Einleitung
Als vor wenigen Jahren «Licht aus dem Osten. Eine neue Geschichte der Welt» erschien, traf das Buch offenbar einen Nerv. Als Autor hatte ich natürlich gehofft, dass es den Lesern gefallen würde; doch als Historiker hatte ich des Öfteren feststellen müssen, dass meine Forschungsinteressen bei anderen nur begrenzt auf Zuspruch stießen. Gespräche über meine Forschungen bei einem Glas Bier oder am Esstisch dauerten meistens nicht lange, und selbst bei meinen Kollegen beschränkte sich das Interesse in der Regel auf jene Epochen oder Regionen, mit denen auch sie sich beschäftigten.
Dass «Licht aus dem Osten» so gut angenommen wurde, kam für mich daher völlig überraschend. Offensichtlich wollten etliche Leute mehr über diese Welt erfahren – über andere Völker, Kulturen und Regionen und über deren ruhmreiche Vergangenheit. Sie wollten eine Geschichtsdarstellung lesen, deren Schwerpunkt, abweichend von den vertrauten Erzählungen über Europa und den Westen, in Asien und allgemein im Osten lag.
Eine besondere Rolle spielen dabei die Handels- und Verkehrsverbindungen, die jahrtausendelang die Kontinente verbanden. Im späten 19. Jahrhundert prägte der deutsche Geograph Ferdinand von Richthofen einen Begriff für die Netzwerke des Austausches zwischen dem China der Han-Dynastie (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) und der Außenwelt: «Seidenstraßen». Dieser Begriff beflügelte die Phantasie der Gelehrten ebenso wie die des allgemeinen Publikums.[1]
In welchen geographischen Dimensionen sich Güter, Ideen und Menschen zwischen Asien, Europa und Afrika hin- und herbewegten, blieb in Richthofens Vorstellung allerdings vage. Auch die Seewege zwischen Pazifik und Südchinesischem Meer auf der einen sowie Mittelmeer und später Atlantik auf der anderen Seite legte er nicht genauer fest. Diese Unbestimmtheit des Begriffes «Seidenstraßen» kann hilfreich sein – nicht zuletzt, weil es sich dabei ja nicht um Straßen im modernen Wortsinne handelte. Der Unterschied zwischen Nah- und Fernhandel verschwimmt, und schließlich wurden neben teuren Textilien wie Seide auch andere Waren und Güter gehandelt, bisweilen sogar mit größerem Handelsvolumen.
In der Tat lässt sich mit den «Seidenstraßen» vor allem beschreiben, wie Völker, Kulturen und Kontinente miteinander verwoben waren. Wir verstehen damit besser, wie sich in der Vergangenheit Religionen und Sprachen ausbreiteten; wie Ideen von Ernährung, Mode und Kunst weitergegeben wurden, wie sie miteinander konkurrierten und voneinander profitierten. Und welch zentrale Bedeutung die Kontrolle über Ressourcen und der Fernhandel als Hintergrund und Motivation für Expeditionen durch Wüsten und über Ozeane hatten. Die Seidenstraßen trugen wesentlich zur Entstehung und zum Aufstieg von Reichen bei; sie zeigen, wie über Tausende von Kilometern hinweg technologische Innovationen angeregt wurden, aber auch, wie Gewalt und Krankheiten oft denselben Wegen folgten. Die Seidenstraßen lassen uns die Vergangenheit nicht als eine Abfolge von klar abgegrenzten Epochen und Regionen verstehen, sondern sie rücken die Rhythmen der Geschichte in den Blick, die über Jahrtausende Teil einer um- und in sich fassenden globalen Vergangenheit waren.
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Aus meiner Sicht als Historiker gab es, was unser Verständnis der Vergangenheit betrifft, in den letzten Jahren eine Reihe außerordentlich spannender Fortschritte. Wissenschaftler, die in unterschiedlichen Gebieten verschiedene Epochen und Regionen erforschen, haben Ergebnisse vorgelegt, die so neuartig wie überzeugend sind. Archäologen konnten mit Hilfe von Satellitenbildern und räumlichen Analysen Bewässerungssysteme aus Zisternen, Kanälen und Dämmen aus dem 4. Jahrhundert n. Chr. identifizieren, die erklären, wie im unwirtlichen Nordwesten Chinas Getreideanbau möglich war – zu einer Zeit, als der Austausch mit der Welt jenseits der eigenen Grenzen erst allmählich begann.[2]
Andere Forscher erhielten bei ihrer Arbeit für Afghan Heritage Mapping Partnership (Partnerschaft für die kartographische Erfassung des afghanischen Kulturerbes) Zugang zu den Daten von kommerziellen und Spionagesatelliten sowie von Drohnen, die bei der militärischen Überwachung Afghanistans eingesetzt wurden. Auf diese Weise konnte ein detailliertes Bild der Infrastruktur aus Wohnkomplexen, die einst in Zentralasien Reisende beherbergten, Karawansereien und Bewässerungskanälen entwickelt werden. Solche Erkenntnisse helfen uns erheblich zu verstehen, wie die Seidenstraßen der Vergangenheit vernetzt waren.[3] Die Tatsache, dass diese Arbeiten zum großen Teil an abgelegenen Orten stattfinden, zeigt außerdem, dass und wie sich auch die Forschung im frühen 21. Jahrhundert weiterentwickelt.[4]
Verbesserte wissenschaftliche Methoden tragen dazu bei, die Beziehungen zwischen Nomaden und Stadtbewohnern im Herzen des vormodernen Asien zu erhellen. Die Analyse von Kohlenstoff- und Stickstoffisotopen in 47 menschlichen Gebeinen aus 14 Bestattungsplätzen in Zentralasien belegt Unterschiede in den Ernährungsgewohnheiten zwischen Menschen in festen Siedlungen und solchen in nomadischen Gemeinschaften – wobei auch deutlich wird, dass den Nomaden ein weiteres Spektrum an Nahrungsmitteln zur Verfügung stand als den Bewohnern der Dörfer, Klein- und Großstädte. Das wirft wiederum die wichtige Frage auf, welche Rolle wandernde Bevölkerungsgruppen bei der Einführung neuer Trends und des kulturellen Wandels über Hunderte und manchmal Tausende von Kilometern hinweg spielten.[5]
Inzwischen konnte durch Rückgriff auf genetische und ethnolinguistische Befunde gezeigt werden, wie sich die Verbreitung von Walnusswäldern und die Sprachentwicklung in großen Teilen Asiens überlappten. Fossile Überreste vertrockneter Walnüsse belegen, dass Walnussbäume von Händlern und anderen Reisenden bewusst als langfristige landwirtschaftliche Entwicklungsmaßnahme entlang der Seidenstraßenrouten angepflanzt wurden. Dadurch ergeben sich wiederum neue Möglichkeiten, die Wechselbeziehungen zwischen der natürlichen Welt und den Auswirkungen des zunehmenden Austausches zu verstehen – auf lokaler und regionaler Ebene, und darüber hinaus. Die Seidenstraßen fungierten auch als «Genkorridore» für Menschen, Pflanzen und Tiere.[6]
Neuere Forschungen führen das Jiddische auf den Handelsaustausch in Asien zurück und legen den Schluss nahe, dass die Sprache entwickelt wurde, um die Sicherheit von Handelstransaktionen zu gewährleisten: Man schuf ein Idiom, das nur von einigen wenigen verstanden wurde.[7] Hier ergeben sich offensichtliche Parallelen zur Welt des 21. Jahrhunderts, in der Kryptowährungen und Blockchain-Technologien den Händlern ermöglichen sollen, Transaktionen sicher abzuschließen. Auf einem anderen Gebiet ist man dabei, mit Hilfe verblüffender neuer Erkenntnisse aus der Eisbohrkern-Technologie die verheerenden Folgen der Pestepidemien zu erhellen; das ganze Ausmaß des Zusammenbruchs der Metallproduktion um die Mitte des 14. Jahrhunderts lässt sich so belegen.[8]
Im Jahr 2017 freigegebene US-Dokumente, die die Gespräche des Jahres 1952 zwischen dem britischen Botschafter in Washington, Sir Christopher Steele, und dem stellvertretenden US-Außenminister Henry Byroade darüber festhalten, wie ein Staatsstreich zur Absetzung des iranischen Premierministers Mossadegh initiiert werden könne, vermitteln uns ein klareres Bild davon, wie diese unheilvollen Pläne Gestalt annahmen.[9] Auch die Freigabe zuvor geheimer US-Pläne für einen Atomschlag aus den Anfängen des Kalten Krieges ermöglicht uns wichtige Einblicke in amerikanische Militär- und Strategieplanungen. Diese Dokumente enthalten zudem zeitgenössische Einschätzungen, wie man im Kriegsfall die Sowjetunion am besten neutralisieren könnte.[10]
Dies sind nur einige wenige Beispiele dafür, wie Historiker und andere an der Vergangenheit interessierte Forscher mit unterschiedlichen Techniken weiter daran arbeiten, die Vergangenheit genauer und umfassender zu begreifen. Genau darum ist Geschichte ja so aufregend und belebend: Man wird immer wieder veranlasst, einmal ganz anders über die Dinge nachzudenken und Verbindungen zwischen Völkern, Regionen, Ideen und Themen zu entdecken.
In den letzten Jahren ist auch klargeworden, dass es – so traumatisch oder seltsam das politische Leben im Zeitalter von Brexit, Europapolitik und Trump auch erscheinen mag – im 21. Jahrhundert vor allem die Länder der Seidenstraßen sein werden, die wahre Bedeutung erlangen. Die wirklich relevanten Entscheidungen in der heutigen Welt werden nicht – wie vor hundert Jahren – in Paris, London, Berlin oder Rom getroffen, sondern in Peking und Moskau, Teheran und Riad, Delhi und Islamabad, in Kabul und in den von Taliban kontrollierten Gebieten Afghanistans, in Ankara, Damaskus und Jerusalem. Die Welt der Vergangenheit wurde durch das Geschehen entlang der Seidenstraßen geprägt. Das wird auch in Zukunft wieder so sein.
Es folgt eine detaillierte Momentaufnahme der zeitgenössischen Verhältnisse – aber mit einem Weitwinkelobjektiv und in der Hoffnung, den erforderlichen Kontext für das Weltgeschehen herstellen zu können. Zugleich wollte ich einige der Themen beleuchten, von denen unser aller Leben und Auskommen abhängt. Die Seidenstraßen sind der...