Fleischpflanzerl und Kartoffelsalat – Durchkämpfen in der neuen Heimat
Für unsere Familie begann in München nun ein neues Leben, doch bei aller Euphorie: Der Anfang in der Wahlheimat war alles andere als leicht. Wir Neuankömmlinge sprachen kein Wort Deutsch. Am Morgen nach unserer Ankunft nahm uns unsere älteste Schwester beiseite und schärfte uns ein, vorsichtig zu sein, wenn wir das Haus verließen. Wir sollten nicht alleine auf die Straße gehen, weil wir uns nicht verständigen konnten und uns nicht auskannten. Das machte uns Angst, und ich erinnere mich, dass wir die ersten paar Tage gar nicht aus dem Haus gingen. Wir fürchteten, dass uns in dieser unbekannten Welt etwas passieren könnte. Zum Glück gab es einen Nachbarsjungen, Cetin, ein Verwandter von uns. Er war in München geboren und sprach perfekt Deutsch. Er führte uns auf unseren ersten Erkundungsgängen und übersetzte für uns. Bei den ersten Einkäufen in deutschen Supermärkten fühlten wir uns völlig verloren und orientierungslos, aber Cetin erklärte alles – eine große Hilfe. Und dann kam schon bald der erste Schultag in der neuen Heimat. Unsere Schwester hatte uns angemeldet, und Anfang Januar ging es los.
Es war ein echter Kulturschock, dieser Wechsel von der Grundschule in Tunceli in die Schwindschule in Schwabing. Ich kam in die fünfte Klasse, eine sogenannte Übergangsklasse für Kinder mit Migrationshintergrund. Wir hatten eine tolle Lehrerin, Frau Koch. Die 28 Schüler kamen aus dem Iran, aus der Türkei, aus dem damaligen Jugoslawien und aus Ungarn, und gemeinsam lernten wir nach und nach die neue Sprache, aber auch Mathematik oder Erdkunde auf Deutsch. Ich weiß gar nicht mehr, wie das überhaupt ging, weil wir anfangs wirklich kein Wort verstanden – aber nach und nach eigneten wir uns die Sprache an. Es war auch auf dem Schulhof nicht einfach, denn wir hatten wenig Kontakt mit den deutschen Schülern. Die ausländischen Kinder blieben unter sich, und es gab auch öfter Reibereien zwischen den beiden Gruppen. Ab der siebten Klasse besuchte ich dann eine gemischte Klasse mit deutschen Kindern, und jetzt kam noch Englisch auf den Lehrplan – viel auf einmal. Zu Hause sprachen wir nur Kurdisch, in der Grundschule in Tunceli hatten wir Türkisch gelernt – und in München kamen mit Deutsch und Englisch gleich zwei weitere Sprachen dazu.
Was es für uns noch schwieriger machte: Zu Hause hatten wir niemanden, der uns bei den Schularbeiten hätte helfen können. Wir wurden nicht wie andere Schüler gefördert. Meine Mutter sprach selbst kein Deutsch, mein Vater nur gebrochen, ein typisches «Ausländerdeutsch». Meine ältere Schwester war schon weiter, aber sie musste arbeiten und konnte sich nicht um uns kümmern. Auch in dieser großen, unbekannten Stadt waren wir wieder uns selbst überlassen. Meine Mutter hatte mit dem Haushalt viel zu tun; zu Anfang besaßen wir noch keine Waschmaschine, sie wusch alles mit der Hand – das Geld war eben immer knapp. Nach einem Jahr kaufte mein Vater eine Waschmaschine, und darüber war sie sehr, sehr glücklich. Meine Mutter legte immer viel Wert darauf, dass wir Kinder frisch gewaschen und ordentlich gekleidet zur Schule gingen, auch die Wohnung war immer blitzblank; das war ihr ganzer Stolz.
Als Zwölfjähriger mit Cousin Cetin
Ich war zwölf Jahre alt, als ich in die siebte Klasse kam; jetzt waren die Ansprüche natürlich höher, und ich merkte schnell, wie viele Schwierigkeiten ich noch hatte, vor allem, was das Deutsche anging. Wenn es darum ging, einen Aufsatz zu schreiben, war ich ratlos, und auch die Grammatik beherrschte ich nicht richtig. Trotzdem schlug ich mich irgendwie durch und weiß heute nicht mehr so recht, wie das gelang. Ich war nicht der beste Schüler, aber auch nicht der schlechteste, eher Mittelmaß. Mein Ziel war, nicht sitzenzubleiben. Meine Note in Deutsch war alles andere als gut, aber ich bemühte mich, das in den anderen Fächern auszugleichen. Ich glaube, die Lehrer hatten es auch nicht immer leicht mit uns. Ich wollte natürlich meinen Abschluss machen, aber das Lernen lag mir einfach nicht – ich war eher der Macher und wollte lieber etwas Praktisches tun.
In der achten Klasse kam der Hauswirtschaftsunterricht dazu; alle zwei Wochen durften wir kochen, und ich stellte fest, dass ich daran richtig Spaß hatte. Auch zu Hause, wenn meine Mutter kochte, schaute ich ihr immer gerne zu und packte mit an. Am Küchentisch sah ich die Linsen oder Kichererbsen durch, ob Steine darunter waren oder etwas Angefaultes. Und dann griff sozusagen das Schicksal ein: Von einem auf den anderen Tag musste ich für die ganze Familie kochen. Meine Mutter war mit 45 Jahren noch einmal schwanger geworden. Uns halbwüchsigen Kindern war das furchtbar peinlich – in dem Alter! Wir drängten sie sogar, das Kind abzutreiben, aber meine Mutter entschied sich anders. Es war natürlich eine Risikoschwangerschaft, aber die Fruchtwasseruntersuchung war ohne Befund, und die Ärzte sagten, sie könne das Kind bekommen, es sei alles in Ordnung. Die ganze Schwangerschaft hindurch begleitete ich meine Mutter nun zu allen Untersuchungen und übersetzte, weil sie nur Kurdisch sprach, und eines Tages sagte der Arzt, sie müsse gleich im Krankenhaus bleiben, das Baby käme bald. Ich fuhr mit der Straßenbahn nach Hause, um ein paar Sachen für sie zu holen, ihre Tasche stand schon fertig gepackt bereit. Als ich zurück in die Klinik kam, war mein Bruder Can bereits auf der Welt. Meine Mutter blieb eine Woche im Krankenhaus, und wie selbstverständlich übernahm ich zu Hause das Kochen.
Mein Vater kam gegen 16 Uhr nach Hause, also stellte ich mich nach der Schule in die Küche und sorgte dafür, dass etwas Warmes zu essen auf dem Tisch stand. Besonders gerne kochte ich Gulasch, dazu Reis und Salat. Das Fleisch röstete ich an, schnitt ein paar Zwiebeln in Ringe, gab etwas Tomatenmark dazu, das Ganze füllte ich mit Wasser auf und ließ es drei, vier Stunden vor sich hin köcheln. Manchmal gab ich auch Bohnen mit zum Fleisch oder Kichererbsen, je nachdem, was da war. Das war natürlich keine große Kochkunst, aber mir machte es Spaß, und alle freuten sich. Wir aßen damals viel Fleisch, weil mein Vater der Meinung war, eine Mahlzeit ohne Fleisch sei kein richtiges Essen. Alle drei bis vier Monate schlachteten wir ein Tier, und die Schlachttage waren für uns Kinder aufregend: Wir fuhren aufs Land zu einem Bauern, kauften dort ein Schaf oder ein Lamm, und mein Vater schlachtete es gleich vor Ort. Wir zerlegten das Tier in grobe Teile, packten es ins Auto, und zu Hause wurde dann alles portioniert. Meistens teilten wir uns ein Tier mit den Nachbarn; so war immer Fleisch im Haus, und es war viel billiger, als wenn wir es im Supermarkt gekauft hätten.
Mein erstes Lammragout
Als ich mit zwölf Jahren begann, zu Hause für die Familie zu kochen, war dieses Lammrezept meiner Mutter eines meiner Lieblingsgerichte. Dazu servierte sie typisch türkischen Pilawreis, der für die Optik mit Sehriye (kleinen reisförmigen Teigwaren) angereichert wird. Sehriye findet man in orientalischen Lebensmittelläden oder online.
1 kg Lammgulasch, am besten aus der Schulter
3 Zwiebeln, gewürfelt
2 Knoblauchzehen, gewürfelt
Tomatenmark
1 Prise Zimt
2 EL Rosinen
2–3 Kartoffeln
300 g Rundkornreis
2 EL Sehriye
In einem großen Topf Wasser zum Kochen bringen, etwas salzen und das Lammfleisch darin etwa eine Stunde vor sich hin köcheln lassen, dann das Fleisch herausnehmen und die dabei entstandene Brühe beiseitestellen (sie kann für andere Gerichte verwendet werden). Zwiebel und Knoblauch in Butter anschwitzen, etwas Tomatenmark dazugeben und das gekochte Fleisch darin anbraten. 1 Prise Zimt und die Rosinen dazugeben und das Ganze mit Lammfond auffüllen, sodass das Fleisch gut bedeckt ist. Mit geschlossenem Deckel auf kleiner Flamme köcheln lassen. Später den Deckel abnehmen, die Brühe leicht einreduzieren und zur Bindung der Soße zwei bis drei rohe Kartoffeln hineinreiben.
Für den Pilawreis die Sehriye in Butter anschwitzen, bis sie leicht bräunen. Den Reis dazugeben und kurz mit braten. Dann mit Wasser auffüllen (es soll ca. 1 cm über dem Reis stehen). Den Reis mit geschlossenem Deckel und bei kleiner Flamme ca. 20 bis 30 Minuten köcheln, bis das Wasser komplett aufgesogen ist.
In dieser Zeit, als ich notgedrungen zu Hause kochte, stellte ich immer deutlicher fest: Das macht mir wirklich Spaß. Und weil wir auch in der Schule kochten, wurde es für mich zum Thema. In der Schule kochten wir Gerichte, die ich nicht kannte, Spaghetti bolognese oder Lasagne. Und natürlich Fleischpflanzerl – so nennt man in Bayern Frikadellen. Mir waren die Gerichte zwar neu, aber ich merkte rasch, dass ich zu den Lebensmitteln einen ganz anderen Bezug hatte, als meine Klassenkameraden, weil ich auf einer Art Bauernhof aufgewachsen war. Wenn wir zum Beispiel Gurkensalat machten, fiel mir auf, dass die Gurken, die in holländischen Treibhäusern gewachsen waren, viel weniger Geschmack hatten als die, die ich aus Pageou kannte. In der neunten Klasse hatten wir dann jede Woche Hauswirtschaftskunde, und ich war in meinem Element. Trotzdem wäre ich damals nicht im Traum auf die Idee gekommen, Koch zu werden. Ich wusste nicht einmal, dass dieser Beruf...