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Die erste Herausforderung
Sigmundskron, November 1957
Schau sie nicht an«, wispert Max, während sie unter den wachsamen Blicken zweier Carabinieri vorbeilaufen. Doch Peter, neben ihm, kann kaum den Blick abwenden von den Waffen in ihren Händen.
»Wenn du sie anschaust, denken sie, du willst sie provozieren, und lassen uns nicht durch«, davon ist Max überzeugt. Schon seit gestern betet er ihm das immer und immer wieder vor.
»Die aus Neumarkt werden auch da sein«, ruft ihm Peter ins Gedächtnis. Es sind Leute, die er oft sieht, Männer in Uniform, die abends nach der Arbeit gelegentlich auf ein Gläschen im Gasthaus Staffler vorbeikommen, dem von seiner Mutter geführten Lokal kurz hinter Pinzon.
»Das hier ist etwas anderes«, knurrt Max.
Peter muss ihm beipflichten. Dies ist schließlich kein gewöhnlicher Tag.
Denn an diesem 17. November 1957 gilt es den Italienern zu zeigen, dass die Südtiroler wild entschlossen sind, für ihr Land zu kämpfen. Mit dieser Großkundgebung wird Schloss Sigmundskron, das oberhalb von Bozen thront, erneut zum historischen Schauplatz.
Peter und Max fühlen sich wie Soldaten, die in die Schlacht ziehen, und sie sind nicht die einzigen. Polizei, Carabinieri: Das Aufgebot an Ordnungskräften lässt eher an einen Volksaufstand denn an eine Kundgebung denken.
Vielleicht ist es genau das, was sie erwarten: Gewalt.
Als Peter an einem weiteren Wachmann vorbeikommt, wird er von einem drängelnden Pärchen grob zur Seite geschubst. Der Junge stolpert und schwankt, die Hand des Wachmannes zuckt zur Waffe. Peter findet schnell das Gleichgewicht wieder, doch mit dem geübten Instinkt des Boxsportlers schnellt sein Arm vor, um den Gegner abzuwehren. Max hält ihn zurück, packt den Freund am Handgelenk und ruft mit künstlich schriller Stimme dem Pärchen, das inzwischen vor ihnen ist, zu: »He, nicht drängeln! Wir wollen alle schnell ankommen.«
Peter weicht hinter ihn zurück, das Gesicht hochrot. Er kommt sich ungeschickt und feige vor, denn er hat nicht einmal den Mut aufgebracht, den Polizisten anzusehen. Aber er hat dessen Nervosität gespürt. Es ist, als befände sich Italien im Belagerungszustand. Der Kampf zwischen »Deutschen« und »Italienern« liegt in der Luft. Eine falsche Geste, und im Handumdrehen wäre alles möglich.
Der kalte, klare Herbsthimmel wirkt wie aus Glas. Etwas droht zu zerbersten, ein Riss genügt.
Heute ist ein guter Tag, um lautstark »Freiheit!« zu rufen.
Max und Peter sind fast oben angelangt, hinter ihnen schlängelt sich inzwischen ein dichter Menschenstrom. Die Leute sind mit Bussen, Autos, Fahrrädern und sogar mit Kaleschen gekommen, die Männer in Tracht, mit dem grauen Hut, in Lodenjacke und Mantel. Aus den Städten und von den Bergen, aus Tälern und kleinen Dörfern sind die Bewohner Südtirols herbeigeströmt.
Die beiden Jungen legen das letzte Stück auf der Straße zurück und betreten den großen Burghof. Spannung liegt dort in der Luft, sie ist geradezu greifbar. Peter vergisst sogar seine Sorge um die Zündapp, das Motorrad mit Beiwagen, das er ein gutes Stück weiter unten hat stehen lassen müssen. Eine große Maschine, die er in seinem Alter eigentlich noch gar nicht fahren dürfte. Er leiht sie sich nur zu besonderen Anlässen von seinem Freund Hermann, dem »Krüppel«.
Die zwei klettern geschickt auf die Mauer und setzen sich. In dem großen, von Festungsmauern umschlossenen Raum zu ihren Füßen ist in dem Gedränge nur noch ein schmaler Durchgang vor der hölzernen Tribüne für die Redner frei. Max hält den Sucher seines Fotoapparats – ein echtes Schmuckstück, eine Leica M3 mit Teleobjektiv – fest ans Auge gedrückt. Eingehend mustert er die Gesichter der Menschen, es scheint ihm, als könne er jedes Detail erfassen: hier ein Lächeln, dort eine verdrießliche Falte auf der Stirn eines alten Bauern.
Peter stößt ihn in die Seite. »Wir sollten zusehen, dass wir kurz vor dem Ende verschwinden.«
»Nur die Ruhe, denkst du jetzt schon daran, zu gehen? Du bist immer so angespannt …«, zieht Max ihn auf.
»Wir könnten ins Gedränge geraten, und ich will nicht zu spät heimkommen.«
»Du hast deiner Mutter nichts erzählt, stimmt’s?«
Peter schüttelt den Kopf, und Max lässt die Leica sinken, um seinen Freund anzuschauen. Er ist so hübsch, der Peter, mit seinen grünen Augen, den von Wind und Sonne geröteten Wangen, den vollen Lippen. Er würde ihm gern mit der Hand durch die braunen Locken streichen, um ihn zu beruhigen. Aber so was macht man nur bei Kindern, und sie sind bereits Männer.
»Sei unbesorgt«, beschwichtigt er ihn. »Ich habe selbst keine Lust, den ganzen Tag hier zu verbringen.«
Derweil sind Schilder aufgetaucht: TIROL DEN TIROLERN. WIR WOLLEN KEINE ITALIENISCHE KOLONIE SEIN. Seit vierzig Jahren dieselben Slogans, denkt Max, seit Südtirol 1919 von Österreich an Italien ging. Doch geändert hat sich bisher nichts. Höchstens zum Schlechteren: 1948 hat die Regierung in Rom die Provinzen Bozen und Trient zu einer Einheit zusammengefasst, um die deutschsprachige Minderheit in einer Mehrheit aus Italienern untergehen zu lassen.
Max richtet das Objektiv auf eine Gestalt, die aus der kleinen, vor der Tribüne zusammengedrängten Gruppe heraussticht. Er nimmt die kräftige, mit einem teuren Anzug bekleidete Figur in den Fokus, das gut aussehende, etwas grob geschnittene Gesicht, aus dem die grauen Augen hervorstechen. Es sind dieselben Augen wie seine.
»Sieh mal an, wer da ist«, sagt er in gedehntem Tonfall und reicht dem Freund den Apparat.
»Dein Vater. Hab ich dir nicht gleich gesagt, dass er kommt?« Peter ist immer wieder aufs Neue erstaunt, wie sich zwei Menschen gleichzeitig derart ähneln und dennoch so verschieden aussehen können. Max’ Gesicht ist zart mit ebenmäßigen Zügen und gerader Nase. Kurt hat einen kräftigen Kiefer, der von einem schmalen Schnurrbart verdeckte Mund gleicht einer rotvioletten Wunde. Doch ihre Augen sind derart ähnlich …
Die Menge bricht in jubelnden Applaus aus, und die beiden Buben springen auf der Mauer auf die Füße, ohne sich um den Abgrund in ihrem Rücken zu scheren. Sie wollen sich nicht das geringste Detail entgehen lassen. Ein großer, hagerer Mann mit schwarzem Haar, eingefallenen Wangen und Hakennase steigt mühsam die Stufen zur Tribüne hinauf. Man hilft ihm, zum Rednerpult zu kommen und das Gleichgewicht auf dem einen, ihm noch verbliebenen Bein zu halten. Es ist Silvius Magnago, der Landtagspräsident und Vorsitzende der Südtiroler Volkspartei SVP, die seit über zehn Jahren die Politik in der Provinz beherrscht und unter der deutschsprachigen Bevölkerung die absolute Mehrheit innehat. Die jüngsten Neuerungen an der Parteispitze haben Männer an die Macht gebracht, die eine neue Gangart sowohl gegenüber Rom als auch bei den internationalen Beziehungen für notwendig erachten. An diesem 17. November 1957 soll das Bad in der Menge der Demonstranten von Sigmundskron dazu dienen, seiner Stimme bis in die italienische Hauptstadt Gehör zu verschaffen, aber auch dazu, den Fanatikern, die eine Abspaltung fordern, den Wind aus den Segeln zu nehmen. Der einbeinige Mann versteht sich meisterhaft auf die Kunst, das Gleichgewicht zu wahren.
Max und Peter hören aufmerksam zu. Aber die Wendung, die seine Rede nimmt, begeistert sie nicht. Es geht um italienische Zuwanderung, immer dieselbe Leier. Aber nicht um ein vereintes Tirol, nicht um ihre Identität. Magnago ereifert sich über die Verteilung der von der Regierung errichteten Sozialwohnungen. »Wer erhält die neuen Wohnungen? Fast ausschließlich Italiener. Und warum? Weil diese mit Staatsmitteln erbauten Wohnungen grundsätzlich jenen Personen vorbehalten sind, die die größte Not aufweisen. Die größte Not haben natürlich jene, die erst gestern gekommen sind. Und wer ist erst gestern gekommen? Nicht wir, sondern die Italiener.«[1]
Max hofft, dass endlich von Abspaltung die Rede sein wird. Es gibt verschiedene Strömungen in der Parteibasis, und er ist für die harte Linie, für den Bruch mit Rom und den Wiederanschluss an Österreich. Einen Sonderstatus im Rahmen der Italienischen Republik auszuhandeln genügt ihm nicht, wird ihm niemals genügen.
Doch Magnagos Rede weist in eine andere Richtung.
»Die Zuwanderung ändert aber nicht nur das völkische Bild von Südtirol, sie ändert auch das weltanschauliche Bild. Das ist eine sehr ernste Frage«, ruft er in Anspielung auf den Zustrom von Italienern aus anderen Regionen in Erinnerung. »Wir als katholische Partei haben eine Verpflichtung, auch diese Seite zu untersuchen. Die Südtiroler sind vom Kommunismus unberührt geblieben. Aber er kam durch die Zuwanderung. Die Anfälligkeit der Zugewanderten gegen den Kommunismus muss uns zu Besorgnis Anlass geben, besonders auch wegen der wichtigen strategischen Lage unseres Gebietes für das freie Europa.«[2]
Max wechselt den Film. Die Gesichter, die er aus der Menge einfängt, interessieren ihn inzwischen mehr als die Worte des Redners. Seit wann sind die Kommunisten ein Problem? In Bozen sind sie praktisch inexistent.
»Komm, lass uns abhauen«, schnauft Peter. »Es ist das übliche Geschwätz.« In seiner Stimme schwingt ein Hauch von Bitterkeit mit, er hatte gehofft, dieser Tag würde einen Wendepunkt markieren. Stattdessen bleibt alles beim Alten.
Doch Max rührt sich nicht. »Warte noch einen Augenblick«, murmelt er. Er hat das Gesicht seines Vaters Kurt ins Visier genommen, der zusammen mit den Honoratioren der...