Mit uns ist nichts verkehrt
Schon jetzt nicht. Selbst wenn wir unter Depressionen leiden, übermäßig viel essen müssen oder sich unsere Not auf andere Weise zeigt. Wir sind keine Fehler, die man berichtigen muss. Unsere „Störungen“ sind die Zeugen einer verloren gegangenen emotionalen Intimität mit uns selbst. In ihnen eingesperrt wartet das Leben. Unser Leben.
In diesem Buch geht es weder darum, ein weiteres psychologisches Make-up aufzutragen, noch darum, eine entseelte Form von innerer Zuwendung anzupreisen. Ich werde Sie nicht einladen, unliebsame Symptome wegzuatmen, wegzuklopfen, wegzumeditieren oder mit einem psychologischen Skalpell – und sei es noch so behutsam und liebevoll im Schnitt – auf andere Weise zu entfernen.
Der Heilungsweg, von dem ich hier sprechen möchte, wird uns nicht dazu auffordern, etwas an uns psychologisch zu amputieren. Er wird uns vielmehr erstaunen. Uns berühren und überraschen. Zeitweilig wird er uns provozieren, damit wir in bewusster Rebellion gegen ihn unsere machtvolle Kraft entdecken können. In Momenten, in denen wir uns hässlich und nackt oder resigniert und beschämt fühlen, wird er uns nicht nahelegen, uns von unserer Verletzlichkeit zu distanzieren. Er wird uns umarmen wollen und uns lehren, wie unsere Zartheit unsere Dunkelheit erhellen kann. Manchmal wird er uns, wie bei einer Geburt, Schmerzen zufügen, weil wir uns sonst nicht auf das Neue und Unbekannte einlassen würden, während er uns ein anderes Mal mit warmer Sanftheit in das Leben hineinwiegt. Ganz sicher wird er uns zuweilen massiv herausfordern, aber eines wird er nie tun: versuchen, uns im Kern zu korrigieren. Denn mit uns ist nichts verkehrt.
Dies mag verklärt klingen, aber an einem Heilungsweg ist nichts Verklärtes. Man braucht Mut, um ihn zu beschreiten. Und auch wenn sich unser Mut erst beim Gehen in der erforderlichen Form entwickeln kann, so braucht es doch schon vor Beginn unserer Genesungsreise eine grundlegende Entscheidung darüber, welche Richtung wir einschlagen. Wollen wir nur gut funktionieren oder wollen wir unsere Sehnsucht nach Leben stillen? Der englische Dichter Edward Young schrieb: „Wir werden als Originale geboren und sterben als Kopien.“ Worauf also wollen wir unseren inneren Kompass ausrichten? Wir haben die Wahl.
Jeder, der leidet, kennt das schmerzvolle Empfinden, dass etwas Grundlegendes nicht stimmt. Ganz gleich, ob es sich um Süchte, Depressionen, Ängste, wiederkehrende Beziehungsprobleme oder um etwas anderes handelt. In den dunkleren Momenten unseres Lebens spüren wir fast alle zutiefst und hartnäckig, dass es mehr für uns geben muss als das, was wir gerade erfahren. Es gibt Menschen, bei denen ihr bis dahin unsichtbares inneres Leiden plötzlich und unausweichlich in den Alltag einbricht. Andere hingegen können durch die Aufgaben, die ihre Familie oder ihr Beruf an sie stellt, ihre innere Not hinter einer gut funktionierenden Fassade über viele Jahre bewusst oder unbewusst geheim halten. Sie leiden still. Wir alle versuchen, so gut es uns möglich ist, unser Leben zu leben.
Es gibt aber auch Menschen, die sich emotional so stark betäubt haben, dass sie den natürlichen Impuls, aus ihren inneren verdunkelten Fenstern hinausschauen zu wollen, gar nicht mehr wahrnehmen. Sie haben es „geschafft“, den unschuldigen Augenaufschlag ihres Lebendigseins einzubetonieren. Dass wir sie in schwierigen Momenten dennoch beneiden, liegt vor allem daran, dass sie in unserer Gesellschaft als „normal“ gelten. Es scheint, als verliefe ihr Leben ohne größere Schwierigkeiten. Die Tatsache, dass uns etwas schmerzt, verdeutlicht jedoch, dass wir uns selbst gegenüber nicht gleichgültig sind. Auch wenn wir uns vielleicht zeitweilig fühlen, als wären wir in einem inneren schwarzen Universum verloren gegangen, zeigen unsere seelischen Schmerzen doch, dass wir Kontakt zu unserer Sehnsucht haben. Wir bedeuten uns noch etwas.
Niemand möchte leiden. Es ist zutiefst menschlich, dass wir uns wünschen, unsere Not möge endlich aufhören. Doch obwohl das Unterstützungsangebot heutzutage so groß ist wie noch nie, steigt in unserer Gesellschaft die Anzahl der Menschen mit Depressionen, Essstörungen, Verhaltensauffälligkeiten und Vereinsamung. Was wir brauchen, ist ein Umdenken. Eine neue Begegnung mit uns selbst. Mit diesem Buch möchte ich Sie einladen, nicht länger vergeblich zu versuchen, den Horizont zu erreichen in der Hoffnung, Sie könnten durch noch mehr Anstrengung irgendwann dort ankommen. Vielmehr setze ich darauf, dass dieses Buch Sie ermutigen kann, sich mit einem umfassenderen Verständnis für sich selbst den heimatlosen Persönlichkeitsseiten in Ihnen auf eine ganz neue Weise anzunähern.
Damit dies möglich wird, werden Sie manches, was Sie über Psychologie bisher gelernt oder gehört haben, infrage stellen müssen. Damit möchte ich keinesfalls die Bedeutung psychologischer Errungenschaften schmälern. Viele Männer und Frauen haben in der Vergangenheit auf diesem Gebiet Großartiges und Herausragendes geleistet. Ohne ihre Erkenntnisse und Erfahrungen wären wir heute in Bezug auf das Wissen um unser Innenleben nicht so weit, wie wir sind. Ihnen gebührt mein tiefster Dank und mein tiefster Respekt! Doch die Entwicklung schreitet voran. Um aber weitergehen zu können, braucht es einen offenen Blick in alle Richtungen. Genau hier setzt dieses Buch an.
Die folgenden humorvollen Zeilen des Schweizer Schriftstellers Kurt Marti eignen sich, wie ich finde, gut für einen Aufbruch: „Wo kämen wir hin, wenn alle sagten, wo kämen wir hin, und niemand ginge, um einmal zu schauen, wohin man käme, wenn man ginge.“
Die wertvollste Reise meines Lebens
Der Beginn meines eigenen Heilungsweges liegt über 25 Jahre zurück. Damals war ich emotional schwer verwundet. Ich hatte eine starke Ess- und Angststörung und litt unter einer Depression. Die traumatischen Erlebnisse meiner Kindheit hatten tiefe Spuren in mir hinterlassen. Zu Beginn bluteten meine Wunden so stark, dass ich zeitweilig den Lebenswillen verlor. Ausgelöst durch eine Stoffwechselerkrankung, die mit einer starken Gewichtszunahme einherging, brach meine verdrängte traumatische Vergangenheit wie Wellen über mich hinein und drückte mich immer wieder unter Wasser. Mein Plan, ein Medizinstudium zu beginnen und ein Leben zu führen, das ich damals als erstrebenswert empfand, wurde durch meinen Zusammenbruch durchkreuzt. Ich konnte also nicht den physischen Körper erforschen, vielmehr schleuderte mich das Leben auf einen Weg, auf dem mein emotionaler Körper im Mittelpunkt stand.
Damit begann eine sehr intensive Erkundung meiner selbst, die für mich zur wertvollsten Reise meines Lebens wurde. Im Lauf dieser inneren Expedition verlor ich ohne reglementierende Maßnahmen wie Sport- oder Ernährungspläne 30 Kilo. Darüber hinaus konnten auch meine Angststörung und meine Depression Heilung erfahren. Dass ich einen Weg aus dieser inneren Hölle der Selbstablehnung und Angst herausgefunden habe, erfüllt mich auch heute noch mit tiefer Dankbarkeit.
Entscheidend war damals, dass ich im Versuch-und-Irrtum-Verfahren sehr viele Übungen entwickelte, die mir halfen, mir selbst ganz neu begegnen zu können. Nicht alle erwiesen sich auf Dauer als geeignet, viele verwarf ich wieder. Diejenigen, die es mir ermöglichten, meinem psychischen Gewicht – also den Verletzungen meiner Kindheit – und dadurch meinen biografischen Kilo näher zu kommen, wendete ich so regelmäßig an, wie es mir möglich war. So lernte ich, mich selbst emotional zu begleiten und eine spezielle Form von Präsenz zu entwickeln, die ich heute „emotionale Präsenz“ nenne. Was dies genau bedeutet, erläutere ich an geeigneter Stelle im Buch.
Ging es mir am Anfang nur darum, meine „Störungen“ loszuwerden, wurde mir mit der Zeit immer deutlicher, dass genau diese innere Haltung ein großer Teil des Problems war. Je besser ich meine inneren Landschaften kennenlernte, desto klarer wurde mir, dass meine Symptome nicht einfach nur Relikte aus meiner Vergangenheit waren, die mich daran hinderten, meinen Lebensrhythmus zu finden, und deshalb unbedingt verändert werden sollten. Ich lernte, dass meine Ängste nicht überwunden werden wollten; sie wollten endlich heilen dürfen. Was den wichtigen Unterschied zwischen diesen beiden Blickrichtungen ausmacht, werde ich Ihnen im Verlauf dieses Buchs verdeutlichen.
Angesichts meiner starken Traumatisierung suchte ich Hilfe bei einer Psychotherapeutin. Glücklicherweise ermutigte sie mich, meiner emotionalen Selbstbegleitung weiter nachzugehen. Und bat mich, ihr über meine Übungen und inneren Erkundungsreisen zu berichten. Der sehr herzliche Kontakt zu ihr und ihre Rückendeckung, die mir Halt gab, waren für mich sehr wichtig. Unter anderem auch deshalb, weil ich den Ansatz, der sich mir langsam auf meiner inneren Forschungsreise offenbarte, nirgendwo in Ausführungen zur Psychologie wiederfinden konnte. Meine Zweifel waren dementsprechend anfangs sehr groß. Gerade wenn ich auf meinem Weg stockte – und das kam zu Beginn oft vor – oder es sich anfühlte, als würde ich mich rückwärts bewegen statt voran, wurden die kritischen und verurteilenden Gedanken in mir außerordentlich laut.
Auch wenn es zunächst so klingen mag, mein Heilungsweg verlief keineswegs unkompliziert und linear. Aufgrund der starken Verletzungen während meiner Kindheit...