1 VOM KURZSCHLUSS DER GESCHICHTE
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VOM KURZSCHLUSS DER GESCHICHTE
Jede Vorgeschichte ist dunkel – und so muss man sich nicht wundern, dass man von seinem Kind gefragt wird, ob man eigentlich die Steinzeit miterlebt habe. Aber so weit müssen wir gar nicht zurück. Bloß in das Jahr 1746, das ebenfalls weit vor meiner Zeit liegt. Und doch behaupte ich, dass in diesem ansonsten recht ereignislosen Jahr das Internet in die Welt geraten ist. Bitte? Ja, das klingt verrückt. Vermutlich wird mancher protestieren und sagen: Was für ein Quatsch! Was ist mit Tim Berners-Lee? Aber Geduld! Denn auf der Suche nach den Wurzeln des digitalen Zeitalters werden wir nicht der allgemeinen Heldengeschichte folgen, sondern dem »Geist der Maschine« – genau dorthin, wo unsere wundersame Analog-Digital-Wandlung ihren Ausgang nimmt.
Stellen wir uns ein freies Feld im Norden Frankreichs vor. Sechshundert Mönche, die sich in einem großen Kreis aufstellen und einander mit Eisendraht verkabeln.
Nachdem sich die Mönche in Formation gebracht haben, berührt einer von ihnen, der Abbé Jean-Antoine Nollet, ein Gefäß. Und was passiert?
Nicht bloß einer, nein, alle Mönche beginnen zu zucken!
Was so esoterisch klingt wie Stühlerücken und Totenbeschwörung, ist kein rätselhafter Kult, sondern ein streng wissenschaftlicher Versuch. Man hatte herausgefunden, dass sich Elektrizität speichern lässt – nämlich in der sogenannten Leidener Flasche, einem mit Wasser gefüllten Glasbehälter, der durch Reibung elektrisiert worden war.
Und mit dieser »Batterie« im Gepäck stellte sich die Frage, wie schnell sich die wunderbare Substanz durch einen Menschenkreislauf bewegt. Gibt es da jene Art Phasenversatz wie bei einer La-Ola-Welle?
Ursprünglich hatte man angenommen, dass der Strom, den man sich als feine Flüssigkeit vorstellte, sich wie eine rasend schnelle Flutwelle ausbreiten würde. Deshalb die Versuchsanordnung: das große, weite Feld und die große Zahl der Mönche, die einen Kreis von etwa 600 Metern Durchmesser bildeten. Gleichwohl, das Ergebnis war überraschend. Denn als der Versuchsleiter den kleinen Metallstift berührte, der aus der Flasche hervorragte, begannen die Mönche gleichzeitig zu zucken, ohne dass das Auge eine Verzögerung wahrnehmen konnte. Das musste bedeuten, dass in dem Augenblick, als der Geist die Flasche verließ, die Elektrizität überall war! Wie erstaunlich! Und gleichzeitig verstörend. Wie der liebe Gott, den man sich als eine Allgegenwart vorstellte.
Schon die ersten Beobachtungen, die man mit dieser merkwürdigen Kraft gemacht hatte, waren überaus rätselhaft gewesen. Fast vierzig Jahre zuvor hatte Stephen Gray, ein Textilfärber und Hobbyastronom, bemerkt, dass der Glaszylinder, den er mit Wolle oder Katzenfell abgerieben hatte, plötzlich anziehend wirkte: Im Raum herumliegender Gänseflaum blieb daran hängen. Was tut man wohl, wenn man einen Geist in der Flasche gefangen hat? Man pfropft die Flasche mit einem Korken zu.
Damit freilich war diesem Geist nicht beizukommen. Denn als Gray seinen Korken anderweitig benutzen wollte, stellte er fest, dass sich die rätselhafte Anziehungskraft auf den Korken übertragen hatte – auch er zog nun Gänsefedern an. Gray befestigte Hanfschnüre am Korkenverschluss, um zu prüfen, ob sich der Geist an diesen Schnüren entlang zu anderen Punkten im Raum zu hangeln vermochte. Bei den nachfolgenden Versuchen wurden die Schnüre, die er »Lines of Communication« nannte, immer länger. Und es zeigte sich, dass sich die merkwürdige Kraft zu jedem beliebigen Punkt transportieren ließ. Allerdings gelang dies nicht immer. Holz und Glas beispielsweise waren gänzlich unempfindlich, während Kupferdraht eine besonders hohe Leitfähigkeit besaß. Folglich gelang es Gray im Jahr 1729, mithilfe eines seidenumwickelten Kupferdrahts eine größere Strecke zu überbrücken. Berührte er nun den elektrisierten Glaszylinder, erhoben sich am anderen Ende der Leitung Blattgoldstücke und tanzten wie Schmetterlinge um eine Elfenbeinkugel herum. Natürlich stellte sich die Frage: Wie verhält sich der menschliche Körper zu dieser beweglichen Anziehungskraft? Ist er leitfähig oder nicht?
Um das herauszufinden, hängte Gray einen Knaben in eine Seilkonstruktion, elektrisierte ihn mithilfe einer aufgeladenen Glasröhre und ließ das Kind mit den Fingerspitzen Messingplättchen anziehen.
Da der Junge an einem nicht leitenden Holzgestell hing, war klar, dass der menschliche Körper animierbar war. Folglich musste es so etwas wie eine »animalische Elektrizität« geben. Sehr bald schon verwandelten sich diese Versuche zu einem modischen Zeitvertreib, bei dem die Kavaliere der Wissenschaft vorführten, dass man jungen Frauen Funken aus dem Kopf ziehen konnte, Schriftzüge aufglühen lassen und dergleichen mehr.
Aber was hat all das mit unserer Computerwelt und dem Internet zu tun? Schweifen wir hier nicht ab und kommen von Hölzken auf Stöcksken, vom Hundertsten ins Tausendste? Strenggenommen ist genau diese Abschweifung unser Thema. Denn das Experiment mit den Mönchen ist nur eine radikale Ausweitung der Gray’schen Versuche, mit dem Unterschied, dass hier erstmals die Frage der Geschwindigkeit im Vordergrund steht. Der Versuchsleiter, Abbé Nollet, hatte bereits dem französischen König die Schlagkraft einer Leidener Flasche demonstriert, und zwar indem er eine ganze Kompanie von Soldaten in Zuckungen versetzt hatte. Seine Mönche bekamen nun die Doppelrolle auferlegt, als elektrische Leiter, aber auch als Sensoren zu fungieren, an deren Zuckungen abzulesen sein würde, ob sie von der Geisterkraft erfasst worden waren oder nicht. Dass alle Mönche gleichzeitig zu zucken begannen, ließ nur die Schlussfolgerung zu, dass diese Kraft die Entfernung sozusagen entfernt hatte, trat sie doch zeitgleich an allen Punkten des Kreises in Erscheinung. Aber wie war dies möglich? Was war das für eine Kraft, der es mühelos gelang, den Raum zu überbrücken?
Man kann sich leicht vorstellen, dass diese Frage die Menschen durcheinanderbrachte, umso mehr, als die Wissenschaft die Gesetze der Natur gerade auf den Fall eines Apfels, will sagen: die Gravitation eingeschworen hatte. Tatsächlich sei die Welt, so behaupteten die Philosophen, nichts weiter als eine große Maschine. Folglich war es nur logisch, die Lebewesen als natürliche Automaten aufzufassen, während der Geist präzise und unbestechlich wie ein Uhrwerk funktionierte. Hätte man Kenntnis von der Lage, Position und Geschwindigkeit aller im Universum befindlichen Teile, so könnte man jeden vergangenen, aber auch jeden künftigen Weltzustand verlässlich berechnen. In diese schöne Regelmäßigkeit schlug nun der Blitz der Elektrizität ein wie ein göttliches Wunder – oder anders: Die Entdeckung zog auf wie eine schwere Wolke, die den hellen Himmel der Aufklärung bedrohlich verdunkelte. In jedem Fall ließ diese Wolke allerlei okkulte Fragen wiederauferstehen. Personifiziert im Philosophen Swedenborg, dessen Werk ein merkwürdiges Pandämonium von Engeln und Geistwesen versammelte, strömten mit Macht allerlei Fragen zurück, die zuletzt die Theologen des Mittelalters beschäftigt hatten. Hatte man damals darüber spekuliert, wie schnell sich eigentlich Engel bewegen, war man auf die Lösung verfallen, dass ein Engel, wenn er beispielsweise von Barcelona nach Mailand reist (978 Kilometer Entfernung), sich so schnell bewegt, dass ihn bei einem Regenguss kaum mehr als zwei Regentropfen berühren. Setzen wir dafür eine Dauer von 1 Sekunde an, kommen wir auf eine Durchschnittsgeschwindigkeit von stolzen 3 520 800 km/h (ein Dreihundertstel der Lichtgeschwindigkeit, der Geschwindigkeit, mit der elektrische Teilchen durch ein Vakuum reisen).
Was aber hat das nun mit dem Internet zu schaffen? Indem die Versuchsanordnung des Abbé Nollet die Geschwindigkeit der Elektrizität zu ermitteln sucht, nimmt sie die Frage der Relativitätstheorie des 20. Jahrhunderts vorweg – jene Kopplung von Lichtgeschwindigkeit und Echtzeit, in der die Möglichkeit des Fernhandelns bereits eingepreist ist. War es möglich, mit einem Fingerdruck eine Aktion auszulösen, die viele Kilometer entfernt stattfand? Für die damalige Zeit, die sich mit Pferdekraft und Kutsche voranbewegte, war dies eine ungeheure, vor allem gänzlich fremdartige Vorstellung. Aber wenn wir ehrlich sind: Haben wir nicht selbst Schwierigkeiten damit, uns eine solche Gleichzeitigkeit vorzustellen? Deshalb die Rätselfrage: Wie lange braucht wohl ein elektrisch geladenes Teilchen, um auf einem Chip des Jahres 1961 von A nach B zu reisen? Diese Frage ist nichts als die Umformulierung des Nollet’schen Versuchs – nur dass die Mönche hier »Transistoren« genannt werden und ihr Abstand voneinander auf 0,15 Mikrometer zusammengeschrumpft ist. Die Antwort lautet: Wenn ein Meter definiert ist als die Länge der Strecke, die das Licht im Vakuum während der Dauer von 1/299 792 458 Sekunde zurücklegt, braucht das Teilchen nur ein Hunderttausendstel dieser 299 Sekunden-Milliardstel – also eine so geringe Zeitspanne, dass wir sie gar nicht zu denken vermögen.
Letztlich macht es keinen Unterschied, ob wir uns die Engel des Mittelalters, die Mönche des Abbé Nollet oder die Transistoren auf einem Computerchip vorstellen. Für uns spielt der Zeitfluss keine Rolle mehr. Genau das ist die Bedeutung dieses merkwürdigen Wortes: »Echtzeit«. Damit nämlich ist gesagt, dass, obwohl es durchaus eine...