Einleitung
Der Mensch, das moralische Tier
Motivation
Konservative Landbewohner* mögen Hunde, moderne Städter lieber Katzen. Wer im Schlafzimmer bügelt, wählt eher rechts, und wer sich nackt auf dem Sofa lümmelt, eher links. In diesem Buch geht es um Erkenntnisse wie diese aus weltweiten Untersuchungen: inwiefern Kleidung unsere politische Gesinnung widerspiegelt, warum Menschen in Ländern, in denen es viele Parasiten gibt, streng religiös leben und warum mit der Globalisierung das Zeitalter der Neophilie angebrochen ist, die Verehrung des Neuen. Es geht um die alten Stämme, die durch Herkunft und Tradition bestimmt sind, und die neuen digitalen Stämme, die eine gemeinsame Vision von der Zukunft verbindet. Ich zeige, warum Angst nicht fremdenfeindlich macht und wie Persönlichkeitstests an Kindern verraten, welche politischen Vorlieben sie als Erwachsene haben werden. In all den Fällen wird deutlich: Unsere Emotionen prägen unsere Moral und damit unsere politischen Präferenzen.
Die Idee zu diesem Buch entstand, nachdem mich, wie viele andere, zwei Ereignisse politisch aufgerüttelt hatten, die mich intensiver über Polarisierung in der Politik und den sozialen Medien nachdenken ließen.
Das erste war die Finanzkrise 2008. Sie hat Millionen in den Ruin getrieben. Viele Staaten haben mit Steuergeldern Banken gerettet, doch die Verantwortlichen wurden nicht zur Rechenschaft gezogen. Die Geschehnisse ließen mich ratlos zurück.
Das zweite Ereignis war die Flüchtlingssituation im Sommer 2015. Tausende ertranken im Meer, und keiner hat ihnen geholfen. Über eine Millionen Migranten kamen nach Deutschland, und niemand hatte einen Plan, ob und wie man sie integrieren kann. Durch ganz Europa ging ein Rechtsruck, und in den USA kam kurz darauf Donald Trump an die Macht.
Die Welt ist in Unruhe. Besonders in den sozialen Netzen eskalieren die Diskussionen. Nur wenige sind bereit, ihren selbst gewählten Gegnern offen und neutral zuzuhören und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Selbst Wissenschaftler und Journalisten stürzen sich vorschnell in überhitzte Debatten. Die Angst vor den Rechtspopulisten lähmt seitdem die progressiven (linksliberalen) wie die konservativen Parteien in Deutschland. Drängende Themen wie der Klimawandel oder globale Gerechtigkeit sind in den Hintergrund getreten. Politikern, die Probleme durchdenken wollen, wird Tatenlosigkeit vorgeworfen.
In mir und vielen Kollegen hat das die Überzeugung verstärkt, dass auch Philosophen Farbe bekennen müssen. Seit 2015 entstanden so Konferenzen zum Populismus, Initiativen für die Demokratie und Ratgeber zum Umgang mit Fake News. Wenn sich der Weltgeist beim Erfolg autoritärer Politiker etwas gedacht hat, dann vielleicht, dass Wahrheit, Freiheit und Demokratie jetzt keine Selbstverständlichkeiten mehr sind. Sie sind mehr als die angenehme Hintergrundmusik, deren Verschwinden erst ins Bewusstsein tritt, wenn der Plattenspieler leerläuft. Spätestens am Rechtsruck zeigt sich, dass der zivilisatorische Fortschritt seit Ende des Zweiten Weltkrieges kein Automatismus ist, sondern dass wir die Werte der freien Gesellschaft aktiv verteidigen müssen.
Die Grundidee
Beim Thema »Polarisierung« drängte sich mir vor allem eine Frage auf: Wie kann man den Rechtsruck erklären? Die Wähler der Rechtsparteien in Europa sind ökonomisch abgehängt und haben Abstiegsängste, sagen einige Politologen und Soziologen.1 Das ist wenig überzeugend, wie Untersuchungen zeigen. Ein erheblicher Teil der Rechtswähler ist nämlich gebildet und gut situiert. Außerdem macht Angst allein Menschen nicht fremdenfeindlich. Auch die Diagnose »Systemkritiker« trifft die Sache nicht, denn als Systemkritiker könnte man auch linke Parteien wählen.
Nicht nur der Rechtsruck, sondern auch gesellschaftliche Phänomene wie der Individualismus akademischer Großstädter oder die Motivation radikaler Impfgegner erscheinen in einem neuen Licht, wenn man aus dem Blickwinkel der Moralpsychologie fragt: Was passiert in uns, wenn wir moralisch und politisch denken, entscheiden und handeln?
Wer sich mit Moralpsychologie beschäftigt, hat ständig Aha-Erlebnisse, besonders bei radikalen Gedankenexperimenten, die einen lange nicht loslassen, wie etwa »Dürfen unfruchtbare erwachsene Geschwister einvernehmlichen Sex haben?« oder »Darf man einen Unschuldigen töten, um fünf andere zu retten?«.2 Versuchspersonen antworten innerhalb einer Fünftelsekunde, so schnell, wie ein Doppelklick auf dem Touchpad dauert.3 Viele Probanden urteilen spontan und dennoch mit starker Gewissheit. Sie sagen: »Beides fühlt sich falsch an.« Doch kaum jemand kann seine Intuition rational mit moralischen Prinzipien begründen.4 Auch wenn die Versuchspersonen das gar nicht bemerken, löst der Fall der Geschwister bei ihnen Unbehagen und die Frage nach dem Töten Angst aus, wie Versuche zeigen.
Die Grundidee dieses Buches lautet daher: Emotionen prägen unsere Moral und damit auch die Politik. Anhand unserer moralischen Emotionen kann man nicht nur den Rechtsruck besser verstehen, sondern auch, warum sich Stadtbewohner und junge Menschen nach Freiheit, Vielfalt und Offenheit sehnen und Ältere und Landbewohner nach Struktur und Tradition, kurz: warum die Welt polarisiert ist.
Inzwischen wurden Hunderte von Studien zu moralischen und politischen Emotionen mit mehr als einer halben Million Versuchspersonen in allen Kulturkreisen der Welt durchgeführt. Aus den Ergebnissen dieser Forschung entspringen die vier Thesen dieses Buches.
Erstens: Moral ist emotional.
Unsere moralischen und damit auch politischen Werte stammen selten aus edlen Prinzipien, die wir aus der Vernunft herleiten, sondern zum Großteil aus Emotionen wie Angst, Zorn, Ekel, Scham und Schuld. Darum lässt uns Moral nicht kalt. Allerdings zählen zu den moralischen Emotionen nicht nur irrationale Ängste oder die Wut der aufgewiegelten Masse, sondern auch das Mitgefühl mit Schwachen oder die Hemmung, anderen zu schaden. Unsere Gefühle bewerten automatisch unsere Handlungen, indem sie sinngemäß sagen: »Das ist falsch« oder »Das ist richtig«, »Das sollst Du tun« oder »Das sollst Du lassen«.
Zweitens: Moral ist biologisch.
Wer den Menschen verstehen will, darf nicht nur auf Einkommen, Bildungsstand und Schichtzugehörigkeit achten oder auf das, was er sagt. Wir sind nicht nur Kulturwesen, sondern ebenso Naturwesen. Der Mensch hat einen Verstand und ist dennoch Tier geblieben. Er ist anfällig für Stammesdenken, empfänglich für Hierarchien, giert nach Anerkennung und ist ausgestattet mit einer angeborenen Neigung, Angst vor dem Neuen und Unbehagen gegenüber dem Fremden zu empfinden. Diese Neigungen äußern die wenigsten unmittelbar mit Worten, sondern durch ihre Taten, ohne sich dessen immer bewusst zu sein.
Drittens: Moral polarisiert.
Weltweit klafft zwischen Modernisten und Traditionalisten, zwischen Progressiven und Konservativen ein Riss, der größer wird. Es geht dabei um unsere moralische Identität, um die grundlegende Frage, welche Werte und Normen ein gutes Leben und eine gute Gesellschaft ausmachen. Der Riss zeigt sich nicht nur in der Politik, er geht durch die ganze Gesellschaft und betrifft uns alle im Alltag. Die neuen Bruchlinien verlaufen zwischen Alt und Jung, Land und Stadt, Tatort und Netflix, Auto und Fahrrad, Kaufhaus und Amazon, Ehe und Polyamorie, Nationalismus und Internationalismus, zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Viertens: Moral ist eine Entscheidung.
Auch wenn unsere Werte oft archaischen Instinkten entspringen, sind wir unseren Emotionen nicht hilflos ausgeliefert, sonst gäbe es keinen moralischen Fortschritt, und wir würden immer noch so denken und handeln wie in der Steinzeit. Die Evolution hat uns mit der Fähigkeit zur Selbsterkenntnis ausgestattet, mit der wir spontane Impulse überdenken und aktiv kontrollieren können. Die gute Nachricht lautet: Wir sind grundsätzlich autonom und können unsere Moral und unsere politische Gesinnung überdenken. Die schlechte: Wir machen von unserer Selbstbestimmung zu selten Gebrauch.
Eine Linse für neue Einblicke
Wer in Kopenhagen groß wurde, hält andere Werte für unumstößlich als jemand, der in einem Dorf in Afghanistan aufwuchs. Die Kultur prägt unsere Moral. Das ist eine Plattitüde und gleichzeitig nur die halbe Wahrheit. Denn wenn Erziehung und Kultur uns zu moralischen Wesen machen, stellt sich die Frage: Warum haben wir in unserem Kulturkreis nicht alle ungefähr dieselben Werte? Warum empfanden einige im Jahr 2015 Mitgefühl mit den Flüchtlingen und erlebten ihre Ankunft als Bereicherung, während andere die Fremden als Bedrohung sahen und ihnen mit Verachtung begegneten?
Hier spielt nicht Angst die Hauptrolle, wie viele annehmen, sondern eine andere Emotion: Ekel.5 Das ist eine der vielen Überraschungen aus der Forschung. Ekel kann eine moralische Emotion sein, die den Umgang mit Fremden bestimmt. Im Deutschen trifft das Wort »Abscheu« diesen moralisch relevanten Ekel am besten.
Eine Vielzahl an Studien zeigt: Je stärker sich Menschen ekeln, desto traditioneller und konservativer sind sie, und desto »unreiner« und »unnatürlicher« erscheint ihnen alles, was von der Normvorstellung von Leben, Tod und Sex abweicht: Homosexualität, Prostitution, Abtreibung oder Sterbehilfe. Man kann anhand der Ekelneigung weltweit politische Präferenzen zuverlässiger vorhersagen als anhand klassischer Merkmale wie Bildungsstand oder Einkommen.6 In archaischen Zeiten war Ekel vor...