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E-Book

Krise

Wie Nationen sich erneuern können

AutorJared Diamond
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl464 Seiten
ISBN9783104006697
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Nach den Bestsellern »Arm und Reich« und »Kollaps« zeigt der Pulitzer-Preisträger Jared Diamond in seinem neuen und bisher persönlichsten Buch, wie Nationen mit den gegenwärtigen Krisen - Klimawandel, soziale Ungleichheit, gesellschaftliche Polarisierung - erfolgreich umgehen können. Sie müssen Krisen bewältigen wie Menschen persönliche Schicklsalsschläge! Anhand der deutschen Nachkriegsgeschichte, Chiles Umgang mit der Diktatur Pinochets, Japans erzwungener ökonomischer Öffnung 1853 und weiterer historischer Beispiele zeichnet Diamond die Muster nach, wie sich Staaten von tiefgreifenden Erschütterungen erholen. Dabei wird deutlich: Bei der Bewältigung von Krisen sind ähnliche Faktoren entscheidend wie beim Umgang mit individuellen Traumatisierungen: sich eingestehen, dass man in einer Krise steckt; eine ehrliche Bestandsanalyse betreiben, statt sich als Opfer zu stilisieren; die Probleme eingrenzen; Hilfe annehmen und bereit sein, aus Krisen anderer zu lernen. Letztlich gilt es, sich zu verändern, ohne alles infrage zu stellen. Ein Buch zur rechten Zeit, das erklärt, wie Nationen an Krisen wachsen und Hoffnung für die Zukunft macht.

Jared Diamond, 1937 in Boston geboren, ist Professor für Geographie an der University of California, Los Angeles. Sein Hauptforschungsgebiet ist die Evolutionsbiologie. In den letzten 25 Jahren hat er rund ein Dutzend Expeditionen in entlegene Gebiete von Neuguinea geleitet. Für seine Arbeit auf den Gebieten der Anthropologie und Genetik ist er mehrfach ausgezeichnet worden, u.a. mit dem Pulitzer-Preis. Nach ?Der dritte Schimpanse?, ?Arm und Reich?, ?Warum macht Sex Spaß??, seinem internationalen Bestseller ?Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen? und ?Vermächtnis. Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können? erschien zuletzt bei S. Fischer ?Krise. Wie Nationen sich erneuern können? (2019).Literaturpreise:Britain's Rhône-Poulenc Prize for Science Books 1998,Pulitzer-Preis 1998,Lannan Literary Award 1999,Dickson Prize für Wissenschaft 2006,Wolf-Preis für Agrarwissenschaft 2013

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Leseprobe

Prolog Eine Brandkatastrophe und ihre Folgen


Zwei Geschichten    Was ist eine Krise?    Persönliche und staatliche Krisen    Was dieses Buch will und was nicht    Der Aufbau dieses Buches

Fast jeder von uns erlebt im Laufe seines Lebens persönliche Umbrüche oder Krisen, die wir durch die Veränderung unseres eigenen Verhaltens meistern oder nicht. In ähnlicher Weise erleben auch Staaten nationale Krisen, die durch Veränderungen auf nationaler Ebene erfolgreich bewältigt werden oder nicht. Zum Thema »Bewältigung persönlicher Krisen« ist reichlich Forschungs- und anekdotisches Material vorhanden, erarbeitet und zusammengetragen von Therapeuten. Könnten ihre Erkenntnisse uns dabei helfen, die Bewältigung von Staatskrisen zu verstehen?

Lassen Sie mich anhand von zwei Geschichten, die ich selbst erlebt habe, beispielhaft zeigen, was ich mit persönlichen und nationalen Krisen meine. Man sagt, die ersten datierbaren sicheren Erinnerungen eines Kindes würden im Alter von etwa vier Jahren angelegt, wobei sich Kinder jedoch auch an einzelne frühere Ereignisse erinnern könnten. Diese allgemeine Aussage trifft auf mich zu, denn das früheste Ereignis, das ich zeitlich festmachen kann, ist der Brand im Bostoner Cocoanut Grove, der kurz nach meinem fünften Geburtstag stattfand. Obwohl ich (glücklicherweise) nicht vor Ort war, habe ich es durch die schrecklichen Berichte meines Vaters, der Arzt war, sozusagen aus zweiter Hand erlebt.

Das Feuer brach am 28. November 1942 in einem überfüllten Bostoner Nachtclub namens Cocoanut Grove (so die Schreibung, die der Besitzer gewählt hatte) aus und breitete sich rasch aus, aber der einzige Ausgang war in kürzester Zeit blockiert. Insgesamt kamen 492 Menschen zu Tode, Hunderte wurden verletzt, sie erstickten, wurden niedergetrampelt, erlitten Rauchvergiftungen oder Verbrennungen (Tafel 0.1). Ärzte und Krankenhäuser waren überfordert – nicht nur mit den direkten Feueropfern, den Verletzten und den Sterbenden, sondern auch mit den indirekten, den psychischen Opfern des Feuers: Angehörige, die daran verzweifelten, dass ihre Ehemänner, ihre Ehefrauen, ihre Kinder oder Geschwister auf so schreckliche Art ums Leben gekommen waren, aber auch Überlebende, die traumatisiert waren von Schuldgefühlen, weil sie überlebt hatten, während Hunderte anderer Gäste zu Tode gekommen waren. Bis 22.15 Uhr war ihr Leben in Ordnung gewesen, man feierte Thanksgiving, ein Footballmatch und die Soldaten auf Heimaturlaub. Um 23.00 Uhr waren die meisten Todesopfer bereits gestorben, und ihre Angehörigen und die Überlebenden stürzten in eine Krise. Ihre gesamte Lebensplanung war über den Haufen geworfen. Sie schämten sich, dass sie lebten, während jemand, den sie geliebt hatten, sterben musste. Die Angehörigen hatten jemanden verloren, der für ihre Identität von zentraler Bedeutung war. Nicht nur für die Überlebenden des Feuers, auch für die Bostoner, die weit weg vom Feuer wohnten (so wie ich als Fünfjähriger) erschütterte die Katastrophe den Glauben an eine gerechte Welt. Die so Gestraften waren keine unartigen Jungs oder üble Verbrecher gewesen: Es waren ganz normale Leute, die ohne eigene Schuld umgekommen waren.

Einige der Überlebenden und der Angehörigen blieben für den Rest ihres Lebens traumatisiert. Manche begingen Selbstmord. Doch bei den meisten setzte nach mehreren Wochen tiefsten Schmerzes, in denen sie nicht in der Lage waren, ihren Verlust anzunehmen, ein langsamer Prozess ein, in dessen Verlauf sie trauern, ihre Stärken wiederfinden, ihr Leben neu aufbauen und entdecken konnten, dass ihre Welt nicht komplett zerstört war. Viele, die ihren Ehepartner verloren hatten, heirateten wieder. Doch selbst in den besten Fällen wiesen sie Jahrzehnte später eine zusammengesetzte, eine »Mosaik«-Identität auf, bestehend aus der, die nach der Brandkatastrophe entstanden war, und der, die sie davor besessen hatten. Wir werden die Mosaik-Metapher in diesem Buch noch öfter auf Individuen und Staaten anwenden, in denen verschiedene Elemente unharmonisch koexistieren.

Der Brand im Cocoanut Grove stellt ein extremes Beispiel für eine persönliche Krise dar. Aber es ist nur in dem Sinn extrem, weil das Unglück eine große Zahl von Opfern auf einmal traf – die Opferzahl war sogar so groß, dass der Brand zudem eine Krise heraufbeschwor, die neue Herangehensweisen in der Psychotherapie erforderte, wie wir in Kapitel 1 sehen werden. Viele von uns erleben solche individuellen Tragödien aus erster Hand im eigenen Leben oder aus zweiter Hand durch das, was ein Verwandter oder ein Freund erlebt. Und doch sind solche Tragödien, die nur einem einzigen Opfer widerfahren, für dieses Opfer und seinen Freundeskreis ebenso schmerzlich, wie es der Brand im Cocoanut Grove für die Freundeskreise der 429 Opfer war.

Hier nun, zum Vergleich, ein Beispiel für eine nationale Krise. Während der späten 1950er und der frühen 1960er Jahre lebte ich in Großbritannien, das zu dieser Zeit eine schleichende Staatskrise durchlief, obwohl weder meine britischen Freunde noch ich das damals richtig wahrhaben wollten. Großbritannien war seinerzeit führend in der Wissenschaft, mit einer reichen kulturellen Geschichte gesegnet, stolz und einzigartig britisch und sonnte sich noch im Gedenken an die weltgrößte Flotte, den weltgrößten Wohlstand und das flächenmäßig größte Imperium der Weltgeschichte. Nur blutete Großbritannien in den 50ern wirtschaftlich leider aus, es verlor sein Empire und seine Macht, war sich uneins, welche Rolle es in Europa spielen wollte, und hatte mit alten Klassenunterschieden und neuen Einwandererwellen zu kämpfen. Zwischen 1956 und 1961 spitzten sich die Dinge zu, als Großbritannien seine verbliebenen Schlachtschiffe verschrottete, seine ersten Rassenunruhen erlebte, seine afrikanischen Kolonien nach und nach in die Unabhängigkeit entlassen und außerdem zusehen musste, wie die Suezkrise schmählich offenbarte, dass es die Fähigkeit verloren hatte, unabhängig als Weltmacht zu agieren. Meine britischen Freunde bemühten sich, all diese Geschehnisse zu verstehen und sie mir, ihrem amerikanischen Gast, zu erklären. Diese Tiefschläge verstärkten die Diskussionen über die Identität und die Rolle Großbritanniens zwischen der Bevölkerung und den Politikern.

Heute, sechzig Jahre später, ist Großbritannien ein Mosaik aus seinem neuen und seinem alten Selbst. Es hat das Empire abgeschüttelt und sich zu einer multiethnischen Gesellschaft entwickelt, es ist ein Wohlfahrtsstaat geworden und betreibt staatliche Schulen von hoher Qualität, um die Klassenunterschiede zu verringern. Seine beherrschende Rolle als See- und als Handelsmacht hat Großbritannien nicht wiedererlangt, und mit seiner Rolle in Europa hadert es noch immer (Stichwort »Brexit«). Aber Großbritannien gehört noch immer zu den sechs reichsten Nationen der Welt, es hat immer noch eine parlamentarische Demokratie mit einer Königin als Galionsfigur, es ist immer noch führend in Wissenschaft und Technik, und es hat immer noch sein Pfund Sterling als Währung und nicht den Euro.

Diese beiden Geschichten illustrieren, worum es in diesem Buch geht. Krisen und der Druck zur Veränderung betreffen Individuen und Gruppen auf allen Ebenen, von der Einzelperson über Teams und Wirtschaftszweige bis hin zu Staaten und der Welt als Ganzem. Krisen können durch Druck von außen ausgelöst werden, etwa wenn ein Mensch seinen Partner verliert, sei es durch Trennung oder durch Tod, oder wenn eine Nation von einer anderen angegriffen wird. Alternativ können Krisen auch durch inneren Druck ausgelöst werden, etwa wenn ein Mensch erkrankt oder eine Nation von Unruhen erschüttert wird. Der erfolgreiche Umgang mit innerem oder äußerem Druck erfordert selektive Veränderungen. Das gilt für Staaten wie Individuen gleichermaßen.

Das Schlüsselwort heißt »selektiv«. Es ist weder möglich noch erstrebenswert, dass sich Individuen oder Nationen völlig verändern und alles aufgeben, was mit ihrer früheren Identität zu tun hat. Die Herausforderung für Individuen oder Staaten in der Krise ist herauszufinden, welche Teile der jeweiligen Identität gut funktionieren und beibehalten werden können und welche nicht mehr ordentlich funktionieren und deshalb verändert werden sollten. Individuen und Nationen, die unter Druck stehen, müssen eine ehrliche Bestandsaufnahme ihrer Fähigkeiten und Werte vornehmen. Sie müssen entscheiden, was bei ihnen funktioniert, was vielleicht sogar unter den neuen Bedingungen angemessen ist und daher beibehalten werden kann. Umgekehrt brauchen sie den Mut zu erkennen, was sich ändern muss, um mit der neuen Situation umzugehen. Dafür ist es erforderlich, dass Individuen oder Staaten neue Lösungen finden, die mit ihren Fähigkeiten und dem Rest ihres (Staats-)Wesens vereinbar sind. Gleichzeitig müssen sie eine Haltelinie einziehen und die Elemente benennen, die für ihre Identität so wichtig sind, dass sie sie auf keinen Fall ändern wollen.

Das waren einige der Paralleln, die man mit Blick auf Krisen zwischen Individuen und Staaten ziehen kann. Es gibt allerdings auch unübersehbare Unterschiede, die man berücksichtigen muss.

 

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