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Pattensen
Kennen’se Pattensen? Eine Kleinstadt südlich von Hannover. Achttausend Einwohner im Ortskern, mit den umliegenden Dörfern sind es dreizehntausend. Ländlich geprägt, alles zu Fuß zu erreichen, Schule, Bolzplatz, Schwimmbad, Fußballverein, Tennisplatz. Massenhaft Freunde. Wie im Bilderbuch.
»Pattensen, Peine, Paris«, war ein beliebter Spruch bei uns in der Klasse. Das hieß so viel wie: Pattensen ist eigentlich nicht zu toppen. Stimmt ja auch. Alles, was man für ein schönes Leben brauchte, fand man direkt vor der Haustür, in einem Neubaugebiet. Wer unbedingt wollte, konnte sich eine halbe Stunde in den Bus setzen und war in Hannover.
Meine Eltern engagierten sich in vielen Sportvereinen. Mama gab Nordic-Walking-Kurse und Turnkurse, Papa war Langläufer, Fußballer und dann Trainer. Beide waren und sind komplett sportverrückt. Wir drei Jungs – mein drei Jahre älterer Bruder Denis, mein drei Jahre jüngerer Bruder Timo und ich – spürten das auch. Immer sonntags um 10 oder 11 Uhr war für die ganze Familie verbindlich ein Fünfkilometerlauf angesetzt. Am Klärwerk vorbei, in den Wald hinein und wieder heraus. Wir liefen bei Wind und Wetter, Ausnahmen waren nicht gestattet. Das war Teil unserer Erziehung. Mein Vater steht noch heute früh auf und dreht seine Runden in einem Tempo, bei dem viele nicht mithalten können.
Mit Sport und Bewegung gesund durchs Leben kommen, dem Körper etwas Gutes tun: Dieses Bewusstsein war bei uns stark ausgeprägt. Wir hatten auch eine Sauna bei uns im Haus. Wenn ich an meine Großeltern denke, kann ich nicht unbedingt sagen, dass Mama und Papa dies alles in die Wiege gelegt worden war. Sie haben sich vielmehr selbst motiviert und waren sich selbst gegenüber unheimlich diszipliniert.
Ich kam mit vier Jahren in den Fußballverein. Das wurde so entschieden. Papa hatte damals eine G-Jugend-Mannschaft beim TSV Pattensen ins Leben gerufen. Er trainierte aber nicht nur mich, sondern uns alle drei. Der Familienlegende nach war ich in Spanien fußballerisch sozialisiert worden, daher habe ich wahrscheinlich diese überragende Technik. Im Urlaub auf Menorca hatte mir Papa am Strand einen Ball vor die Füße geworfen und gemerkt: »Ah, der kann kicken.« Ich war damals knapp drei.
Einmal die Woche Fußballtraining, später noch Tennis und Tischtennis, eine Zeit lang ging ich nach der Grundschule auch noch Rollerskates fahren. Das war damals ziemlich in bei uns in Pattensen. Ohne die entschiedene Unterstützung meiner Eltern hätte ich nie derart viel Sport treiben können. Ich bin ihnen sehr dankbar dafür. Sie öffneten mir damit Türen, die später sehr groß werden sollten.
Meinen Vater hatte es beruflich in die Gegend verschlagen. Er hatte eine Dozentenstelle an der Sparkassenakademie in Hannover angetreten. Pattensen gefiel ihm: Es vereint grüne Landschaft mit guter Verkehrsanbindung.
Groß geworden war er wie meine Mutter im Harz. Er stammt aus Wildemann, sie aus Sankt Andreasberg, die beiden Orte liegen dreißig Minuten voneinander entfernt. Uns Kinder hätte es aber dennoch beinahe nie gegeben. Nachdem mein Vater in jungen Jahren laut eigener Aussage einen nicht näher definierten »Mist« gebaut hatte, wollte Mama ihn nicht mehr sehen. Aber ihre Mutter hat ihn dann doch wieder reingelassen. Mein Papa – wie wir alle – hatte Glück.
Papa ist ein Einzelkind, meine Mutter hat dagegen zehn Geschwister. Bei der letzten Zählung hatte ich dreißig Cousins und Cousinen, davon sind fünfundzwanzig Jungs. Es herrscht ein gewisser Männerüberschuss in unserer Familie.
Dass es im Harz schön ist, wusste Papa, aber er sah auch voraus, dass viele Leute in die Großstädte ziehen würden und es perspektivisch wenige Arbeitsplätze geben würde. Er bildete sich deswegen früh weiter und las viel, studierte zunächst in Bonn und entschied sich dann, mit Mama eine Familie an einem neuen Standort zu gründen. Beide wollten sich in Pattensen, ihrer neuen Heimatgemeinde, nicht einigeln, sondern aktiv einbringen. Egal, um was es ging, sie waren dabei. Teamsport war ihr Weg, sich sehr schnell zu integrieren.
Meine Brüder und ich waren begeisterte Esser, am liebsten Tomatensuppe mit Nudeln und Apfelkuchen. Wir wuchsen auch extrem schnell. Für Mama war viel zu tun. Sie musste ständig für Nachschub sorgen. Jeden zweiten Tag kam sie mit einem vollen Einkaufswagen nach Hause. Wenn man zu spät an den Tisch kam, hatte man trotzdem Pech. Dann hatten die Brüder schon alles verputzt.
In der Urlaubszeit wurden meine Brüder und ich oft bei den Eltern meines Vaters in Wildemann einquartiert. Das liegt direkt am Berg, im Winter gibt es dort viel Schnee. Wir hatten einen sehr großen Freundeskreis und unheimlich viel Spaß. Mit Cousins und Bekannten kickten wir stundenlang fünf gegen fünf auf kleine Tore, jeden Tag. Heute sagen die Leute dort zu meinem Vater: »Ist doch klar, dass aus Per was geworden ist. So viel, wie der als Kind immer gekickt hat!«
Im Sommer nahmen wir in Wildemann an Sportfesten teil: Weitsprung, Weitwurf. Wir gingen auch mit Kumpels in den Wald und bauten eine Holzbude auf. Opa Michael half uns dabei, weil er als gelernter Maschinenschlosser handwerklich geschickt war. Er war aus dem Krieg mit unzähligen Narben im Gesicht und auf dem Oberkörper zurückgekommen: Granatsplitter. Das hat mich als kleinen Jungen unheimlich fasziniert und auch neugierig gemacht. Aber geredet wurde darüber nicht.
Zur Osterzeit sammelten wir Reisig, rammten einen Stamm in den Boden und legten Tanne ringsum, für das Osterfeuer. Das war ein Riesenereignis, Jahr für Jahr. Es gab vier dieser Osterfeuer in Wildemann: eins vom Gesangsverein, eins von den Junggesellen, eins vom Sportverein und eins von der Gemeinde. Zusammen etwas aufzubauen und zu erleben gab mir und meinen Brüdern und Freunden sehr viel, es war ein Ritual, das uns stark prägte.
Es war eine beschauliche Zeit, in der die Gemeinschaft im Vordergrund stand – und die Idee, sich mit einfachen Dingen zu beschäftigen; ein ganz anderes Leben, wenn man es damit vergleicht, wie die heutige Generation aufwächst. Alle starren auf ihr Handy, sind abgetaucht in eine Social-Media-Welt, die ja nicht wirklich sozial ist, sondern extrem isoliert. Digitale Netzwerke sind oft Pseudonetzwerke: Die Technologie trennt die Menschen eher voneinander, als dass sie sie zusammenführt.
Opa Michael kam ursprünglich aus dem Rheinland und war katholisch. Mertesacker ist um den Rhein herum ein recht verbreiteter Name, er hat mit dem Heiligen St. Martin zu tun. »Mertesacker« heißt so viel wie: Martins Acker.
Opa und Oma Irmgard lebten nach dem Krieg in sehr überschaubaren Verhältnissen. Mein Vater erinnert sich noch, wie er seinem Vater das Essen in einer Milchkanne brachte. Das Mettbrötchen am Samstag war ein Highlight, Fernseher oder Telefon gab es nicht im Haus. Die Kinder spielten im Wald oder auf der Straße, so was wie Freizeitangebote existierten damals nicht.
Opa hat seinen rheinländischen Humor in den Harz mitgenommen. Er lachte sehr viel, sah vieles locker. Das Glas war bei ihm immer halb voll, nie halb leer. Er war treues Mitglied im Gesangsverein und feierte gerne, was sich von meinem Papa auch auf uns übertragen hat. »Immer, immer positiv, auch mal fünfe gerade sein lassen, du musst mal einen durchziehen, Spaß haben mit anderen, dann sieht die Welt gleich wieder anders aus. Das bringt dich viel weiter, als wenn du immer nur Trübsal bläst und darüber nachdenkst, was alles besser sein könnte.« Das war seine Einstellung. Er hat uns in allen Dingen und insbesondere beim Sport immer angefeuert.
Opa liebte es, die Tour de France im Fernsehen zu schauen. Er war leidenschaftlich beim örtlichen Sportverein, der TSG Wildemann, engagiert und hat das Klubheim mit aufgebaut. Früher war er Schiedsrichter gewesen. Mein Vater hörte als kleiner Junge mit ihm sonntags immer die Fußballübertragungen aus der Oberliga West im Radio und musste für ihn alle Ergebnisse in ein Notizbuch schreiben. Er glaubt heute, dass sein Talent für Zahlen da herrührt. Papa liebt Statistiken. Wer hat wo gespielt, wer hat wann gespielt, wer hat die Tore geschossen? Olympia, Weltmeisterschaften, Europameisterschaften … Papa hat das alles abrufbereit, gespeichert auf der Festplatte zwischen den Ohren. Er ist wirklich ein wandelndes Buch. Alle Telefonnummern kennt er auswendig. Er braucht kein Handy.
Papa und Opa fuhren gemeinsam zu den Spielen, die Opa als Schiedsrichter leitete, und manchmal auch zum Zuschauen nach Braunschweig. Sie waren bei den Auswahlspielen, die es damals noch gab – Nord gegen Süd –, und sahen auch das allererste Bundesligaspiel von Eintracht Braunschweig, einen 1:0-Sieg gegen Preußen Münster im Sommer 1963. Das hat bei meinem Vater die Fußballbegeisterung und den Ehrgeiz geweckt. Er nahm als Skilangläufer an mehreren Meisterschaften teil und spielte in den Sommermonaten Fußball, bei TuSpo Petershütte und bei den Sportfreunden Ricklingen in der Bezirksoberliga. Er sagt von sich, dass er viel laufen konnte, dass er überall auf dem Platz unterwegs, aber nicht unbedingt der Schnellste war. Nach dem Umzug in die Region Hannover hat er seine B- und A-Lizenz als Fußballtrainer gemacht.
Kurz bevor ich Profi bei Hannover 96 wurde, ist Opa Michael verstorben. Ich glaube und hoffe, dass er das irgendwie alles sehen konnte, aber es wäre natürlich schöner gewesen, wenn er es noch auf Erden erlebt hätte. Er hat meinen sportlichen Werdegang in der...