Jenseits des Alltäglichen
Als Student hörte ich einmal einem Gespräch von Wissenschaftlern zu, die sich über den Besuch einer Historikerdelegation aus der DDR unterhielten. Am stärksten ist mir dabei ein Detail in Erinnerung geblieben: Die Kolleginnen und Kollegen aus Ostdeutschland, die zum ersten Mal in der Bundesrepublik waren, zeigten sich keineswegs beeindruckt von den zahlreichen Möglichkeiten zum Konsum. Darauf waren sie vorbereitet. Wirklich erstaunt hat sie dagegen die Reibungslosigkeit, mit der die westdeutschen Infrastrukturen funktionierten. Während ich mich kurze Zeit darauf selbst mit der Geschichte städtischer Versorgungsunternehmen beschäftigte, ging die DDR unter – von mir allerdings weitgehend unbemerkt. Die Recherche über langlebige Strukturen wie Schienenstränge, Stromkabel oder Wasserrohre hatte mich die zeitgleich stattfindende Tagespolitik nahezu vergessen lassen. Rückblickend vermag ich in diesem Umstand eine verborgene Logik zu erkennen.
Wer sich mit Infrastrukturen beschäftigt, steht vor einer ganzen Reihe von Paradoxien. Einerseits signalisiert der sperrige Begriff, dass man es besser den Experten überlassen sollte, sich damit zu befassen. Die Einrichtungen der Kommunikation und des Verkehrs, der Versorgung und Entsorgung entlasten uns von den täglichen Fragen, wo Strom und Wasser herkommen, wie wir uns von einem Ort zum anderen bewegen und auf welche Weise wir uns informieren. Andererseits sind Infrastrukturen zu Dauerthemen der öffentlichen Diskussion geworden. Wer soll sie organisieren und verwalten? Wie können wir sie schützen? Und wie ist ihr schlechter Zustand zu erklären? Erst wenn sie nicht mehr funktionieren, wie seinerzeit in der DDR, beginnen wir zu ahnen, dass viele dieser Leistungen nicht so selbstverständlich sind, wie sie uns vorkommen.
Weshalb sind die meisten Menschen so unaufmerksam für etwas, das sie alltäglich betrifft? Weshalb kann die »Conditio sine qua non jeder modernen Gesellschaft«[1] zugleich als so profan und banal empfunden werden? Obgleich sich in der Infrastruktur die Funktionsfähigkeit und der Reichtum einer Gesellschaft widerspiegeln, wurde sie zu einer Kategorie der Insuffizienz: »Infrastruktur«, so der Historiker Paul Edwards, »scheint heute eine allumfassende Lösung und ein omnipräsentes Problem zu sein, unerlässlich und unzureichend zugleich, immer schon vorhanden und dennoch immer auch ein unfertiges Projekt.«[2]
Gleichzeitig ist die Feststellung, dass ein Ort nicht an das Telefonnetz angeschlossen ist oder nicht über fließendes Wasser verfügt, so etwas wie ein ultimatives Urteil über seine zivilisatorische Rückständigkeit. Infrastrukturen versprechen ein besseres und komfortableres Leben. Das erfordert den Anschluss an immer neue, immer effizientere Einrichtungen der Versorgung und des Verkehrs, der Kommunikation und der energetischen Entlastung. Im Feld der Infrastruktur wird meist mit der Not argumentiert, während zugleich die Utopie heraufbeschworen wird, über sie einen Anschluss an die Zukunft zu erlangen.
In diesem Buch wird es aber nicht um eine systematische, zusammenfassende Darstellung der wirtschaftlichen, der politischen, der rechtlichen oder gar der technischen Dimensionen der Infrastruktur gehen, obgleich das alles natürlich eine Rolle spielt. Vielmehr soll dargelegt werden, dass das scheinbar so unaufhörliche Wachstum der Infrastrukturnetze und Versorgungseinrichtungen je nach den Umfeldern, in denen sie entstanden, starken und zeitbedingten Schwankungen unterlag. Die Infrastrukturen sollen also geschichtlich verortet werden.
Künstlerische Darstellungen der Energie- und Verkehrsflüsse sind selten. Gustav Wunderwald porträtierte 1927 eine Spandauer Unterführung im Stil der Neuen Sachlichkeit. Der Maler starb 1945 an einer Wasservergiftung.
Vor allem soll der Einfluss der Infrastrukturen auf unsere (post-)moderne Kultur, unser Alltagsleben, unser Bewusstsein und unsere Kulturtechniken deutlich werden. Dies setzt eine Verschiebung von historischen Sichtachsen auf das voraus, was man üblicherweise für »Geschichte« hält. Es erfordert aber auch eine Distanz gegenüber der wohlfahrtsstaatlichen Gemütsruhe, die Infrastrukturen üblicherweise erzeugen.[3] Für meine Generation, die in den 1960er Jahren aufwuchs und in den 1970er Jahren ihr politisches Bewusstsein entwickelte, war diese Haltung mit der unerschütterlichen Erwartung verbunden, dass die Infrastruktur sich ständig ausweiten und verbessern würde.
Heute scheint Infrastruktur hingegen allenthalben zu einem Problem geworden zu sein. Die reichen Länder stehen vor der Aufgabe, einerseits ständig neue Infrastrukturen, momentan solche zum Ausbau der digitalen Welt, einzurichten und andererseits die bestehenden zu pflegen, zu erhalten oder auch rückzubauen. Andere Länder sehen sich dagegen vor die Daueraufgabe gestellt, ein Mindestmaß an Versorgungs- und Entsorgungs-, Kommunikations- und Verkehrseinrichtungen vorzuhalten, wenn nicht sogar ein ähnliches Niveau anzustreben wie das in den reicheren Ländern seit langem vorhandene. Wo immer in den letzten 150 bis 200 Jahren von Entwicklung die Rede war, wurde darunter vornehmlich das Vorhandensein von mehr oder weniger gut ausgebauten Infrastrukturen verstanden.
Auch und gerade in dieser Hinsicht sind Infrastrukturen zu einem Maßstab für vermeintliche Modernität geworden, ohne die ein Anschluss an die Weltwirtschaft und Weltgesellschaft nicht möglich erscheint. In Bezug auf Infrastrukturen ist immer verglichen worden. Dabei kann es davon offenbar nie genug geben. Immer scheinen es andere noch etwas besser zu haben, noch umfassender angeschlossen zu sein, schneller reisen oder surfen zu können.
Infrastrukturen wurden seit dem 18. Jahrhundert dazu genutzt, Gesellschaften zu modernisieren, sie räumlich, sozial oder kulturell zu integrieren und den Menschen neue Möglichkeiten zu bieten. Zugleich tragen Infrastrukturen dazu bei, die Menschen mehr oder weniger offen zu kontrollieren und zu einem konformen Verhalten zu bringen und sie damit zu binden oder zu steuern. Ausmaß und Funktionalität der Infrastrukturen werden bis heute mit Ordnung und guter Regierung in Verbindung gebracht, oft sogar damit gleichgesetzt. Im Ergebnis entstanden gebaute Umwelten, in denen sich Menschen routiniert, fast intuitiv und wie in einer zweiten Natur bewegen, auf die sie zugleich in hohem Maße angewiesen sind.
Mit Infrastrukturen bildete sich ein Muster der Moderne aus, dessen weitreichende kulturelle Prägekraft kaum zu überschätzen ist. Die Netzwerke der Ver- und Entsorgung, der Kommunikation, des Verkehrs und der Energie haben sich tief in das Alltagsleben und das Verhalten derjenigen eingeschrieben, die regelmäßig darauf zugreifen. Damit bilden sie einen bemerkenswert eigenständigen und unabhängigen Faktor der jüngeren Geschichte, der aufgrund seiner kumulativen Wucht und seiner Komplexität unter den menschlichen Kulturleistungen durchaus etwas Wundersames aufweist.
Nirgendwo sind menschliche Gestaltung und Technik so nah und so umfassend mit dem menschlichen Alltag verflochten wie in diesem Bereich. Zu den täglichen Nachrichten über das Wetter und die Börsenkurse gesellen sich daher immer öfter Analysen über den Zustand der Infrastruktur. Sie betreffen nicht mehr nur die Staumeldungen im Straßenverkehr, sondern mit einer sich scheinbar täglich erhöhenden Taktung auch Streiks im öffentlichen Nahverkehr, betriebsbedingte Ausfälle oder andere Anlässe, die es erforderlich machen, alltägliche Routinen neu zu organisieren. Zu diesen Dysfunktionen addieren sich wie ein Grundbass die gesellschaftlichen Diskussionen darüber, wer das alles organisieren, wer das finanzieren soll und mit welchen Maßnahmen gefährdete Infrastrukturen in Zukunft besser geschützt werden können. Aus den Nischenplätzen der Eisenbahn- und Briefmarkennostalgiker ist das Thema Infrastruktur längst in den Vordergrund der Tagespolitik gerückt.
Die gesteigerte Aufmerksamkeit für diese Einrichtungen macht deutlich, dass wir uns dieser Abhängigkeiten immer bewusster werden und dass die Selbstverständlichkeit, mit der wir Infrastrukturen nutzen, langsam abnimmt. Vor allem wird immer klarer, wie verwundbar wir geworden sind, seitdem wir unseren Alltag ganz auf die zuverlässige Verfügbarkeit dieser anonymen Leistungen ausgerichtet haben. Im digitalen Zeitalter ist diese Abhängigkeit noch größer geworden und wird vermutlich weiter zunehmen. Es wurde in der Rede über Infrastrukturen schon zu einem Gemeinplatz, dass sie sich uns geradezu schockartig immer dann ins Gedächtnis zurückrufen, wenn sie einmal nicht mehr reibungslos funktionieren, wenn sie marode sind, bestreikt oder attackiert werden oder sich wieder einmal ihr Preis erhöht. Bei vielen Menschen reicht mittlerweile bereits ein beinahe leerer Smartphone-Akku, um sie nervös zu machen.
Das gewachsene Interesse der Gegenwart an den Infrastrukturen deutet noch etwas anderes an: Das mit ihnen verbundene Konzept, die zirkulativen Grundlagen unserer Gesellschaft stetig weiter auszubauen, scheint seinen Höhepunkt inzwischen überschritten zu haben.[4] Diese Feststellung mag insbesondere mit Blick auf die vielen Schwellenländer verwundern, die gerade mit ambitionierten Projekten dabei sind, solche Fundamente erst zu schaffen. Tatsächlich wird ihnen das Recht, ja die Notwendigkeit, dies zu tun, niemand absprechen wollen. Allen sollte an einer basalen Versorgung möglichst vieler Menschen mit...