WUT
Kaum eine andere Emotion ist mir aus meiner Jugend und dem jungen Erwachsenenalter so vertraut wie die Wut. Dieses Beben in der Magengegend: mein ständiger Begleiter. Das Anspannen der Muskeln, die geballte Faust und dieser Drang, alles herauszuschreien, was da in einem wütet. Natürlich ist das nicht besonders klug, nicht weise und besonnen, aber es ist ungemein befreiend. Und wenn man 16, 17, 18 Jahre alt ist, dann will man vieles, aber garantiert nicht klug und weise sein. Den Wunsch danach zu haben, alles, was einen stört, erst einmal zerschlagen zu wollen, ohne einen Plan, wie es danach weitergehen könnte, ist vielleicht das größte und nachvollziehbarste Privileg der Jugend. Je älter man wird, desto rationaler und vernünftiger handelt man. Ein Sechzehnjähriger, der „Fuck the System“ an die Wände der Deutschen Bank sprüht, hat Herz und Seele, ein Sechzigjähriger, der das tut, hat keinen Verstand.
Für mich ist die jugendliche Wut etwas sehr Positives. Sie ist pure Energie. Sie ist ein mit dem ganzen Körper kommunizierter Schrei nach radikaler Veränderung. Aber ich befürchte, dass die Wut trotz der Bibelstellen, in denen Jesus sich mit den Pharisäern anlegte, als eher unchristlich angesehen wird. Schließlich haben Christen ja häufig einen gewissen Hang zur Kontrolle. Kontrolle über ihre Emotionen, über ihre Triebe, über all die drohenden Laster in dieser Welt. Die eigene Wut wird da schnell zu einer Emotion, für die es sich zu schämen gilt. Zu etwas, das eigentlich gar nicht passieren dürfte. Doch sind es nicht gerade unsere Fehler und Makel, die uns menschlich und beizeiten auch liebenswert machen? Nichts wirkt auf mich verstörender als diese ewig lächelnden, stets friedlich und in sich selbst ruhenden, erleuchteten Gläubigen jedweder Religion. Robotergleich grinsen sie jede Kränkung und jede Wut weg. Haben sich scheinbar immer im Griff, sind immer ganz bei sich, agieren bedacht. Sie wirken so furchtbar perfekt und auf mich leider auch: furchtbar unsympathisch. Jemand, der schreit, weint und um sich schlägt, der ist durch und durch Mensch. Leidender Mensch zwar und schmerzvoller Mensch, aber ein Lebewesen voller Energie.
Bei den meisten Menschen wächst sich die Wut auf die Gesellschaft, auf Gott, auf die Eltern und all die anderen Menschen irgendwann im frühen Erwachsenenalter aus. Ich trug dieses Beben im Magen deutlich länger mit mir herum. Wurde 25, wurde 30, wurde 35. Hörte weiterhin Musik, die wie der Soundtrack von mindestens zwei Weltkriegen klang, und pflegte stets eine zynische Meinung zu allem. Denn: Wenn man auf alles wütend ist, alles und jeden doof findet und die Welt aus einer herabschauenden Perspektive betrachtet, wird man unverwundbar. Ich war sicherlich kein angenehmer Gesprächspartner in dieser Zeit, aber ich hatte das Gefühl, dass niemand mir etwas konnte. Erst als mir eines Tages eine kluge Frau sagte, dass Wut lediglich ein anderer Ausdruck von Trauer sei, passierte etwas in mir. Ich begann zu hinterfragen, warum ich denn wütend war, wo der eigentliche Auslöser dieses Gefühls lag und warum ich mich offensichtlich sehr lange damit wohlgefühlt hatte.
Als die Wut schließlich langsam wich, fühlte ich mich jedoch weder befreit noch erleichtert, sondern ausgesprochen leer und hilflos. Denk- und Handlungsmuster, die ich über Jahrzehnte erlernt hatte, funktionierten auf einmal nicht mehr. Ich musste mich vielleicht nicht komplett neu erfinden, aber zumindest komplett neu ordnen. Und wahrscheinlich bin ich mit dieser Aufgabe auch noch eine ganze Weile lang beschäftigt.
Wenn ich ehrlich bin, vermisse ich die Wut hin und wieder. Nicht die Wut, die jeder verspürt, wenn er sich mit dem Hammer auf den Daumen geschlagen hat oder wenn ihm der letzte freie Parkplatz vor dem Supermarkt vor der Nase weggeschnappt wird. Das ist Alltagskram, der zum Leben gehört. Ich denke an diese unbestimmte Wut auf die Gesellschaft, auf das Leben, auf Gott und die Welt. An dieses große, intensive Gefühl, dass irgendetwas komplett falsch läuft und dass unbedingt etwas dagegen getan werden muss. Das vermisse ich. Denn durch Wut kann Neues entstehen. Und vielleicht Gutes erreicht werden. Oder zumindest etwas anderes. Und war es nicht zuletzt auch die Wut, die die Mitglieder der Weißen Rose zum Widerstand gegen Hitler antrieb? Sie waren jung, wollten radikale Veränderungen und waren lebendiger als so viele andere Menschen zu jener Zeit.
Ich denke, die Wut ist eine Waffe. Sie täuscht Macht vor und wird eingesetzt, wenn Besonnenheit oft die klügere Wahl wäre. Wut kann verletzten und zerstören. Aber wenn man sie verstanden hat und mit ihr zu leben gelernt hat, dann kann sie auch das Böse zerstören und das Gute in die Welt tragen.
Es gibt sie, diese Menschen, die es schaffen, immer und unter allen Umständen die Contenance zu bewahren. Es gibt sie, diese Menschen, die stets vollkommen ruhig und ausgeglichen sind und sich niemals aufregen. Und ja, es gibt auch diese coolen Typen, die immer ein bisschen über allem stehen und sich unter keinen Umständen die Blöße einer unkontrollierten Gefühlsregung geben. Ich selbst gehöre definitiv nicht dazu.
Es braucht zwar je nach innerer Verfasstheit relativ lange, bis bei mir eine gewisse Reizschwelle überschritten ist, aber dieses Gefühl, dass Wut in mir aufsteigt, ist mir wohlvertraut. Ich gestehe, manchmal bin ich sogar dankbar, wenn ich in brenzligen Situationen ausgleichend wirkende Mitschwestern um mich herum habe, die mir dabei helfen, meine überschäumenden Emotionen wieder auf Normalniveau herunterzukochen.
Unkontrollierte Wutausbrüche haben etwas Zerstörerisches. Wenn ich über Wut nachdenke, kommen mir Bilder von einem gewaltbereiten Mob, der am Ende nichts als verbrannte Erde hinterlässt. Von Menschen, die von blinder Wut erfüllt ihren Computer zertrümmern, weil er nicht so funktioniert, wie sie wollen.
Wut kann zerstörerisch sein, aber sie aus diesem Grund als etwas anzusehen, was um jeden Preis vermieden bzw. überwunden werden muss, ist mir dennoch zu kurz gegriffen. Im Gegensatz zu einem ermüdenden, unterschwelligen Genervtsein hat eine echte Wut für mich auch eine schöpferische Seite. In den Augenblicken, in denen ich mich richtig wütend erlebe, spüre ich zugleich meine ganze Leidenschaft für etwas oder jemanden. Wütend werde ich, wenn mir etwas wirklich am Herzen liegt, wenn ich für etwas brenne oder auch bei mir selbst ein wunder Punkt getroffen ist. Ich werde wütend, wenn menschliches Leben mit Füßen getreten wird. Ich werde wütend, wenn ein Mensch nur als Ware gesehen und nach seiner Leistung bemessen wird. Ich werde wütend, wenn Dummheit und Ignoranz regieren. Ich werde wütend, wenn ich die himmelschreienden Ungerechtigkeiten in dieser Welt wahrnehme. Ich werde wütend, wenn Menschen auf verschiedenste Weise gedemütigt oder herablassend behandelt werden. Und ja, ich werde auch manchmal wütend, wenn mir eine Mitschwester beim Abendessen das letzte Stück Fleischwurst vor der Nase wegschnappt – aber daran versuche ich zu arbeiten.
Das Tröstliche für mich ist: Auch Jesus war wütend! Von allen vier Evangelisten ist uns die Szene überliefert, wie er wutentbrannt im Tempel die Tische der Geldwechsler umstößt und alle Händler und Käufer aus den heiligen Hallen vertreibt. „Mein Haus soll ein Haus des Gebetes genannt werden, ihr aber macht daraus eine Räuberhöhle!“24, wirft er der verdutzten Menge entgegen. Mehrere Stellen im Evangelium lassen erahnen, dass Jesus keineswegs der immer Ausgeglichene und „Durch-nichts-aus-der-Ruhe-zu-Bringende“ war.
Der rote Faden in dieser Reihe von Beispielen ist, dass die Wut in allen Fällen eine Reaktion darauf ist, dass etwas im wahrsten Sinne des Wortes nicht in Ordnung ist. Vielleicht ist die Wut sogar die ursprünglichste Reaktion auf eine Störung in der Schöpfungsordnung. Es ist nicht in Ordnung, wenn Menschen gedemütigt werden, es ist nicht in Ordnung, wenn die Menschenwürde mit Füßen getreten wird, es ist nicht in Ordnung, wenn alternative Fakten als Wahrheit verkauft werden, und es ist – im Beispiel von Jesus – auch nicht in Ordnung, wenn ein heiliger Raum zu Geschäftszwecken missbraucht wird. Sei es ein Mangel an Weitblick, an Würdigung, an Zivilcourage, an Liebe und Zuwendung oder auch einfach an Aufmerksamkeit – immer ist es eine Fehlbilanz zwischen der Wirklichkeit und unseren tiefsten Bedürfnissen, die uns wütend werden lässt.
In seinem bemerkenswerten Buch „Wut ist ein Geschenk“ beschreibt Arun Gandhi, der Enkel des großen Mahatma Gandhi, wie sein Großvater ihn gelehrt hat, seine ehemals unkontrollierten Wutattacken fruchtbar zu machen. Er vergleicht darin die Wut mit Elektrizität: Unkontrolliert ausgelebt kann sie tödlich sein, aber in richtige Bahnen geleitet bringt sie Licht und Wärme. Oft ist es eine gesunde Wut, die Menschen ins Handeln und in dieser Welt wichtige Veränderungen auf den Weg bringt. Und so bin ich der Überzeugung, dass wir unsere Kraft viel weniger dafür aufwenden sollten, die Wut zu unterdrücken, als sie zu kultivieren, auf das Leben hin auszurichten und dafür zu nutzen, dass Gerechtigkeit in dieser Welt mehr wird als eine leere Worthülse. Also: Nur Mut zur Wut!25
KRISEN
„Probleme sind dornige Chancen.“ Diese Kalenderblattweisheit ging vor einiger Zeit durch die sozialen Medien. Nicht, weil diese vier Worte so wahnsinnig tiefsinnig wären, sondern weil sie aus einem 20 Jahre alten Videoclip stammen, in dem ein Abiturient namens Christian Lindner eine Spur zu weltmännisch und motiviert von seiner Beratungs- und PR-Firma erzählt und unter anderem genau diese vier Worte...