VORWORT
Nicht nur ein Handschlag
Ein Sonntagmittag im April 2017. Unsere Maschine berührt gegen zwölf Uhr den Boden. Flughafen Niamey, um die 35 Grad Außentemperatur. Niger, das Land, durch das rund 80 Prozent aller Wanderungsbewegungen von Afrikanern verlaufen, die nach Europa kommen wollen. Es ist mein erster Besuch in Niger und Mali. Das Straßenbild ist geprägt von Männern, jung wie alt. Wo sind die Frauen? Sie nehmen nicht teil, jedenfalls nicht so wie die Männer. Nicht am öffentlichen Leben, nicht an der Berufswelt. Als wären sie nicht da. Später treffe ich auf Frauen in privilegierten Positionen, Parlamentsmitglieder. Ich versuche zu verstehen, warum Menschen sich auf den gefährlichen Weg zu uns machen, um auf einen anderen Kontinent zu gelangen, dessen Kultur und Leben so anders und fremd sind.
Und je mehr ich erfahre über mangelnde Arbeitsplätze, Armut, Terrorismus, Klimawandel, Hunger, schlechte Bildung, demografischen Wandel, umso mehr dämmert mir: Die Rolle der Frauen wird über den Fortgang des afrikanischen, aber auch unseres Kontinents entscheiden. Kein Wirtschaftswachstum kann mit der Geburtenrate im Sahel, einer der ärmsten Regionen der Welt, mithalten. Mädchen bekommen mit 13 Jahren ihr erstes Kind, mit 20 haben sie in der Regel schon sechs, sieben Kinder. Was die meisten Mädchen aber nicht haben: Schul- und Ausbildung. Das Gesetz, das Heiraten erst mit 16 erlaubt, ist in Niger gescheitert an der Intervention der muslimischen Religionsführer. Nicht nur die Tradition, auch die Armut treibt Eltern dazu, Mädchen früh zu verheiraten, damit sie finanziell entlastet sind. Faktisch brechen sie dadurch die Schule ab und damit jede Chance auf Bildung und ein selbstbestimmtes Leben. Es gibt kaum ein Land auf dieser Erde, in dem die Rate der Kinderehen höher ist als in diesem Land. Laut Schätzungen des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen sind im Niger über drei Viertel aller Mädchen unter 18 Jahren bereits verheiratet.
Ortswechsel. Jahre zuvor in Berlin. »Fallen Sie uns aufgeklärten Muslimas nicht in den Rücken.« Sie sagte es ganz eindringlich zu mir, und seither geht mir dieser Satz nicht mehr aus dem Kopf. Er hat mich wachgerüttelt. Jahre ist es her, ich saß damals noch im Bundestag. Organisiert hatten wir ein Treffen mit Frauen, denen Frauenhäuser Zuflucht geboten haben. Die junge Frau, die in einem der Häuser Schutz fand, erzählte nicht viel aus ihrem Leben. Zu groß war wohl die Angst, gefunden und wieder »heimgeholt« zu werden in ein anderes Leben mitten in Deutschland. Ihr Grund für das Verlassen ihres Zuhauses war ganz einfach: Sie hatte beschlossen, ihren Gesichtsschleier, der sie zu einem unsichtbaren Neutrum in der Öffentlichkeit machte, abzulegen. Diese junge Frau wusste, was das bedeutete. Das war kein Aufmüpfigsein eines pubertären Teenagers, der sich weigerte, zur goldenen Hochzeit der Großeltern die weiße Bluse anzuziehen und stattdessen mit Schlabberpulli und Löcherjeans auftauchte. Die Kleidungsfrage entschied über ihr Leben mit oder ohne Familie. Und die junge Muslima wusste, wenn sie sich gegen das Verstecktwerden unter einem Stück Stoff entschied, wird nach ihrer Befreiung aus dem Vollschleier und der Enthüllung ihres Körpers das nächste Verstecken auf sie warten. Das Untertauchen vor ihrer Verwandtschaft, die glaubt, die Familienehre hänge vom »anständigen Verhalten und Bedecken« der Tochter, Schwester oder Cousine ab.
Das sind diese Momente, in denen ich als Politikerin schlucke und ungläubig nachfrage, in einem Deutschland des 21. Jahrhunderts, in dem eine Frau Bundeskanzlerin und eine Frau Bundesverteidigungsministerin ist, in einem Land, in dem Frauen in Führungsetagen der Wirtschaft und Wissenschaft zuhause sind. Gekleidet, wie sie selbst es wollen. Und ich weiß noch, wie ich die junge Muslima fragte, gibt es denn da nicht einen Weg wieder hin? Zurück? Und sie sagte einfach nein. Erschrocken sei sie aber wegen etwas ganz anderem, nämlich dass es in diesem Land so viel Verständnis gäbe für den unterdrückenden Umgang mit Frauen unter dem Deckmantel der Ehre, Kultur und Religion. Ständig berufen sich Macho-Männer auf Respekt und Toleranz für ihr intolerantes Frauenbild. »Ich wollte nicht mehr länger eingesperrt sein in einem offenen Land.« Das war eine Anklage, auch an uns so aufgeklärte und frei lebende Politikerinnen. Und so bleibt mir der Satz dieser jungen, mutigen Frau bis heute tief im Gedächtnis: »Fallen Sie uns aufgeklärten Muslimas nicht in den Rücken.«
Wer Politik gestalten will, tut gut daran, sich unter die Leute zu mischen. Denen zuzuhören, die betroffen sind. Die keine großen Möglichkeiten haben, ohne Hilfe ihr Leben zu verändern. Das gilt für unser Land, aber auch für Afrika. Menschen zu treffen, die einem vermitteln, was ist, und nicht das, was sein soll, erdet, schärft den Blick für diejenigen, für die wir angetreten sind, Politik zu machen. Manchmal hinterlässt es einen aber auch mit einem flauen Gefühl im Bauch oder einem schlechten Gewissen. Nun ist es nicht so, dass wir uns in der Politik nicht mit den Problemen von Frauen oder explizit von Migrantinnen befassen. Genau genommen tun wir das sogar seit sehr vielen Jahren. Immer wieder. Schon damals haben wir uns im Bundestag u.a. in der Gruppe der Frauen mit diesen Fragen beschäftigt. Es ist nicht so, dass manche Probleme nicht schon damals auf dem Tisch lagen. Ich erinnere mich beispielsweise sehr gut daran, dass wir die türkischstämmige Rechtsanwältin und Frauenrechtsaktivistin Seyran Ates eingeladen hatten, um uns von ihrer Arbeit berichten zu lassen und den Widerständen, denen sie ausgesetzt ist. Sie wurde schon damals dafür bedroht, dass sie einfach nur geltendes Recht durchsetzen wollte. Für alle Frauen. Ganz gleich welcher Religion. Auch für die zugewanderten. Oder Necla Kelek, die Soziologin, Autorin und Frauenrechtlerin. Dafür, dass sie Selbstverständliches einforderte und damit ihre Glaubensbrüder herausforderte, brauchte sie Personenschutz. In Deutschland. Es sind seither Jahre vergangen, verändert hat sich zu diesem Thema nicht viel. Sicher, Themen wie Frauenquote, gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit, Girls’Days, diskriminierungsfreie Stellenausschreibungen sind stärker ins Bewusstsein gerückt. Mittlerweile kämpfen sogar einige Parteien nicht mehr nur für die gendergerechte Sprache, sondern auch noch für die Sternchenschreibweise, damit man nicht irgendein »Geschlecht« verletzt. Ein Einsatz, der weder mutig noch teuer ist. Aber bei den Grundstandards für Frauen, die in fundamentalistischen, streng gläubigen und patriarchalisch geprägten Familien aufgewachsen sind, da hat sich wenig getan. Weil wir es auch nie parteiübergreifend formuliert und eingefordert haben.
Ich nenne das falsch verstandene Toleranz – zu Lasten der betroffenen Frauen. Im Übrigen auch zu Lasten aller Frauen. Denn auch deutsche Frauen begegnen immer wieder ausgewiesenen Machos, die ein komplett anderes Frauenbild leben. Müssen sich das Lehrerinnen, Ärztinnen, Verkäuferinnen im Umgang mit ihnen wirklich gefallen lassen? Ich meine, nein. In meinem Freundeskreis befinden sich Jesidinnen, Migrantinnen, und politisch habe ich einen Beraterkreis aus Männern und Frauen muslimischen Glaubens. Sie sind Betroffene, erzählen mir viel von Familien- und Clanehre, von der Rolle der Mädchen, vom Bruch mit denen, die nicht loslassen konnten, von denen, die nach Deutschland kamen, aber mit dem Herzen und der Kultur immer in ihrer alten Heimat blieben. Sie berichten mir von Strukturen, mittels derer Zwangshochzeiten und Import-Bräute organisiert werden, von Auffassungen, die »Ehrenmorde« und Gewalt gegen Frauen legitimieren. Eine Generation beeinflusst die nächste. Ich bin dankbar für die vielen authentischen Impulse, die sie mir geben aus einer Welt, in die wir nicht wirklich einen Einblick haben oder in die wir zu wenig hineinschauen. Sie haben mich wachgerüttelt und aufgeklärt. Ihr Grundtenor: Ihr regt euch über alles Mögliche auf in dieser Gesellschaft. Ihr macht Gesetze für die unterschiedlichsten kleinsten Minderheiten, kämpft für Frauenquote, gendergerechte Sprache und Toiletten für Transsexuelle, aber ihr nehmt nicht wahr, dass sich hier in unserem Land auf einer anderen Ebene gerade ein Frauen- und Menschenbild verschiebt. Ihr seid tolerant gegenüber intoleranten Fundamentalisten. Wer ihnen zu viel durchgehen lässt, fällt aber den Frauen in den Rücken, die von einer Frauenquote nur träumen können. Ihnen wäre schon geholfen, wenn ihr nicht wegschaut bei der täglichen Unterdrückung, die mit dem Deckmantel der kulturellen Vielfalt und Religionsfreiheit daherkommt. In Wirklichkeit ist es Frauendiskriminierung, Machogehabe, das Gegenteil von Gleichberechtigung.
Frauenrechte in Gefahr? Im Jahr 2018, mitten in Deutschland? Es gibt ja nur zwei Möglichkeiten: Entweder man sieht etwas nicht, oder man will es nicht sehen, weil man sich nicht vorstellen kann oder will, dass es solche Zustände tatsächlich noch gibt in einem aufgeklärten Land. Dabei ist es im Grunde klar: Im Grundgesetz haben wir die Gleichberechtigung von Mann und Frau verankert. Wir glauben fest an ein aufgeklärtes Geschlechterbild. Das ist der Grund, warum es immer wieder Sexismusdebatten gibt – sogar Hashtags in sozialen Medien mit dem Namen »Aufschrei«, weil ein Politiker einer Journalistin sagte, sie sei dirndltauglich. Dieser Aufregungs- und Erregungspegel ist aber sehr ungleich verteilt. Wenn Frauen nicht die Hand gereicht wird, weil sie Frauen sind, wenn Mädchen nur mit Schwimm-Burkini in den Schulschwimmunterricht dürfen – dann ist das auch Sexismus. Aber er wird aus – sagen wir falsch verstandener »politischer Korrektheit« – nicht annähernd...