KAPITEL 2
»Vielfalt ist unsere Stärke«
Mephisto weiß Bescheid: »Grau« sei, »teurer Freund, (...) alle Theorie und grün des Lebens goldner Baum.« Vielleicht auch aufgrund dieser Aussage lässt der angesprochene Herr, ein studierter Universitätstheologe namens Doktor Faust, sich zu einer Wette hinreißen und einer Reise durch erst die kleine, dann die große Welt. Denn wo, wenn nicht in einer dem Stubengelehrten so fernen Lebenswelt, muss sich echte Erquickung finden lassen, in einer bunten Welt, in der das Goldne auch grün sein kann und das Grüne golden zu schimmern verspricht? Alles muss diesem deutschen Nationalgrübler, wie ihn Goethe auf die Bühne wuchtete, als Verheißung erscheinen, ist es nur endlich, endlich bunt.
Was nämlich lockt generell im Vielfarbigen und übt besonders auf den Bücherwurm, Büchernarren einen unwiderstehlichen Reiz aus? »Bunte Möglichkeiten« (Franz Grillparzer) locken dort, alles scheint möglich und nur eine je neue Variation endloser Veränderung zu sein, wenn die Dinge keinen eindeutigen, keinen ein für allemal festgestellten Farbwert haben, wenn »die schönsten blauen, grünen und rötlichen Linien zum Vorschein« kommen auf einem eben noch grauen, schwarzen oder opaken Stein. Auf dem »Taufstein« etwa, einem von vielen »Bunten Steinen«, die Adalbert Stifter in seinem gleichnamigen Erzählungsband mit dem ganz unterschiedlichen Schicksal von Menschen verknüpft. Besagter Taufstein, »so fein und weich (…), dass man ihn mit einem Messer schneiden kann«, ein Tuffstein also, muss nur mit einem »zarten Firnisse« angestrichen werden, damit sich blaue, grüne und rote Linien offenbaren. Das Unwahrscheinliche, das Bunte wird dann Ereignis. Aus farbigem Abglanz wird Leben.
Auch das eigene Dasein, wusste Goethe mehr noch als Stifter, gelangt erst dann auf die Höhe seiner Möglichkeiten, wenn es die ganze Vielfalt, die ihm innewohnt, entbindet. Dass die Abwechslung erfreut – variatio delectat – gilt eben nicht nur für die schöne Natur, das schöne Bild, sondern auch für die »bunten Möglichkeiten«, die dem Individuum offenstehen. Franz Grillparzer lässt in seinem Schauspiel vom »Bruderzwist im Hause Habsburg« Kaiser Rudolf II. davon sprechen, freilich in kritischer Absicht. Rudolf II. ist des Regierens müde, ergeht sich am Vorabend des Dreißigjährigen Kriegs in düsteren Zukunftsszenarien und erwartet schicksalsergeben sein Ende. Der Bruder, Erzherzog Matthias, wird die Regentschaft übernehmen.
»Matthias herrsche denn«, sagt Rudolf kurz vor seinem Tod auf der Prager Burg, dem Hradschin, »er lerne fühlen, dass Tadeln leicht und Besserwissen trüglich, da es mit bunten Möglichkeiten spielt; doch handeln schwer, als eine Wirklichkeit, die stimmen soll zum Kreis der Wirklichkeiten.« Der konservative Rudolf verortet die »bunten Möglichkeiten« im Reich des folgenlosen Redens, nicht im »Kreis der Wirklichkeiten«. Wer handelt, der muss entscheiden und aus der Fülle der Möglichkeiten jene eine richtige wählen, die stimmt. Rudolf II., ließe sich sagen, und damit auch Grillparzer selbst wird die neue Zeit zu bunt. Er vermisst Klarheit und Prinzipientreue im »Spiel der buntbewegten Welt«, »dass deine Väter glaubten was du selbst, und deine Kinder künftig treten gleiche Pfade«.
Insofern ist der Gegensatz zum Vielerlei des Bunten nicht unbedingt das Einfältige, sondern das Einfache. Ganz in diesem Sinn konnte in der Goethezeit Johann Joachim Winckelmann in Ansehung der berühmten Laokoon-Gruppe die bekannte Formel prägen von »edler Einfalt und stiller Größe«. Damit war das klassizistische Schönheitsideal benannt. Menschliche Größe wurzelte nicht in der Darstellung formenflüchtiger, formsprengender Ekstase, sondern im Gebundenen und damit in der Stille. Das Edle fand sich im Einfachen, nicht, wie zuvor in Rokoko, Barock, Manierismus, im Verspielten oder Grellen. Tischbein statt Caravaggio.
Das Vielfache statt des Einfachen ist heute Realität, in der Kunst wie im Leben. Anders kann es nicht sein. Spätmoderne Gesellschaften, in denen das Recht herrscht und das Kapital flottiert, sind heterogen. Vielfältige Lebensentwürfe zeugen von den Freiheiten im Rechtsstaat. Das Uniforme kommt letztlich in Uniformen daher und könnte ohne teils subtilen, teils brachialen Zwang nicht durchgesetzt werden. Insofern ist es gut, dass da viele Blumen blühen und jeder sein eigener Gärtner ist.
Die Frage freilich, auf welchen »buntbewegten« Pfaden aus dem Sein ein Sollen werden kann, ist nicht trivial. Ist heute ein ursprünglich ästhetisches Phänomen bereits soziale Norm geworden, ein schönes Sein gar kategorischer Imperativ? Stoßen sich die Begriffe da nicht hart im Raum und geht manches über Bord, wenn umstandslos behauptet wird, »unsere Identität« heiße Vielfalt, und Vielfalt sei ein Projekt, das es unbedingt zu unterstützen gelte? Taugt »Seid bunt!« zur Losung für eine Gesellschaft?
Das Individuum ist das Unteilbare. Darum kann der Mensch nur eine Identität haben. Wenn die Polizei beispielsweise einem ungepflegten Gossenpoeten nachsetzt, weiß dieser, worauf es hinausläuft: »›Die wollen immer nur eine Identität.‹ Das Wort ›Identität‹ sprach er aus, als zitiere er es. Er blickte Friedrich Keller an und sagte: ›Wollen Sie auch eine Identität?‹ ›Ich? Wie bitte?‹ (…) ›Sie sind ja ganz schön nervös. Haben Sie etwa keine?‹«. So steht es in Steven Uhlys Roman »Den blinden Göttern« von 2018 und ist humorvoll gemeint. Außerliterarisch müsste verzweifeln, wer über wechselnde Identitäten oder über keine verfügte. Es sei denn, es handelte sich um das Opfer eines Identitätsdiebstahls oder um einen Identitätsschwindler.
Ein Asylbewerber aus dem Sudan wurde im Februar 2017 zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt, weil er sich durch »sieben verschiedene Identitäten« über 20.000 Euro Sozialleistungen erschlichen hatte; ein Landsmann musste im Februar 2018 für zwei Jahre und acht Monate ins Gefängnis, nachdem er mit »elf Identitäten« rund 70.000 Euro vom deutschen Staat ergaunert hatte – »die wahre Identität hat das Gericht nicht eindeutig klären können« –, und der tunesische Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz hatte sogar »14 verschiedene Identitäten« genutzt, ehe er seinen Hass auf den Westen durch einen Massenmord vollendete. Sie alle sind keine Helden einer bunten Multioptionengesellschaft, sondern Verbrecher.
Aber kann vielleicht wenn schon nicht das Ich, so wenigstens das Wir Vielfalt zur identifikatorischen Leitidee erklären? »Unsere Identität heißt Vielfalt«, verkündete das Dresdner Deutsche Hygiene-Museum im August 2018, und es war sehr vermutlich nicht nur die lokale museale Identität gemeint, sondern die deutsche. Der Veranstaltungstag mit »freiem Eintritt in unsere Rassismus-Ausstellung«, Breakdance und Musik der multikulturellen Brass-Band »Banda Internationale« verstand sich als Gegengewicht zu einer für den 25. August angekündigten Demonstration der »Identitären Bewegung« unter dem Motto »Europa Nostra«. Deren monokulturelles Identitätsprogramm sollte gekontert werden.
Welch weitreichende praktische Folgen das Vielfaltskonzept haben kann, belegt die Unterstützung von »Banda Internationale« für die Aktion »Seebrücke«, die »humane Migrationsmöglichkeiten« fordert und den Claim prägte »Grenzenlose Solidarität statt tödliche (sic!) Abschottung«. Vielfalt und Solidarität sind begrifflich ebenso eng verzahnt wie Vielfalt und Offenheit. Hierdurch ergeben sich neue gedankliche Probleme. Kann es etwa eine »grenzenlose Solidarität« geben, Solidarität mit allen und jeden überall? Wir werden davon noch hören, im achten Kapitel.
Zunächst aber: Was ist unter politischen Bedingungen mit sozialer Vielfalt als Leitidee gemeint? Eine Rückübersetzung aus der Wirtschaftssoziologie wird auf die Gesamtgesellschaft übertragen und wandelt so ihren Charakter vom Phänomen zum Appell. »Diversity« oder »Diversität« mit Wurzeln in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung meint eine »Grundannahme der neue Arbeitswelt: Die steigende Komplexität auf der Welt lässt sich nur mit steigender Vielfalt in den Unternehmen begegnen. Das belegt eine Untersuchung der Unternehmensberatung McKinsey. Die Autoren untersuchten dafür 1007 Unternehmen – mit dem Ergebnis, dass Firmen mit einem hohen Frauen- und Ausländeranteil im Top-Management mit größerer Wahrscheinlichkeit überdurchschnittlich profitabel sind. Was in der Theorie einfach klingt, ist in der Praxis schwer umzusetzen. Es kann harte Arbeit sein, ein Team mit vielen unterschiedlichen Erfahrungen und Hintergründen zu führen – inklusive Missverständnissen, Konflikten und Diskussionen. Um diese Aufgabe zu meistern, müssen auch die Chefs neu denken.« So erklärt es das Fachblatt »Wirtschaftswoche« in seinem »Glossar des neuen Arbeitens«.
Wie wohlbegründet der Verweis auf Missverständnisse und Konflikte ist, illustriert ein kurzer Austausch von These und Antithese beim Kurznachrichtendienst Twitter. Niddal Salah-Eldin, Leiterin »Digital Innovation« in der Chefredaktion der »Welt«, schrieb dort Ende August 2018 zu Recht: »Vielfalt ist ein von vielen immer noch völlig unterschätzter entscheidender Wettbewerbs- und Innovationsfaktor. Bei #Diversity geht es aber um mehr, als Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammenzubringen. Es geht auch um Unterschiede im Denken.« Mit diesem Tweet verwies sie auf den Meinungsbeitrag »Innovation braucht Vielfalt« von Günter Gressler aus dem Wirtschaftsmagazin »Bilanz«, in dem es hieß: »Eine Studie der Boston Consulting Group und der TU München zeigt einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Vielfalt in einem Unternehmen auf der einen Seite und...