AUTISMUS – BEGEGNUNG
MIT EINER »ANDEREN KULTUR«
DEN BEGRIFF KULTUR KöNNEN WIR AUF DIE GESELLSCHAFT BEZIEHEN, die bestimmte Dinge wie Kunst, Musik, Architektur oder Literatur hervorgebracht hat. Er kann sich auch auf eine Gemeinschaft von Menschen beziehen, die aus dem Gefüge des Miteinanders und gegenseitigen Verstehens eine Grundlage für menschliches Sozialleben geschaffen haben.14 Kulturelle Gepflogenheiten werden durch die Art und Weise erlebt und gelehrt, wie die Mitglieder über Sprache, Geschichten und Tätigkeiten in Beziehung zueinander treten. Ein Ausschnitt daraus sind bestimmte Umgangsformen, die häufig mit moralischen Werten belegt sind. Die meisten dieser Leitsätze oder Gedanken ergeben sich aus den unmittelbaren zwischenmenschlichen Beziehungen, andere werden bewusst vermittelt. Matthias Brien erzählt in seinem Buch Ich koche für dich von dem ersten Wochenendbesuch bei den Eltern seiner Freundin. Als es zum Ende des Besuches zur Verabschiedung kommt, hat er folgende Gedanken. »Beim Abschied kommt es mir so vor, als erwarten die Eltern von mir einen bestimmten Text, den ich nicht kenne. Irgendwie ist eine enorme Anspannung da und ich sage einfach ›Auf Wiedersehen‹.«15 In solchen Situationen sind Menschen mit Autismus oft überfordert, da sich ihre Umgangsformen nicht aus Empfindungen erschließen, und sie können dann nur auf die bewusst vermittelten oder imitierte Umgangsformen zurückgreifen. Das Verständnis für die angemessenen Worte stellt sich nicht automatisch ein, sondern ist ein Entwicklungsprozess, der sich aus einem Empfinden von geteilter Aufmerksamkeit ergibt.
In dem Roman Das Rosie-Projekt von Graeme Simsion erhält der Protagonist Don Tillman die Telefonnummer einer Frau mit den Worten gereicht: »Rufen Sie mich an!« Don, der das Asperger-Syndrom hatte, wusste, dass so etwas dauernd irgendwo passiert: In Büchern, Filmen und Fernsehserien tun die Leute genau das, was Rosie getan hatte. Durch dieses Ereignis fühlte er sich nun vorübergehend in eine Kultur aufgenommen, die er für sich verschlossen gehalten hatte.16 Don Tillman rekonstruiert dieses Ereignis nicht aus seiner inneren Vorstellung heraus, sondern benutzt äußere Vorbilder, um sich rückzuversichern, dass Rosies Verhalten in ihrer Kultur vorkommt. Das Verstehen von kulturellen Zusammenhängen und Traditionen ergibt sich vorwiegend aus dem frühen Erleben sozialer Zusammenhänge. So wie Kinder weltweit die Muttersprache ihres Landes ohne Anstrengungen aus der sozialen Interaktion mit ihrer Umwelt erlernen, so gehen auch die kulturellen Normen und Vorstellungen durch das soziale Miteinander in »Fleisch und Blut« über. Das soziale Verstehen, welches sich aus der Art und Weise ergibt, wie Kinder und Erwachsene miteinander agieren, erschließt dem Kind die Formen kulturellen Zusammenlebens. Wir werden zwar in eine kulturelle Umgebung hineingeboren, können die kulturellen Zusammenhänge jedoch erst dann für uns nutzen, wenn wir den anderen als handelnden Akteur begreifen. Dieses Verständnis ist Kindern unter neun Monaten noch nicht möglich und fällt vielen autistischen Kindern schwer.17 Kari Steindal schreibt im Buch von Susanne Schäfer: »Menschen mit Autismus brechen so grundlegend viele unserer gemeinsamen, einleuchtenden, ungeschriebenen Normen, Regeln und Werte. Susanne hat selbst darüber nachgegrübelt: ›Ich sage dir, ich bin überall ein Ausländer, nicht zuletzt in Deutschland.‹«18
Die letzten Zeilen machen deutlich, dass es der Gruppe der Betroffenen schwerfällt, die kulturellen Umgangsformen der Nichtbetroffenen zu erfassen und ihnen zu entsprechen. Es stellt sich im Umkehrschluss die Frage, ob sich hieraus direkt folgern lässt, dass Menschen mit Autismus Menschen einer anderen Kultur sind. Diese Schlussfolgerung würde den üblichen Definitionen von kulturellen Gruppen widersprechen. Das gemeinsame kulturelle Merkmal, das sich in der Gruppe von Menschen mit Autismus zeigt, ergibt sich jedoch nicht nur aus der Schwierigkeit, Anknüpfungspunkte zu anderen kulturellen Zusammenhängen herzustellen, sondern in einer Art Gleichklang in Bezug auf ein bestimmtes Empfinden, im Handeln und im Denken. Auch wenn die Möglichkeiten, das Empfinden, das Handeln und das Denken auszudrücken, auf Grund der Heterogenität der Gruppe große Unterschiede aufweisen können. Es liegt mir fern, mit dem Begriff einer autistischen Kultur eine neue Zuschreibung vorzunehmen, die eine weitere Kategorie schafft, die eine Aufteilung in »wir« und »die anderen« vornimmt. Der Kulturbegriff soll eher dazu dienen, zu akzeptieren, dass verschiedene Gruppen unterschiedliche Entwicklungshintergründe haben, aus welchen sich zwangsläufig andere Vorstellungen und ein anderes Empfinden von der Realität ergeben. Das Nicht-Verstehen ist ein beiderseitiges Nicht-Verstehen und hat in der Regel nichts mit Intelligenz zu tun, sondern mit einer anderen Sichtweise oder einem anderen Empfinden. In ähnlicher Weise, wie es Menschen mit Autismus schwerfällt, die Gepflogenheiten der NT (Neurotypen) zu erfassen, fällt es uns Neurotypen schwer, die Symbole, Gesten und Verhaltensweisen von Betroffenen zu verstehen. Es geht darum, in der Lage zu sein, Missverständnisse und Grenzüberschreitungen zu minimieren, sowie eine interkulturelle Kompetenz zu entwickeln.
EINE VIELZAHL AN NEUEN EINDRÜCKEN
ALS ICH 1982 DIE BRÜCKE BETRAT, welche zu dem Wasserschloss führte, in dem 160 als geistig behindert geltende Männer lebten, bot sich mir ein bizarrer Anblick. Der Innenhof war mit Pflastersteinen belegt und in der Mitte mit einem Rondell aus Rasen, Springbrunnen und Blumen verziert. Das Schloss war symmetrisch angelegt und strahlte eine gewisse Ordnung aus, es waren die Bewohner, die diesem Bild einen bizarren und für mich ungewöhnlichen Charakter verliehen. Sie trugen etwas altmodische Kleidung und einige der Männer verhielten sich sonderbar. Sie gaben auf den ersten Eindruck nicht das Bild einer Gemeinschaft ab, obwohl sie, wie sich später herausstellte, schon viele Jahre gemeinsam dort lebten. Jeder positionierte sich auf seine sehr individuelle Weise im Innenhof. Während ich diese Gedanken hatte, fiel mir ein junger Mann auf, der den Versuch unternahm, mit der Pflasterung des Hofes in »Beziehung« zu treten. Es schien ihm dabei sehr wichtig zu sein, dem Muster der Pflasterung in bestimmten geometrischen Formen zu folgen. Er hatte dabei eine sehr eigene Schrittfolge, und er fühlte sich auf magische Weise vom Fugenbild der Pflasterung angezogen.
Viele autistische Kinder fühlen sich derart von Linien und visuellen Mustern angezogen, dass alles andere in den Hintergrund tritt. So können manche Kinder ein Puzzle legen, indem sie sich lediglich an der Form der einzelnen Puzzleteile orientieren, das Bild hingegen weitgehend ignorieren.19 »Ich konnte mich stundenlang damit beschäftigen, die geometrischen Figuren, die mein visuelles Von-Der-Welt-Bild immer überlagerten, nun endlich zu bemaßen.«20 Diese Überlagerung kann für die Betroffenen in vielen Situationen auch sehr störend sein, und es soll in diesen Beispielen nicht darum gehen, besondere Fähigkeiten herauszustellen. Es sind lediglich Beispiele für eine unterschiedliche Wahrnehmung. »Die Barmbecker Mietshäuser erfreuten mich mit Sichtbarkeit. Das Mauerwerk aus Backsteinen bot meinen Blicken Halt und hob sich wohltuend von der wolkenweißen Gestaltlosigkeit der Hofhaussiedlung ab. Diese Häuser konnte ich gut sehen, die Häuser im Vorbergviertel dagegen nicht.«21
In den nächsten Tagen erfuhr ich, dass der junge Mann mit dem großen Interesse für die Pflasterung (und mit Diagnose »Frühkindlicher Autismus«) Ralf hieß. Mir wurde ans Herz gelegt, es sei wichtig, seine spezifischen Eigenarten zu respektieren, um ihn nicht aus der Ruhe zu bringen. Ich wusste im ersten Moment nicht, warum die Mitarbeiter von »seiner Ruhe« sprachen, denn ich erlebte Ralf eher in einem Zustand permanenter rhythmischer Bewegung und Anspannung. Erst als ich einen seiner Wutausbrüche erlebte, der sehr stark mit Verzweiflung einherging, wusste ich, warum die Mitarbeiter sein alltägliches Verhalten mit »seine Ruhe« umschrieben.
Ralf forderte immer wieder die gleichen Handlungen von bestimmten Personen ein, indem er ihre Hand nahm, ohne dabei Blickkontakt zu ihnen zu suchen. Mit seinem hochkonzentrierten Blick schien er irgendetwas festzuhalten, was jedoch außerhalb meiner Wahrnehmung lag. Ralf bewegte seinen Körper dabei weiter in einer Art rhythmischen Bewegung und führte fast kontinuierlich, mal laut, mal lautlos, kleine Dialoge mit sich selbst. Dann plötzlich richtete er die Dialoge nach außen. »Der Ralf muss jetzt in die Werkstatt gehen und er kommt auch bestimmt pünktlich – der Ralf kommt pünktlich!« Auch wenn diese Wörter aus seinem Munde kamen, so wirkten sie wie...