Vorwort
In jedem Jahr starten 150 Millionen Forschungsreisen in die Welt, nahezu unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit. Auf jeder dieser Expeditionen werden fundamentale Fragen zum Universum beantwortet: Wie funktionieren die elementaren physikalischen Gesetze? Was sind die Grundlagen der Logik und der Mathematik? Wie gelingt das soziale Miteinander der Menschen? Wie fühlt es sich an: das Leben? Die Forscher sitzen dabei nicht in den Universitäten und Laboren der Welt. Es sind unsere Babys und kleinen Kinder. Wissenschaftliche Neugier entwickelt sich nämlich nicht erst bei Studierenden im Laufe der Semester. Der Wunsch danach, den Dingen auf den Grund zu gehen und alles verstehen zu wollen, prägt uns vielmehr seit frühester Kindheit, ab dem allerersten Tag.
Dieser unglaublich früh einsetzende Erkenntnisdrang wurde mir mit der Geburt meines ersten Sohnes erst richtig bewusst. Infolgedessen begann ich mich mit all den damit zusammenhängenden Fragen zu beschäftigen: Wie genau lernen Babys eigentlich die Welt verstehen? Wie experimentieren sie? Wie ich herausfand, sind Babys schon ab der Geburt alles andere als der »perfekte Idiot«, wie sie etwas unfein von Jean-Jacques Rousseau bezeichnet wurden. Sie sind tatsächlich eher dem Wissenschaftler ähnlich und erforschen die Welt mithilfe komplexer statistischer und experimenteller Methoden. In dieser Hinsicht könnten wir Erwachsenen uns oftmals ein Beispiel an ihnen nehmen.
Joshua Tenenbaum, der am Massachusetts Institute of Technology in der Computational Cognitive Science Group forscht, ordnet seiner Arbeit eine Fragestellung über: »Wie lernen Babys und kleine Kinder so schnell durch so wenig Daten?« Denn die Entwicklungsforscher untersuchen die Verhaltensweisen unserer kleinsten Mitmenschen auch aus einem bestimmten Grund: Sie können Robotern das Denken beibringen. Das Lernen von Babys gilt als Blaupause für die Weiterentwicklung von Maschinen. Diese gelten erst als intelligent, wenn sie die Lernleistung eines Babys bewältigen.
Bei meinen Recherchen leiteten mich Fragen, die mir immer bewusster wurden, je mehr ich mich mit meinem eigenen Sprössling beschäftigte: Wie ist es, ein Kind zu sein? Was geht im Kopf eines Babys vor, wenn es die Welt entdeckt? Was navigiert den Wissensdrang der kleinen Forscher? Mit welchem Vorwissen kommen wir auf die Welt?
Ich selbst bewege mich heute scheinbar mühelos durch den Alltag und radle gedankenverloren durch die Stadt. Ich weiß, dass mich der Stein des Bürgersteiges dabei trägt, das Wasser des Sees jedoch nicht. Ich vertraue darauf, dass alle Verkehrsteilnehmer die rechte Straßenseite benutzen und fahre daher mit dem Fahrrad ebenfalls rechts. Setzt ein Auto vor der Kreuzung den Blinker nach rechts, werde ich etwas skeptisch und frage mich: Wird der Fahrer wohl an den Schulterblick denken, oder soll ich lieber anhalten?
Es braucht also offensichtlich schon sehr viel Wissen, um einfach nur morgens von zu Hause ins Büro zu kommen. Ich wende dabei Theorien der Physik (auf Asphalt kann man Fahrrad fahren) und der Psychologie (der Autofahrer schaut bestimmt nicht über die Schulter, ich fahre lieber vorsichtig in die Kreuzung hinein) an und ich weiß, dass mein Zuhause noch existiert, wenn ich auch gerade selbst nicht dort bin. Wie habe ich das eigentlich gelernt? Wann werden meine Kinder all das lernen? Wie ist es, all dieses Wissen erst zu erwerben? Gibt es einen Weg für mich als Erwachsenen, das irgendwie nachzuvollziehen? Diese Fragen ließen mich nicht mehr los.
In fast jedem Haushalt mit Kindern gibt es eine Fülle an praktischen Ratgebern, die zu jeder Elternfrage eine Antwort parat haben. Dieses Buch ist dagegen vor allem eines: unpraktisch. An keiner Stelle wird es einen konkreten Tipp geben wie: Tun Sie dies, tun Sie das! Ein guter Vater ist man so, eine gute Mutter macht dieses oder jenes. Für mich als Wissenschaftler ist »unpraktisch« kein negatives Wort. Ganz im Gegenteil. Ich will Wissen erwerben und anderen zugänglich machen, einfach um des Wissens willen – auch ohne konkrete Tipps. Und ich denke, so geht es vielen anderen Eltern auch.
Die wohl wichtigste Erkenntnis meiner Nachforschungen zu diesem Buch war die folgende: Wir sind uns ähnlich, meine Kinder und ich. Wir beide erforschen die Welt mit Neugier, wir entwickeln Theorien und überprüfen diese in manchmal sehr einfachen, häufig aber auch komplexen Experimenten. Das kindliche Gehirn speichert jede Beobachtung ab. Minutiös führt es innerlich Buch über Erfahrung um Erfahrung – so, wie ein Wissenschaftler sein Labortagebuch führt. Wie fühlt sich der Baustein an? Wie schmeckt er? Wie hört es sich an, wenn ich ihn auf den Boden werfe? Warum ist »Au-to« ein Wort, »To-au« aber eher nicht?
Während ich meinem ersten Sohn dabei zusah, wie er sich seine Welt erschloss, erfuhr ich gleichzeitig in meinen Recherchen, wie genau das Lernen bei ihm, und damit der Menschheit, eigentlich funktioniert. Es ergaben sich immer faszinierende Details und Zusammenhänge. In diesem Buch möchte ich Sie daran teilhaben lassen und in die spannende Welt der Entwicklungsforschung entführen, die die unglaublichsten Experimente auf die Beine stellt, um die Erfahrungen der ganz Kleinen nachzuvollziehen. Eines ihrer Ergebnisse ist: In ihrem ersten Lebensjahr führen Babys bereits Experimente durch, die sich vor denen von Galileo Galilei, Isaac Newton oder Sigmund Freud nicht verstecken müssen. Sie lernen sich selbst und die Welt, in der sie leben, mit atemberaubender Geschwindigkeit und Präzision kennen. Innerhalb weniger Monate können sie aus akustischen Signalen die Wünsche und Vorlieben anderer Menschen herauslesen. Sie sind im Stande, akustische und visuelle Signale auszusenden, die von anderen verstanden werden. Aus einem Meer an Information interpretieren Kleinkinder innerhalb kürzester Zeit Dinge wie »Mama ist glücklich«, »Papa hat Hunger« oder »Oma ist müde«. Bereits Momente nach der Geburt, wenn zum ersten Mal Licht ins Auge eines Babys fällt und es die Eltern betrachtet, stellt es seine erste wissenschaftliche Hypothese auf: »Ich bin wie du. Wir gehören zusammen.« Darauf aufbauend folgt ein wahrer Lernmarathon.
Diejenigen, die mit Forschern oder kleinen Kindern zusammenleben, können ein Lied davon singen, dass ihr manchmal zielloses Anhäufen von Wissen das Leben ihrer Mitmenschen nicht unbedingt einfacher macht. So wünscht sich meine Frau beispielsweise, während ich diese Zeilen schreibe, dass ich mich stattdessen endlich bei diversen Kindergärten informiere, wie wir dort einen Platz ergattern können. Ich teile dieses Bedürfnis, aber wichtiger sind mir zunächst andere Fragen: Wenn irgendwann die Menschheit als Spezies aus einem Ur-Exemplar entstanden ist, müssten ja theoretisch alle Menschen auf dieses eine Exemplar zurückgehen? Ob Anthropologen wohl bereits wissen, wer unsere ältesten Verwandten sind? Welcher Ururur(…)großvater oder welche Ururur(…)großmutter ist eigentlich unser/e aller Verwandte/r? Wo hat diese Person gelebt und wie hat sie wohl einen durchschnittlichen Tag verbracht? Ein Abend intensiver Recherche, der zwar ohne Kindergartenplatz, aber dafür mit der Erkenntnis endet, dass es eine mitochondriale Eva1 gibt, also eine Urmutter, von der wir alle abstammen und über deren Lebensumstände wir sogar sehr viel wissen, lässt mich zufrieden einschlafen.
Wissenschaftler wie Kinder prägt die Neugier, etwas wissen zu wollen, obwohl wir noch nicht abschätzen können, wozu es einmal gut sein könnte. Oft ist es so, dass später doch noch etwas »Sinnvolles« dabei herauskommt, völlig unerwartet. In dem AMES Research Center der NASA in Kalifornien steht eine Sammlung nützlicher Gegenstände, die aus der NASA-Forschung resultieren, ohne dass man dies je erwartet hätte. Es ist ein Kuriositätenkabinett, das vom Infrarotfieberthermometer über den Rauchmelder bis zur olympischen Badehose reicht. Ebenso wenig wie die Grundlagenforschung der Wissenschaftler scheint das tägliche Spiel kleiner Kinder für Außenstehende zielgerichtet zu sein. Deshalb kommt uns die kindliche Reaktion auf eine Spielunterbrechung auch oft sehr übertrieben vor. Irgendwo las ich einmal die verzweifelt-komödiantische Aussage einer jungen Mutter: »Bevor ich Kinder hatte, wusste ich nicht, dass man den Tag eines Menschen scheinbar völlig ruinieren kann, weil man diesen bittet, eine Hose anzuziehen.« Was wir als Eltern nicht wissen, ist, welches bahnbrechende Experiment wir mit dieser profanen Bitte vielleicht soeben unterbrachen.
Aus meinem gesammelten, zunächst »unpraktischen« Wissen erwuchs mir dann letztlich doch eine sehr praktische Einsicht: Ich kann als Vater getrost gelassener sein und auf den beständigen Erkenntnisfortschritt meiner Kinder vertrauen. Wir sind als Spezies schon sehr weit gekommen, und der Staffelstab wird nun einfach weitergereicht. Unser Nachwuchs steht auf den genetischen und kulturellen Schultern der gesamten Menschheit. Sie sind dafür gemacht, die Welt zu erforschen und zu verstehen, aus ureigenem Antrieb. Ich muss mir also keine Sorgen darum machen. Meine Aufgabe ist es nicht, mein Kind zu formen wie ein Zimmermann ein Stück Holz formt. Die Entwicklungspsychologin Alison Gopnik definierte nach ihrer jahrzehntelangen Forschungskarriere die Rolle der Eltern neu: Wir sollten uns als Gärtner sehen, die das Pflänzchen vor allem am Leben halten müssten, es gedeihe dann von ganz alleine.2 Und in der Tat: Wenn man die Entwicklung von Babys als Forschungsreise eines selbstmotivierten, autonomen Lebewesens ansieht, erhält man einen ganz neuen Blick auf sie. (Fast) alles, was ein Baby tut, dient dem Erlernen der Welt oder der Tatsache, dass es auch morgen noch lernen will und...