Neulich ist es wieder passiert. Es war völlig anders als sonst. Es war schlimm, sehr schlimm. Diesmal war es kein einzelnes Wort, das mir nicht über die Lippen wollte; kein abwesendes Adjektiv, kein verschwundenes Verb. Ich bin nicht einfach nur vom Sofa aufgestanden, in Hausschuhen in die Küche geschlurft und mit leeren Händen zurückgekehrt, weil ich die Tasse Tee vergessen hatte, die ich mir gerade eingeschenkt hatte. Ich bin auch nicht eilig die Treppe hochgelaufen, nur um oben auf dem Absatz stehen zu bleiben, weil mir um nichts in der Welt einfiel, was ich im ersten Stock eigentlich gewollt hatte.
Diesmal war es absolut anders.
Diesmal war alles völlig leer.
Ein
großes
dunkles
schwarzes
Loch.
Und das Schlimmste: Als ich dich am dringendsten brauchte, warst du verschwunden.
Ich jogge mit einem Gefühl des Unbehagens, das ich einfach nicht zu fassen kriege, den Uferweg entlang. Es lauert schon seit einigen Wochen in mir. Seit einigen Monaten, wenn ich ehrlich bin. Es lässt sich nur schwer beschreiben. Vielleicht bin ich deshalb nicht zum Arzt gegangen, habe ich noch nie darüber gesprochen, nicht einmal mit meinen Töchtern. Wie soll man so etwas auch beschreiben? Mein Kopf fühlt sich irgendwie … unscharf an, das Leben hat seine klaren Konturen verloren. Gibt es dafür überhaupt einen Fachbegriff? Es käme mir falsch vor, damit die Zeit meines Arztes zu verschwenden. Trotzdem weiß ich: Etwas stimmt nicht, ich verfüge nicht mehr über meine volle Leistungskraft. Auch wenn mir klar ist, dass das trotzdem noch für die meisten Menschen ausreichend wäre – das hier, das bin einfach nicht ich.
Genau dieses diffuse Gefühl hatte mich am Nachmittag vom Sofa gedrängt, hatte meine Füße in die Laufschuhe geschoben, hatte mir den Hausschlüssel in die eine und den iPod in die andere Hand gedrückt. Obwohl mir nicht ganz klar war, woher ich die Energie zum Joggen nehmen sollte, wusste ich, dass sie kommen würde: Ich musste nur den anfänglichen Widerstand überwinden, wie schon so oft, und wenn ich nach meiner Runde die Wohnungstür meines Appartements am Fluss wieder aufsperren würde, dann mit jeder Menge Adrenalin in den Adern und einem Gefühl von Lebendigkeit. Diesen Effekt hatte Joggen immer schon auf mich.
Ich schaue nach unten und sehe meinen Füßen zu, die ihre Arbeit tun, die den richtigen Schritt finden, ihren eigenen Rhythmus – so, wie sie es seit jeher getan haben. Ich höre das leise Geräusch der Sohlen auf dem Pflaster, dann hebe ich den Blick nach vorn auf den Weg und warte darauf, dass die Welt wieder in den Fokus rückt, ihre Konturen zurückgewinnt, so wie ich es gewohnt bin. «Fünfhundert Meter», sagt die Computerstimme in meinen Ohren. Mein iPod zählt mit, motiviert mich zum Durchhalten, aber jetzt fühlt es sich eher an wie der Beweis meines Versagens. Ich war schon besser. Letztes Jahr hatte ich mir die Three Peaks Challenge vorgenommen, und ich erinnere mich noch gut daran, wie es war, als ich den Gipfel des Pen-y-ghent erreicht hatte, den ersten der drei Hügel, 700 Meter über dem Meer: Es fühlte sich an, als hätte ich die ganze Welt erobert. Während mir da oben der Wind um die Ohren pfiff, hatte das Adrenalin, das ich jetzt so verzweifelt herbeisehne, das Blut durch meinen Körper gepumpt und mir die Kraft verliehen, am selben Tag noch zwei weitere Hügel in Angriff zu nehmen. Damals war das Leben an den Rändern nicht schwammig gewesen, sondern gestochen scharf.
Der Tag ist kalt und klar, aber die Laufleggins hält die Körperwärme fest. Abgesehen von dem Geräusch der Gummisohlen auf dem Weg durchbricht nur das Plätschern der Ruderer, die zwischen den Brücken trainieren, die Stille des Flusses. Ich will das eine Flussufer hinunterlaufen, dann die Millenium Bridge überqueren und auf der anderen Seite wieder zurück, so wie schon unzählige Male zuvor. Doch dann, binnen einer einzigen Sekunde, wird alles anders. Ich schlage lang hin, einfach so, ohne Vorwarnung. Plötzlich rast der Boden auf mich zu, es bleibt keine Zeit, auch nur die Hände auszustrecken, um mich abzufangen. Ich pralle mit dem Gesicht direkt aufs Pflaster; heißer Schmerz schießt mir in die Nase und in meine Wangenknochen; irgendwo knackt es. Etwas Warmes, Klebriges läuft über mein Gesicht. Ein paar Sekunden vergehen, dann kommt alles zur Ruhe. Ich nutze die Stille, um wieder zu Atem zu kommen, und als ich mir ins Gesicht fasse, ist meine Hand blutverschmiert. In dem Augenblick setzt der Schmerz ein. Zu den körperlichen Schmerzen gesellt sich ein heißer Stich aus Scham, als ich meine Beine betrachte. Für den Bruchteil einer Sekunde erkenne ich sie nicht wieder, weiß nicht, was diese Dinger mir gerade angetan haben. Oder besser, was sie gerade geschehen ließen. Das Nasenbein ist gebrochen, da bin ich mir sicher. Taumelnd komme ich hoch, Blut sickert in mein Lauf-Top. Unfähig, zu verhindern, dass der Fleck sich immer weiter ausbreitet, humple ich nach Hause zurück.
Die Praxis meines Hausarztes liegt gleich um die Ecke, und ich beschließe, auf dem Heimweg dort vorbeizugehen. Der Schock breitet sich in meinen Gliedern aus, und als ich endlich vor der Sprechstundenhilfe stehe, zittern mir die Hände. Meine Knie zittern ebenfalls, und ich hoffe, dass sie es nicht merkt.
Sie schickt mich sofort weiter in die Notaufnahme. Auf dem Weg bin ich immer noch damit beschäftigt, herauszufinden, was eigentlich passiert ist, ob es womöglich etwas mit diesem unbestimmten, bedrohlichen Gefühl zu tun hat, das ich nicht zu fassen bekam, als ich loslief. War es das? Habe ich etwas vorausgeahnt? Einen Sturz beim Joggen? Aber es fühlt sich gravierender an. Ich sitze in der Notaufnahme, das Blut auf meinem Oberteil färbt sich braun, in meiner Hand liegen zerknüllte, rot gesprenkelte Taschentücher, und ich rede mir ein, dass es ein einmaliger Ausrutscher war. Dann werde ich endlich aufgerufen, um mich von der Krankenschwester verarzten zu lassen.
«Also, gebrochen ist nichts», sagt sie. «Sie hatten Glück. Was ist passiert?»
«Ich weiß es nicht genau», antworte ich «Ich war joggen.»
«Ach ja, die Tücken beim Laufen!» Sie lacht. «Das kenne ich nur zu gut.»
Wir lachen gemeinsam, machen uns lustig über uns selbst, aber da ist es wieder, dieses Gefühl, dass mehr dahintersteckt. Ich nehme mir vor, auf dem Heimweg die Strecke noch mal abzugehen, mich auf die Suche nach einem Riss im Asphalt oder der einen losen Gehwegplatte zu machen, die mir zwar zwei blaue Augen, aber zum Glück keine gebrochenen Knochen beschert hat. Ich bin froh, dass ich im Augenblick Urlaub habe und nicht mit schwarzvioletten Blutergüssen im Gesicht zur Arbeit gehen muss.
Eine Stunde später stehe ich wieder an der Stelle, an der ich gestürzt bin. Durch die roten Blutspritzer ist sie unübersehbar. Ich schaue mich gründlich um, aber es ist nichts zu entdecken, kein Riss im Asphalt, keine hochstehende Gehwegplatte, nichts, worüber man stolpern könnte. Doch was war es dann? Der Nebel in meinem Kopf macht das Enträtseln schwer – da ist rein gar nichts, keinerlei Hinweise –, so was ist mir noch nie passiert. Ich gehe nach Hause, lasse mich in die Sofakissen sinken, bin wieder am gleichen Punkt, wo ich vorhin schon war, nur zerschrammt und zerbeult, und sehe hinaus auf den Fluss, während der Himmel über dem Ouse dunkel wird und das Geheimnis darunter immer tiefer. Ich bin furchtbar müde, so müde wie noch nie in meinem Leben. Es tut weh, die Augen zu schließen, aber diesmal lasse ich es zu, dass die Lethargie mich einhüllt wie eine Decke, und zum allerersten Mal kämpfe ich nicht dagegen an.
Ein paar Tage später habe ich doch einen Termin bei meinem Hausarzt. Hauptsächlich die ständige Müdigkeit hat mich schließlich zu ihm getrieben, dieser völlige Mangel an Energie; damit hat alles angefangen.
Ich sitze in seinem Sprechzimmer. «Ich … ich fühle mich irgendwie langsamer als sonst», sage ich, und er mustert mich ein oder zwei Sekunden lang.
Ich komme mir albern vor. Vielleicht ist es ein Gehirntumor, ist mir kurz durch den Kopf gegangen. Ich beobachte sein Gesicht, um rauszufinden, ob er dasselbe denkt, doch ich kann nichts daraus ablesen. Stattdessen lässt er die Schultern sinken und bemüht sich um einen Gesichtsausdruck, der wohl Empathie signalisieren soll.
«Sie sind fit, Sie treiben Sport, Sie ernähren sich vernünftig, Sie rauchen nicht und sind mit sechsundfünfzig noch relativ jung», sagt er. «Trotzdem kommt für uns alle irgendwann der Zeitpunkt, wo wir uns eingestehen müssen, dass unsere Kräfte nachlassen.»
Er lehnt sich zurück, verschränkt die Arme und sieht mich abwartend an. «Sie arbeiten sehr viel, Wendy», seufzt er. «Vielleicht sollten Sie sich eine Auszeit gönnen.»
Ich möchte ihm sagen, dass ich genau das gerade tue, dass ich gerade mitten im Urlaub bin und die Vorstellung, sich noch mehr Auszeit zu nehmen, für jemanden wie mich geradezu lächerlich klingt. Ich bin diejenige, die das Dienstplanungssystem für das Pflegepersonal in- und auswendig kennt. Ich bin diejenige, die von ihren Arbeitskollegen insgeheim «Der Guru» genannt wird, weil ich ein glasklares Gedächtnis habe, weil ich Probleme in Sekunden löse, weil ich jedem, der mich danach fragt, immer genau sagen kann, wer am liebsten Nachtschichten arbeitet und wer an welchem Tag frei braucht. Sie kriegen das ohne mich unmöglich hin. Aber er schiebt die Unterlagen auf seinem Schreibtisch zusammen, und ich spüre, dass unser Gespräch damit beendet ist.
«Das Alter», sagt er...