mir die Dinge gerne vorher an, genauso wie ich Käufe im Internet nicht mag, eben weil ich nicht besonders auf Überraschungen stehe und vorher gerne weiß, was ich bekomme.

Als Nina Zacher diese Zeilen im November 2014 schreibt, ist ihre Erkrankung, die Amyotrophe Lateralsklerose, kurz ALS genannt, bereits fortgeschritten. Seit gut einem Jahr lebt sie mit der Gewissheit, dass sie sterben wird. Das, was einen Menschen erwartet, wenn er mit der erschütternden Diagnose »ALS« konfrontiert wird, lässt sich nur ansatzweise erahnen: ein quälender, harter und schmerzvoller Weg, der unaufhörlich und nicht revidierbar auf den »Tag X« zuläuft und einem schrittweise alle körperlichen Fähigkeiten raubt. Oder wie Ninas Mann Karl-Heinz es sagt: »Eine Krankheit, die einen packt wie ein mitreißender Fluss und bei der man verzweifelt versucht, an den ins Wasser ragenden Wurzeln Halt zu finden.«

Die Diagnose »unheilbar« trifft Nina nicht aus heiterem Himmel. Vor dem Satz: »Sie haben ALS« liegt die lange Suche nach Erklärungen. Fast zwei Jahre in Ninas Leben sind bestimmt von Ungewissheiten, Ahnungen und Ängsten. Ihre Odyssee führt sie durch Arztpraxen und Kliniken, und jede der Untersuchungen ist begleitet von großer Sorge und zugleich von großer Hoffnung. Über allem schwebt die bange Frage: »Was habe ich bloß für eine Krankheit?«

Die ersten Anzeichen treten in den Weihnachtsferien 2011/2012 auf. Die Familie verbringt ihren Skiurlaub in Sölden, das erste Mal zu sechst: die Eltern Nina und Karl-Heinz und ihre vier Kinder Lola, Luke, Lenny und Helena. Töchterchen Lola ist gerade ein halbes Jahr alt. »Erst mit Lola sind wir komplett«, sagt Nina oft, »Lola ist das i-Tüpfelchen, das uns bis dato gefehlt hat«. Die Fotos von damals zeigen eine glückliche Familie. Alles erscheint perfekt: blauer Himmel vor einer Traumkulisse, strahlende Gesichter, entspannte Atmosphäre. Nina mit schulterlangem, blondem Haar, sie wirkt gelöst.

Die Familie ist angekommen – privat und beruflich. Das Restaurant St. Emmeramsmühle in München Oberföhring, das Nina und Karl-Heinz vor dreizehn Jahren übernommen haben, und in das sie ihr ganzes Herzblut gesteckt haben, ist zu einem beliebten Lokal im Münchner Norden geworden. Nach stürmischen Zeiten scheinen sie jetzt an einem Punkt zu stehen, an dem sie glauben, endlich einmal durchschnaufen zu können.

Eines Abends in diesem Skiurlaub spürt Nina eine Art Druck in ihrem rechten Daumenballen, eine Mischung aus Schmerz und Taubheitsgefühl. Wahrscheinlich, so tippt sie als Erstes, ist es eine Prellung, eine Zerrung, verursacht durch ein unglückliches Abbremsen mit dem Skistock auf der Piste am Nachmittag. Nina beschließt, dem keine besondere Aufmerksamkeit zu schenken und vertraut darauf, dass es einfach von alleine vorbeigehen wird. Doch es bleibt. Selbst Wochen nach der Rückkehr nach München will das komische Gefühl im Daumen einfach nicht weichen. Im Gegenteil, das, was sich zuerst anfühlt, wie ein heftiger Muskelkater, wird zunehmend intensiver und beginnt sich weiter auszubreiten: erst auf den Daumenballen, dann auf die Hand und schließlich auf den ganzen Unterarm.

Was Nina zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß: In ihrem zentralen Nervensystem hat sich ein hochkomplexer Prozess in Gang gesetzt, der ihre motorischen Nervenzellen schädigt und zu einem unaufhaltsamen Muskelabbau führt. In den kommenden Monaten ergreift die Erkrankung langsam, aber stetig Besitz über Ninas gesamten Körper. Als Erstes verliert sie die Kraft in ihrer Hand, so dass ihr Gegenstände einfach aus den Fingern gleiten.

Im Sommer muss Nina sich schließlich eingestehen, dass es so nicht weitergehen kann:

Am 24. Juli, an dem das Wetter einmal wieder nicht so gut war, um den elften Geburtstag unserer Tochter wie ursprünglich geplant draußen zu feiern, mussten wir, wie schon so oft bei unseren bescheidenen Sommern, »Plan B« aus der Tasche zaubern. Der sah vor, mit einigen eingeladenen Freundinnen meines Kindes zum Bowling zu gehen. Praktischerweise buchte ich mit meinem Mann eine Bahn neben den Mädels, um ebenfalls eine Runde zu bowlen. An diesem Abend merkte ich zum ersten Mal, dass etwas nicht stimmte. Egal, welche Bowlingkugel ich in die Hand nahm, keine wollte mir so recht passen. Alle waren unglaublich schwer und glitten mir teilweise unkontrolliert aus der Hand. Ich wunderte mich ein wenig, schenkte dem Ganzen aber nicht allzu viel Aufmerksamkeit. Als Mutter von vier Kindern und einem noch nicht mal einjährigen Mädchen darf man schon mal ein bisschen erschöpft und kraftlos sein. Wer konnte schon ahnen, was danach geschah? Einige Tage später fiel mir auf, dass ich beim Schreiben einer Entschuldigung für meinen Sohn dem Stift in meiner Hand nicht mehr den nötigen Druck verleihen konnte, um ein sauberes Schriftbild zu erzeugen. Nun war ich doch etwas überrascht und rief meinen Freund Robert, einen befreundeten Orthopäden an, um zu klären, ob es vielleicht an einer Verspannung meiner Schultern durch das ständige Tragen meiner Kinder liegen könnte? Währenddessen ging das Leben ungehindert weiter: Die Kinder gingen zur Schule, mein Kleinster in den Kindergarten und Lola hing wie immer an der Mama.

Nina hatte bis dahin die kontinuierlich zunehmenden Beschwerden immer wieder mit einem »Das wird schon wieder!« beiseitegeschoben und die Bewegungen, die ihr schwerfielen, durch andere ersetzt. Doch jetzt wird ihr bewusst, wie viele vermeintlich banale Handgriffe sie inzwischen damit kompensiert. Statt mit dem Daumen übers Smartphone zu wischen, tippt sie zur Bedienung mit dem Zeigefinger. Verrutscht ihr die Brille, richtet sie sie nicht wie üblich mit Daumen und Zeigefinger, sondern schiebt sie mit dem Handrücken zurück. Hat sie Schwierigkeiten beim Öffnen der Kaffeedose, bittet sie ihren Mann um Hilfe. Erst später, als ihr Leiden bereits weit fortgeschritten ist, versucht sie zu rekonstruieren, wann und wie alles begonnen hat, und setzt all diese kleinen Augenblicke zu einem Gesamtbild zusammen. Dennoch erscheint es ihr immer noch unvorstellbar, dass aus diesen vergleichsweise harmlosen Einschränkungen eine derart monströse Erkrankung erwachsen konnte.

Lange sucht sie nach möglichen harmloseren Ursachen. Hat sie sich etwa einen Nerv eingeklemmt? Der erste Weg führt sie zu einem Orthopäden, der als Verdachtsdiagnose das Karpaltunnelsyndrom in den Raum stellt. Hierbei kann es zu einer Empfindungsschwäche und zu Beweglichkeitsstörungen in den Händen kommen – etwa wenn dauerhaft ein zu großer Druck auf den Nerv im Handgelenk ausgeübt wird. Diagnostisch wird dies allerdings schnell ausgeschlossen, und weitere Untersuchungen deuten stattdessen auf eine massive Schädigung der Halswirbelsäule hin. Als Nächstes folgen eingehende Untersuchungen in einer Klinik bei einem Neurologen. Der, so erinnert sich Karl-Heinz Zacher, habe damals, als seine Frau ihm die Symptome schilderte, gleich ziemlich komisch geschaut. Im Nachhinein sagt er sich, dass dessen Reaktion sie bereits hätte stutzig machen müssen. Besonders, weil der Mediziner sich im Anschluss an den Termin regelmäßig telefonisch bei Nina meldet, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Ob die Einschränkungen in der Hand sich verschlechtert hätten, will er wissen, ob sie etwas in den Beinen spüre, ob sie noch Treppen steigen könne oder ob sie öfters stolpere? Er scheint zu ahnen, was wirklich hinter Ninas Beschwerden stecken könnte. Allerdings teilt er ihr seine Vermutungen nicht mit. Seine drängenden Nachfragen bleiben dennoch nicht ohne Nachhall.

Eines Morgens setzt sich Nina an den Rechner und startet eine Internetsuche. Inzwischen befürchtet sie selbst, dass etwas Schwerwiegendes hinter all dem stecken müsse. »Ich habe dann eingegeben: ›Muskelschwäche rechte Hand‹«, erzählte Nina von diesem Tag, »und dann kam die ALS. Somit sah ich meine Symptome und wohin der Weg gehen würde. Ich schob die Maus weg, bin in den ersten Stock, ins Schlafzimmer gegangen, legte mich aufs Bett und dachte: Das kann nicht sein, das darf nicht sein! Mein Mann folgte mir und fragte: Was ist denn los?, und ich sagte: Bitte, lies das mal. Was da steht, ist exakt das, was mir fehlt. Ich habe Angst.«

Karl-Heinz versucht, seine Frau zu beruhigen: Es gebe bislang keine Aussage eines Arztes dazu, niemand habe das bisher erwähnt. Sie solle sich das jetzt nicht einreden. Nina aber zieht sich zurück. Sie verlässt für ein paar Tage kaum das Schlafzimmer, wird still, will nichts mehr essen. Von diesem Tag an hängt die Krankheit »ALS« wie ein Damoklesschwert über den...

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