In der ersten Septemberwoche 1890 gingen über Böhmen und weiten Teilen Nordösterreichs heftige Regenstürme nieder, ließen die Flüsse aus den Ufern treten, verursachten in Prag die verheerendsten Überschwemmungen seit mehr als vierhundert Jahren. Man beklagte zahlreiche Todesopfer. Schon stand die Josefstadt, das Ghetto der Juden, zur Gänze unter Wasser, da stürzte in den frühen Morgenstunden des 4. September die uralte, steinerne Karlsbrücke ein. Erst am Mittwoch, dem 10. September, hörte der Niederschlag auf, sank der Pegel des Hochwassers langsam – tagsüber herrschte trübes Wetter, erst gegen Abend hellte es ein wenig auf.
In einer schön gelegenen Wohnung der Prager Neustadt, in der Havlíčekgasse 11, kam kurz vor Mitternacht Franz Viktor Werfel zur Welt, das erste Kind seiner Eltern Rudolf und Albine Werfel. Die Vorfahren väterlicherseits, teils Wörfel, teils Würfel genannt, waren seit über drei Jahrhunderten in Nordböhmen ansässig. Franz Viktors Ururgroßvater Gottlieb Würfel, dem Status nach ein Schutzjude, lebte in Böhmisch Leipa. Dessen Sohn Juda nahm 1812 als Unteroffizier an Napoleons russischem Feldzug teil. Juda Werfels Sohn Nathan, Franz Viktors Großvater, wurde als fünftes von sieben Kindern geboren – zunächst Weber in Leipa, später Mehlhändler in Jungbunzlau, übersiedelte er schließlich nach Prag, wo er mit einer Bettfedernreinigung ein beträchtliches Vermögen erwirtschaftete, dieses aber auch rasch wieder verlor. Sein Sohn Rudolf Werfel, 1857 in Jungbunzlau als eines von neun Geschwistern geboren, wuchs als Kind sowohl in Prag als auch in einer renommierten bayerischen Internatsschule auf. Von den Schulden des Vaters zunächst schwer belastet, konnte er sich im Laufe weniger Jahre einigen Wohlstand erkämpfen und meldete 1882, als Fünfundzwanzigjähriger, die Eröffnung einer Handschuhmanufaktur an. Sieben Jahre später heiratete er die erst neunzehnjährige Albine Kussi, Tochter eines vermögenden Mühlenbesitzers aus Pilsen.
Im Haushalt der Jungvermählten arbeitete und wohnte die tschechische Köchin Barbara Šimůnková, eine resolute Person Mitte Dreißig, aus Radič nahe Tábor – sie wurde zur Kindermagd des Neugeborenen, seine frühesten Eindrücke waren mit Barbara engstens verbunden, mit ihr verbrachte er die meisten Stunden des Tages. Halb Ammendeutsch, halb Kuchlböhmisch sprach sie mit dem Buben; eines der ersten Worte, das er aussprechen konnte, hieß Bábi. Bábi fuhr ihn, als er noch im großen, weißen Kinderwagen lag, nahezu täglich in den unweit gelegenen Stadtpark – die hohen Baumkronen bildeten seinen ersten Himmel. Sobald er gehen gelernt hatte, führte sie ihn in diesen Park, um den Teich mit seinen Grotten, seinen Buchten und Trauerweideninseln. Er spielte in der Sandkiste, nahe dem Affenkäfig, sammelte Edelkastanien, erlebte Regentau, Blumenbeet, Baumschatten, begriff die Aufeinanderfolge der Jahreszeiten.
Schräg gegenüber der Wohnung seiner Eltern lag der große Staatsbahnhof Prag-Mitte, ein Gebäude, das Franz Viktor neugierig machte wie kein anderes. Vom Fenster aus konnte er auf Dampf und Schmutz und Güterwaggons hinabsehen, er hörte die Pfiffe, das Kreischen der Bremsen; immer nochmals wollte er das Innere dieser faszinierenden Station erforschen, die Lokomotiven berühren: »Maschina! Maschina!« nannte er die schwarzen, zischenden Monstren, die hier an den Endpunkten zahlreicher Schienenstränge standen.
An Sonntagen nahm Barbara den Vier-, Fünfjährigen sehr früh morgens in die Messe mit. In der kühlen, weihrauchduftenden Steinhalle der St. Heinrichskirche kniete er nieder, wenn Bábi niederkniete, stand auf und faltete die Hände, wenn Barbara aufstand und die Hände faltete. Nach Hause zurückgekehrt, baute er dann aus zufällig zusammengesuchten Gegenständen, aus Besen, Hutschachteln, Zeitungspapier, einen Altar auf, zelebrierte davor so etwas Ähnliches wie römisch-katholischen Gottesdienst. Öfters kam Pfarrer Janko von der Heinrichskirche – ein guter Freund Rudolf Werfels – zum Mittagessen zu Besuch; dann gab sich Barbara besondere Mühe, ihre phantasievollsten Gerichte aufzutischen. Franz Viktor wuchs aber durchaus auch in der jüdischen Tradition auf: zwar waren seine Eltern gänzlich unorthodox, doch am achten Tag nach seiner Geburt war die rituelle Beschneidung erfolgt, und an den hohen Feiertagen begleitete der Sohn seinen Vater in die Maiselsynagoge. Das Licht der vielen brennenden Kerzen, das Flimmern der Synagogenluft, erschien dem Jungen jeweils als lebendige Gegenwart Gottes, die ihn gleichermaßen erregte und beängstigte.
Auf den Spielplätzen des Stadtparks begegnete Franz seinem ersten Freund, dem um ein Jahr jüngeren Willy Haas. Barbara erzählte den beiden, schon ihre Kinderwagen seien nebeneinander durch die kiesbedeckten Alleen geschoben worden. Gemeinsam erlebten die Buben den gefürchteten, stelzbeinigen Wächter Kakitz, der einen mächtigen Säbel an der Seite trug; sie hänselten die Sesselbabbe, die jedem, der sich auf den Stühlen der Rondeaus oder entlang der Promenaden niederlassen wollte, sofort den Sesselkreuzer abverlangte. Mit altem Brot fütterten sie die Schwäne, und Barbara kaufte dem Brezelmann Naschereien ab, und manchmal durften die Kinder auch große, bunte Luftballons mit nach Hause nehmen. Glück der frühen Kindheit, das mit Franz Werfels Eintritt in die Privatvolksschule des Piaristenordens von einem Tag zum anderen unterbrochen wurde.
In jüdischen Familien war es üblich, die Söhne zu den Piaristen zu schicken, in Franz’ erster Klasse stammte gar die Mehrzahl der Schüler aus jüdischem Haus. Im hinteren Trakt des Klostergebäudes, in hohen, gewölbten Räumen, unterrichteten Mönche in schwarzer Kutte etwa sechzig Knaben zugleich. Nur die Religionsstunden erfolgten in getrennten Klassenzimmern: für die Kinder mosaischen Glaubens kam Rabbiner Salomon Knöpfelmacher in das Kloster der Piaristen.
Franz saß in einem weißgetünchten Raum, in eine enge, grünlackierte Bank gezwängt; hinter dem erhöhten Katheder hing eine große Landkarte der Großmacht Österreich-Ungarn, mit ihren zehn Kronländern, daneben ein Bildnis des Kaisers Franz Joseph I., in weißer Uniform. Nahe der Tür stand ein Schrank mit Weltkugeln und Planetengloben. Umringt von einer Schar Dutzender fremder, lauter Buben, konnte der Sechsjährige schon die ersten Schultage kaum ertragen – er fühlte sich ausgesetzt, vom Elternhaus durch unbegreiflichen Ratschluß gewaltsam getrennt. Er flüchtete sich in die Krankheit: die ersten Monate dieses Schuljahres verbrachte er zu Hause, von Mutter, Vater und Barbara umsorgt und verwöhnt. So ging das ereignisreiche Jahr 1896 zu Ende, neben dem erschreckenden Erlebnis der Einschulung im Herbst von zwei weiteren Geschehnissen geprägt: dem Tod des Großvaters Nathan Werfel und der Geburt der Schwester Hanna.
Während seiner gesamten Piaristenzeit blieb Franz Werfel ein kränkelndes Kind und ein ziemlich schlechter Schüler. Sehr still hockte er in der Bank; in den Taschen seines blauweißen Matrosenanzugs bewahrte er neben bunten Murmeln ein Notizbüchlein auf, mit einer Namensliste aller seiner Mitschüler und der Patres, die sie unterrichteten. Bis vier Uhr nachmittags dauerte der Schultag zumeist; dann und wann zog Franz noch mit den anderen in den Stadtpark, wo sie Räuber und Gendarm oder mit ihren Glaskugeln Tschukes spielten. An anderen Tagen aber beeilte er sich, rasch nach Hause zu kommen, um noch mit Barbara spazierengehen zu können. Da fuhren sie zum Belvedere-Plateau, sahen hinab auf die hunderttürmige Stadt mit ihren Barockbrücken, auf die neuen Großbaustellen im ehemaligen Ghetto, wanderten über den mit Obstbäumen bepflanzten Laurenziberg wieder abwärts und eilten, sobald es Abend wurde, in die Havlíčekgasse zurück, damit Bábi der Familie rechtzeitig das Essen bereiten konnte. Sie überquerten die stillen Plätze der Kleinseite, wo zwischen dem holprigen Pflaster das Gras wuchs, passierten die großen Gärten der Adelspaläste und die bewachten Torbögen der Palais, liefen weiter, über die wiedererrichtete Karlsbrücke mit ihren Heiligenfiguren und dem großen Kruzifix, umrahmt von goldenen hebräischen Lettern; die Umschrift mußte einst ein Jude finanzieren, erzählte Barbara, weil er das Kreuz verspottet habe. Weiter führte ihr Weg, vorbei am rauchgeschwärzten Gemäuer der Altneusynagoge, durch enge, dunkle Gassen und finstere Pawlatschenhöfe, in denen es nach altem Bier und geselchtem Fleisch roch, weiter über den Graben, wo die Pferdestraßenbahnen verkehrten und die Kutscher die Rösser ihrer Fuhrwerke rücksichtslos durch den dichten Abendverkehr peitschten.
Franz nahm diese Farben, Klänge, Gerüche tief in sich auf, er prägte sich offenbar Nebensächliches mit größter Aufmerksamkeit ein: Ladenschilder, Straßenlaternen, Milchwagen, Kohlentransporte … Sah mit gleicher Konzentration in das eigene Kinderzimmer, wo bunte Stoff- und Seidenreste, Bänder und Volants neben seinem Spielzeug lagen, wenn Barbara beim Schein des alten Auer-Gaslichts an der leise ratternden Nähmaschine saß. Lauschte mit großer Intensität den Gesprächen der Erwachsenen, beobachtete ihre übertriebenen Gesten, ihre Verschrobenheiten, sammelte Eindrücke, wie andere Kinder Briefmarken sammeln oder Muscheln …
Im Jahre 1899, Franz besuchte die vierte Volksschulklasse, kam Marianne Amalia, seine zweite Schwester zur Welt; Familie Werfel übersiedelte in eine größere, repräsentativere Wohnung in der Hybernergasse, in der Nähe des Pulverturms. Auch...