Ich gehe mit dem Pädagogen und Islamwissenschaftler Samuel Schidem, der mit Jugendlichen zu Islam und Schoah arbeitet, einige zentrale Punkte durch, die mir zu dem Religionsbuch für Zehntklässler auch aufgefallen sind. So wie ich, findet er die Darstellung Gottes in diesem afghanischen Schulbuch einseitig. »Das Bild Gottes als ein zorniger Herrscher ist eigentlich im Judentum besonders ausgeprägt. Das ist kein spezifisches Element des Islams. Der zornige Gott im Islam tritt vor allem da auf, wo nach Ansicht der verantwortlichen Personen die Gesellschaft noch nicht in allen Aspekten des Lebens nach muslimischen Regeln funktioniert«, erklärt er mir. »Im Falle Afghanistans spielen konservative muslimische Auslegungen eine sehr starke Rolle.«
Der konservative Zug falle, so Schidem, auch bei den Ausführungen über die Missionierung auf. Denn im Laufe des vergangenen Jahrhunderts habe sich das Konzept der Missionierung im Islam verändert, vor allem durch die Entstehung neuer Staaten im Nahen Osten, die eindeutig muslimisch geprägt sind. In diesen Ländern sei Missionierung daher nicht mehr notwendig, dafür aber in Europa. Wer nämlich unter der Herrschaft der Ungläubigen lebt, ohne sich darum zu bemühen, seine Umgebung von der Wahrheit des Islams zu überzeugen, lebt nicht nach islamischen Regeln. Wenn aber in muslimischen Ländern Missionierung eigentlich keine Rolle mehr spielt, warum ist das Thema dann in einem afghanischen Schulbuch so wichtig? »Das hat mit der Instabilität des afghanischen Staates zu tun«, erklärt Schidem. Er weist auf die großen ethnischen Unterschiede im Land hin. In Afghanistan leben unter anderem Paschtunen, Tadschiken, Hazara und Usbeken. Eine homogene Gesellschaft existiere daher nicht. »Nach dem Selbstverständnis der Menschen dort ist Afghanistan kein Kernland des Islams«, erklärt er mir. Dass der Islam die Afghanen einen müsse, wird deshalb umso mehr hervorgehoben. Ich frage den Pädagogen, wie er den theologischen Charakter dieses Buches beschreiben würde. »Dogmatisch«, lautet Schidems Antwort.
Ich lege das übersetzte Schulbuch auch der Erziehungswissenschaftlerin Susanne Lin-Klitzing vor. Ihr Urteil ist eindeutig: »Das hat in der Schule nichts zu suchen, auch nicht im Religionsunterricht. Das ist enge religiöse Unterweisung. Mit diesen Texten ist eine individuelle Auseinandersetzung mit Religion schlicht nicht möglich.« Sie greift sich einen Satz heraus: »Jeder Muslim soll, soweit es seine Kraft erlaubt, sich für die Weitergabe der Religion einsetzen.« Ist es zulässig, einen solchen Satz – nach unseren Wertvorstellungen und Maßstäben – in einem Schulbuch abzudrucken? Dafür gebe es nur ein pädagogisches Mittel, erklärt mir Lin-Klitzing: Man müsse die Schüler dazu bringen, ihn zu hinterfragen. »In welchen Kontext würdest du diesen Satz verorten? Wie stehst du selbst dazu? Was ist daran gegebenenfalls problematisch? Begründe! Dann könnte ein solcher Satz in einem Religionsbuch stehen«, sagt sie. Doch in dem afghanischen Schulbuch, das ich ihr vorliege, werde wenig hinterfragt und offenbar viel auswendig gelernt. Das inhaltliche Niveau des Buches werde dem kognitiven Anspruch eines Pubertierenden nicht gerecht, urteilt Lin-Klitzing. Eine didaktische Reflexion sei nicht erkennbar. »Das inhaltliche Niveau kreist stets darum, dass ich etwas annehmen soll, wie es da geschrieben steht.«
Kritischen Bemerkungen zum Koran oder muslimischen Lehren wird gern entgegnet, in der Bibel und im Christentum sei es auch nicht besser. Auch dort werde die Allmacht Gottes propagiert. Aber lässt sich das wirklich mit dem Religionsbuch aus Afghanistan vergleichen? Als Jugendlicher besuchte ich neun Jahre lang eine katholische Schule. Die Lehrerinnen und Lehrer dort waren Nonnen, Priester, aber auch Laien. Ich kenne christliches Leben, christliche Erziehung und Wertevermittlung aus meiner Schulzeit sehr gut, und ich glaube, meine schulische Erfahrung war für deutsche Verhältnisse überdurchschnittlich konservativ. Eine geschiedene Klassenlehrerin musste, als sie ein zweites Mal heiraten wollte, die Schule verlassen. An sogenannten »Besinnungstagen« wurde viel gebetet und gesungen.
Die Ordensschwestern an meiner Schule sahen in der katholischen Kirche gewiss eine ebenso hohe Autorität wie die Autoren des afghanischen Schulbuchs im Islam. Aber wir lernten eben auch die Grundlagen des muslimischen Glaubens, lasen auch im Koran. Wir waren alle überrascht, wie schwer verständlich er war. Wir hatten erwartet, der Koran sei mehr wie die Bibel, ein Buch voller Geschichten. Und ich kann mich an keine einzige Situation erinnern, in der uns eingetrichtert werden sollte, wir müssten Menschen missionieren und Angst vor Gott haben. Religionsunterricht leistete bei uns – und das vor inzwischen immerhin 25 Jahren – deutlich mehr als die Darlegung christlicher Dogmen. Das Buch aus Afghanistan hingegen erwähnt Christen mit keinem Wort, stellt jedoch den Islam ganz klar an die Spitze einer Glaubenshierarchie, an deren unterem Ende die »Ungläubigen« stehen. Hätte man uns in meiner Schulzeit so etwas vorgesetzt, hätten wir dem Lehrer eine ziemlich ungemütliche Zeit beschert. Unsere Eltern wären wahrscheinlich Sturm gelaufen.
Zurück zu Afghanistan. Eingangs erwähnte ich, dass fast kaum irgendwo auf der Welt die Analphabetenrate höher ist als in Afghanistan. Man könnte ja nun sagen, wenigstens würde dies unter Einsatz dieser Schulbücher verbessert. Dem widerspricht Lin-Klitzing: »Ich kann vermutlich nicht einmal positiv sehen, dass Kinder hierdurch möglicherweise lesen und schreiben lernen, denn sie bekommen das über diesen hochproblematischen Inhalt vermittelt.« Es handele sich um Ideologisierung, nicht um das wertneutrale Vermitteln einer Fähigkeit. Das Urteil ist hart: Lieber keine Bildung als solche Bildung.
Dieser Befund ist umso bitterer, als dass die internationale Gemeinschaft seit 2002 versucht, Afghanistan aus der totalen Rückständigkeit zu befreien. 2016 war Afghanistan der zweitgrößte Empfänger von ODA-Mitteln weltweit; die Aufwendungen für das Land erreichten einen Umfang von etwa 4,2 Milliarden US-Dollar. »ODA« steht für »Official Development Assistance« und bezeichnet Gelder, die direkt oder durch internationale Organisationen an Schwellenländer gehen, damit diese Entwicklungsvorhaben umsetzen können. »Afghanistan ist weltweit einzigartig, was die Abhängigkeit des Landes von ausländischer Hilfe angeht«,4 diagnostizierte die Weltbank 2016. Ganze 45 Prozent des Bruttosozialprodukts machten 2013 ausländische Hilfsgelder aus.
Deutschland ist mit jährlich 250 Millionen Euro für die Entwicklung und 180 Millionen Euro für die zivile Stabilisierung der zweitgrößte bilaterale Geber, heißt es im »Bericht der Bundesregierung zu Perspektiven des deutschen Afghanistan-Engagements« von 20185. Und obwohl die Erfolge in dem Bericht als »unzureichend und brüchig« bezeichnet werden, wurden die finanziellen Hilfen immer wieder angehoben. Um ganze 281 Prozent stiegen die ODA-Mittel an Afghanistan von 2002 bis 2013. 2016/2017 flossen mehr als 300 Millionen Dollar an ODA-Mitteln in den Bildungsbereich. Und nach all den Jahren, all den Milliarden, all der Arbeit von Entwicklungshelfern und politischen Gipfeltreffen besteht eines der Ergebnisse darin, dass Kinder mit einem Schulbuch wie dem vorliegenden unterrichtet werden. Ein Buch, das sie dazu anleitet, die Welt in muslimisch und nicht muslimisch, gut und schlecht zu unterteilen. Ein Buch, in dem die Trennung von Religion und Politik infrage gestellt wird, das zum Missionieren aufruft, zur Unterwerfung. Ein Buch, das Homogenität propagiert und Vielfalt abwertet – und das plumpen Antisemitismus fördert.
Wer hat dieses Buch finanziert?
Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt, seine Wirtschaft generiert kaum steuerliche Einnahmen. Kurzum: Der Staat hat eigentlich gar kein eigenes Geld, um ein solches Buch massenhaft herzustellen. Kann es sein, dass westliches Geld, vielleicht auch Geld aus Deutschland, das in der Absicht gegeben wurde, Menschen im unterentwickelten Afghanistan zu helfen, missbraucht wird, um unter anderem Antisemitismus in Schulen zu lehren?
Die Recherche war ernüchternd bis erschütternd. Denn sie zeigte mir, wie angesichts einer kaum noch überschaubaren Zahl an Projekten, Organisationen und Initiativen offenbar niemand mehr nachzuvollziehen vermag, was mit welchem Hilfsgeld in Afghanistan passiert. Ich begriff, dass der gut gemeinte Ansatz der Entwicklungshilfe zu einer Versorgungsindustrie degeneriert ist. Nachdem ich unterschiedlichste Informationen zusammengetragen hatte, musste ich zu dem Schluss kommen: Deutsches Steuergeld finanziert auch antisemitische Inhalte in afghanischen Schulbüchern. Aber der Reihe nach.
Zunächst frage ich bei der GIZ nach. Die GIZ, die Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit, ist die größte staatliche Organisation für Entwicklungszusammenarbeit in Deutschland. Sie existiert in dieser Form seit 2011, als sich die drei Institutionen Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ), der Deutsche Entwicklungsdienst (DED) und die Internationale Weiterbildung und Entwicklung gGmbH (InWEnt) zusammenschlossen. Die GIZ verfügt über 19 000 Mitarbeiter und ein Jahresbudget von fast 2,5 Milliarden...