Ein Militärbischof sucht nach Antworten
Von der Kirche ins Krisengebiet
Anflug auf Afghanistan
Es beginnt mit einem kurzen Schock. Bevor die Maschine auf dem Flughafen von Masar-e-Scharif landet, muss sie noch einmal durchstarten. Sturmböen machen dem Piloten einen Strich durch die Rechnung. Auf der Runde zum nächsten Anflug wird der Blick frei auf die größte Stadt des afghanischen Nordens. Immer weiter breitet sie sich aus. Allen Krisen und Konflikten trotzt sie. Dann fällt der Blick auf das nahe Marmal-Gebirge. Majestätisch ruhen die kargen Berge in der Stille der Landschaft. Tiefen Frieden strahlen sie aus – in einer von Gewalt erschütterten Gegend.
Bald hat die Maschine erneut den mit deutscher Hilfe gebauten Flughafen erreicht. Und damit Camp Marmal, das Hauptquartier der deutschen Truppen. Schließlich gelingt die Landung. Als ich aus dem Flugzeug trete, schlägt mir die Hitze Afghanistans entgegen. Sie trifft auch die etwa fünfzig Bundeswehrsoldaten, die mit mir eingeflogen sind. Es ist ein freundlicher Empfang, den der General uns bei diesem Besuch im Frühjahr 2018 bereitet. Doch es herrscht eine hohe Gefährdungslage: »Fighting season«, wie man hier sagt.
Militärfahrzeuge bringen uns sicher ins angrenzende Camp. Beim letzten Mal hatte es noch Raketenbeschuss gegeben. Doch diesmal ist – Gott sei Dank – alles ruhig. Die Stadt in der Wüste: Biblische Bilder gehen mir durch den Kopf. Da steht die Kapelle, die von Soldaten eigenhändig geplant und erbaut wurde. Da ist die Moschee für die afghanischen Ortskräfte. Da die Oase, ein Ort der Erholung für die Soldatinnen und Soldaten. Und etwas abseits von all dem schweigt mahnend das große Ehrenmal für die gefallenen deutschen Soldaten.
Der Militärpfarrer empfängt uns sichtlich erfreut. Für vier Monate teilt er sein Leben mit dem der Soldaten, geht alle Weg- und Durststrecken mit ihnen. »Gemeinsames Leben« hat Dietrich Bonhoeffer das in Bezug auf seine Vikare genannt. Wie in einem Brennglas werden in diesem Camp Deutschlands neue Herausforderungen in der Welt sichtbar, von denen der Bundespräsident, die Kanzlerin und auch die Verteidigungsministerin immer wieder sprechen. Das Ende des Kalten Krieges hat die alten geopolitischen Kräfteverhältnisse aufgelöst und Deutschland in eine Position mit veränderten Aufgaben gebracht. Seit 1990 ist die Bundeswehr an sogenannten friedenserhaltenden und friedenserzwingenden militärischen Einsätzen außerhalb des NATO-Gebietes beteiligt. Manche betrachten es als »Sündenfall« der aus der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges entstandenen Bundesrepublik: Deutsche Soldaten sind wieder in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt. An dreizehn Auslandseinsätzen, drei Missionen und drei einsatzgleichen Verpflichtungen weltweit nimmt die Bundeswehr gegenwärtig teil, Tendenz nicht absehbar.
Da auch die Soldaten ein im Grundgesetz verbürgtes Recht auf Gottesdienst und Seelsorge haben, werden die Einsätze von einem Militärpfarrer oder einer Militärpfarrerin begleitet. Als Militärbischof bin ich sozusagen der pastor pastorum, der »Pastor für die Pastoren«. Ich bin für die Auswahl und Betreuung der derzeit dreiundzwanzig Militärseelsorgerinnen und fünfundachtzig Militärseelsorger in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) verantwortlich. Daher besuche ich nicht nur die hiesigen Bundeswehrstandorte, sondern fliege regelmäßig auch zu den im Ausland stationierten deutschen Truppen.
Kirchenamt im Militär
Seit ich 2014 zum ersten hauptamtlichen Militärbischof der EKD ernannt wurde, hat sich mein Leben grundlegend verändert. Ich bin nun nicht mehr, wie in meinem vorigen Kirchenamt, der Propst im regionalbischöflichen Amt, der seinen alles in allem wohlgeordneten und friedlichen zweihundertzwanzig Kirchengemeinden einen Besuch abstattet und von den heimischen Kanzeln des Taunus Frieden und Gerechtigkeit predigt. Ich kann nicht die Augen verschließen vor der Realität der kriegerischen Auseinandersetzungen, an denen Deutschland wieder aktiv und in aller Konsequenz teilhat – und in die ich als Militärbischof nolens volens verwoben bin. Deutsche Soldaten kämpfen wieder, werden verwundet, sterben, töten und bleiben mitunter lebenslang von traumatischen Erfahrungen und anderen Einsatzfolgen gezeichnet.
Ich sehe es mit eigenen Augen, ich trage es mit und muss dazu eine Haltung finden, als Mensch und als Christ. Manche scheinbare Gewissheit kommt ins Wanken, seit ich mich mit dem Thema Frieden und Militär intensiver beschäftige.
»Nie wieder Krieg!« Dieser Leitsatz sei typisch deutsch, sagte mir einmal ein polnischer Gesprächspartner. In Kreisau war das, in der Begegnungsstätte auf dem niederschlesischen Gutshof, wo mutige NS-Gegner einst ein Attentat auf Hitler planten und Konzepte entwarfen für ein befreites Deutschland in einem gerecht geordneten Europa. In Ländern wie Polen oder Israel, wo die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg von anderen Perspektiven geprägt sei als bei der Mehrheit der Deutschen, heiße die Lehre von damals zugleich: »Nie wieder wehrlos.« Diese Worte stimmten mich nachdenklich.
Im gesellschaftlichen und im kirchlichen Umfeld sollte man sich bewusst machen, dass Friedensliebe wie nahezu jede ethische Maßgabe auch zeitlichen Rahmenbedingungen unterliegt. Das zum Frieden mahnende Zeugnis der Kirche fruchtet nämlich nur dann politisch, wenn es der komplexen Realität gewachsen ist.
Eine Totalverdammung militärischer Gewalt kann, auch das deutete mein polnischer Gesprächspartner an, die Flucht aus konkreter Verantwortung verschleiern. Wäre alles Militärische schlechthin vom Teufel, dann löste sich ja der Unterschied zwischen solcher Gewalt, die Unrecht stürzt, und solcher, die Unrecht stützt, in Nebel auf.
Andererseits steht für mich fest: Für Christinnen und Christen gibt es kein Zurück hinter das Wort des Weltkirchenrates von 1948. Es lautet: »Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein!«
Krieg ist ein Übel. Er ist böse. Er verkörpert das Widergöttliche in der Welt, wie Christen es in der Erlösungsbitte des Vaterunsers ansprechen. Vom üblen Wesen des Krieges kann in der deutschen Gegenwart kaum jemand so anschaulich berichten wie Soldaten der Bundeswehr, die in Auslandseinsätzen mit Verletzung und Tod, Schuld und Hilflosigkeit konfrontiert werden, von denen mancher traumatisiert nach Hause kommt – und oft viel zu wenig Anteilnahme und Unterstützung findet.
Doch nicht die Angehörigen der Bundeswehr beschließen, auf Auslandsmissionen zu gehen, sondern es ist der Deutsche Bundestag, das Parlament, das wir gewählt haben. Die Gesellschaft sollte die Soldatinnen und Soldaten mit dem Auftrag, den sie ihnen erteilt hat, nicht allein lassen.
Kriegsrealität
In Afghanistan ist die Bundeswehr seit Anfang 2002, seit sich Deutschland nach den Anschlägen vom 11. September 2001 dem von den USA angeführten »Krieg gegen den Terror« angeschlossen hat. Natürlich stellt sich die Lage hier ganz anders dar als im Europa zur Zeit der Weltkriege. Die heutige Herausforderung heißt »asymmetrischer Krieg«, trägt also auch Züge von Bürgerkrieg und Terrorismus und mutet den Juristen, den über ethische Fragen Nachdenkenden und vor allem den Soldatinnen und Soldaten allerhand zu.
Mehr als siebzehn Jahre sind deutsche Truppen nunmehr am Hindukusch stationiert. Es ist ihr bislang verlustreichster, in jeder Hinsicht teuerster und bald auch längster Einsatz. Als ich im Frühjahr 2018 nach Masar-e-Scharif und Kabul kam, hatte sich die Sicherheitslage seit meinem letzten Besuch weiter verschlechtert. Die Taliban und jetzt auch die Terroristen des sogenannten Islamischen Staats halten das Land unbarmherzig in Angst und Schrecken. Etwa die Hälfte des Territoriums haben sie derzeit in ihrer Gewalt. Ständig schlägt irgendwo eine Rakete ein, explodiert eine Bombe, jagt sich ein »Suizider«, ein Selbstmordattentäter, in die Luft. Hunderte, ja Tausende von Menschen verlieren ihr Leben, zum großen Teil Zivilisten. Ende 2018 meldete Präsident Ghani den Tod von fast dreißigtausend afghanischen Sicherheitskräften seit 2015 – ungezählt die Opfer aufseiten der Taliban. Es ist eine in jeder Hinsicht entgrenzte Sicherheitslage.
Und das nach fast zwei Jahrzehnten »Krieg gegen den Terror«. 2016 wurde das deutsche Generalkonsulat in Masar-e-Scharif durch einen Sprengstoffanschlag zerstört, 2017 dann die deutsche Botschaft in Kabul. Seither befinden sich die beiden Einrichtungen in den Camps und nicht mehr im Stadtgebiet. In der Wahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit hatten die Soldatinnen und Soldaten den Auftrag, zur Stabilisierung des Landes beizutragen, sie sollten beim Aufbau der Infrastruktur helfen, Offiziere ausbilden, Schulen errichten. Inzwischen gleicht Camp Marmal einem abgeriegelten Hochsicherheitstrakt, der aus der Luft mit Kameras überwacht wird.
Sie fühlten sich wie in einem Käfig, erzählten mir Soldaten. Auch Militärseelsorger, die in Afghanistan in letzter Zeit Dienst taten oder immer noch tun, berichten vom schwer erträglichen Eingesperrtsein, von einem militärischen Paralleluniversum nahezu ohne Kontakt zur zivilen Welt. Die Bilder, auf denen man...