Artikel 20
Der 30. Mai 1968 war ein aufregender Tag: Im Bundestag wurde dem deutschen Volk das Recht auf Widerstand gewährt. Der neu in Artikel 20 GG eingefügte Absatz 4 soll die freiheitlich-demokratische Grundordnung schützen: »Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.« Der Absatz war im Rahmen der am selben Tag beschlossenen Notstandsgesetze in die Verfassung aufgenommen worden. Konservative hielten den Zusatz für überflüssig oder tendenziell gefährlich, Linke sahen darin nur eine Augenwischerei angesichts der Vorkehrungen für den »inneren Notstand«, da die Bundeswehr im Notfall von nun an auch gegen bewaffnete Aufständische eingesetzt werden konnte. Schon zwei Wochen zuvor hatten Zehntausende auf einem Sternmarsch in die damalige Bundeshauptstadt Bonn gegen die Notstandsverfassung protestiert, in der nicht wenige die Gefahr eines neuen Faschismus erblickten.[10] Für die APO, in dieser Angelegenheit ein echtes Bündnis aus Studenten und Gewerkschaften, zielte Artikel 20 auf ebenjene, die wirklich Widerstand leisteten. Ulrike Meinhof drückte es besonders prägnant aus: »Protest ist, wenn ich sage, das und das paßt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß das, was mir nicht paßt, nicht länger geschieht. Protest ist, wenn ich sage, ich mache nicht mehr mit. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß alle andern auch nicht mehr mitmachen.«[11] Inspiriert war sie durch ein Teach-in mit radikalen Black Panthers in Westberlin. Wenig später ging die Journalistin in den selbst erklärten Widerstand der RAF, bei dem »natürlich geschossen« (Meinhof) werden durfte.
Dass die »BRD« auf einen neuen Faschismus zusteuerte, war eine krasse Fehldeutung. Die Zeit um 1968 entpuppte sich eher als Aufbruch aus der autoritären Republik in eine Fundamentalliberalisierung, wie Jürgen Habermas das Erreichte später resümierte. Gegen die Notstandsgesetze zu opponieren, war im Blick auf das eilige Durchpauken des Pakets im Bundestag durch die Große Koalition durchaus nachvollziehbar, ebenso gute Gründe gab es für den parallelen Protest gegen den Vietnamkrieg, der nicht zuletzt von US-Militärbasen in Deutschland geführt wurde. Und ja, es gab Zustände im deutschen Alltag und institutionelle Missstände, die den Ruf nach einer »großen Weigerung« (Herbert Marcuse) plausibel machten. Doch für militanten Widerstand gegen die durchaus reformbereite Große Koalition unter Kanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) und Außenminister Willy Brandt (SPD) bestand kein Anlass.
Heute kommt die pathetische Resistance-Rhetorik von den Rechtsradikalen, die »1968 ausknipsen« (Marion Maréchal) und die »rot-grün versiffte Republik« (Jörg Meuthen) stürzen wollen. Sie maßen sich an, gegen die »Umvolkung«, den angeblichen Verrat am deutschen Volk durch unkontrollierten Zustrom von Migranten, den Widerstand auszurufen. Der primitive Wutausbruch »Merkel muss weg!« ist die Übersetzung des Schlachtrufs der Trump-Follower gegen Hillary Clinton: »Lock her up!« (Sperrt sie ein!) Ganz rechts findet eine seltsame Mimikry statt: Mit 68er-Methoden gegen Errungenschaften von 68. 2016 berief sich ein Konvent des identitären Instituts für Staatspolitik auf ebenjenes in Artikel 20 Absatz 4 gewährte Widerstandsrecht, um die demokratisch gewählte Regierung aus dem Amt zu jagen.[12] In diesem Geiste unterzeichneten auch Zigtausende die in den sozialen Medien verbreitete »Gemeinsame Erklärung 2018«: »Mit wachsendem Befremden beobachten wir, wie Deutschland durch die illegale Masseneinwanderung beschädigt wird. Wir solidarisieren uns mit denjenigen, die friedlich dafür demonstrieren, dass die rechtsstaatliche Ordnung an den Grenzen unseres Landes wiederhergestellt wird«.[13] Friedliche Restauration? Bei solchen Demos wird auch mal ein (natürlich immer nur symbolisch gemeinter) Galgen mitgeschleppt. Die ehrenwerten Bürger, die sich hinter den Initiatoren Vera Lengsfeld, Henryk M. Broder, Uwe Tellkamp, Thilo Sarrazin und Matthias Matussek versammelten, ließen an ihren bereitwillig mitgelieferten Berufsbezeichnungen erkennen, dass Widerstandslust nicht von ganz unten kommt, sondern im Mittelstand wurzelt. Selbstverständlich ist es jedem unbenommen, gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung zu demonstrieren, doch es ist hanebüchen, dafür ein Widerstandsrecht in Anspruch zu nehmen, weil hier keine Regierung geltendes Recht gebrochen oder gar gegen das Naturrecht verstoßen hat.[14]
Der im Folgenden behandelte Widerstand richtet sich umgekehrt gegen solche völkisch-autoritären Bewegungen, Parteien und Regime, die liberale Demokratien rund um den Globus herausfordern. Während »#Resist!« eine gängige Losung der demokratischen Opposition gegen Präsident Donald Trump geworden ist, klingt der Begriff in deutschen Ohren pathosverdächtig nach dem historischen Widerstand gegen die Diktatur der Nationalsozialisten. Subjektiv befinden sich freilich Demonstranten gegen die Abholzung des Hambacher Forstes ebenso im Modus eines existenziellen Widerstands gegen den weiteren Abbau von Braunkohle wie der Schwarze Block gegen den G20-Gipfel in Hamburg im Juli 2017. Offenbar muss man den schillernden Begriff genauer ausloten, ihn historisch erden und seine heutigen Kontexte sortieren.
Wer an Leib und Leben Schaden zu nehmen droht, darf sich wehren – an dem Gemeinplatz wird niemand zweifeln, aber lässt sich das auf eine Obrigkeit, eine demokratisch gewählte Regierung, übertragen? Wenn Tyrannei droht, ja, hieß es in der Antike. 514 v. Chr. wurde in Athen der Tyrann Hipparchos durch Harmodios und Aristogeiton ermordet. Einen ungerechten Herrscher, der großes Unheil anrichtete, zu beseitigen, um weiteren Schaden für das Gemeinwesen zu vermeiden, gilt Verfechtern des Tyrannenmordes seither als natürliches Recht. Ein Attentat wiegt dann weniger schwer als die dauernde Hinnahme von Unterdrückung, Gewalt und Massenmord. Zweifel an dieser Abwägung blieben, auch die Befürchtung, politischer Mord könne bloßer Vorwand für eigenes Machtstreben oder eine private Abrechnung sein (wie das übrigens schon im Fall des Hipparchos vermutet wurde). Auch der »Kreisauer Kreis« stritt heftig über die Frage, ob man Adolf Hitler, einen offensichtlichen Willkürherrscher, Kriegsverbrecher und Völkermörder, mit Gewalt beseitigen dürfe, wozu sich die aus diesem Kreis hervorgegangenen Attentäter des 20. Juli 1944 dann ohne letzten Erfolg durchrangen.
Das Widerstandsrecht fand Eingang in richtungweisende Verfassungsdokumente seit der Magna Charta von 1215. Im etwa zeitgleichen Sachsenspiegel hieß es: »Der Mann muß auch seinem König und Richter, wenn dieser Unrecht tut, Widerstand leisten und helfen, ihm zu wehren in jeder Weise, selbst wenn jener sein Verwandter oder Lehnsherr ist, und damit verletzt er seine Treupflicht nicht.« Die Monarchomachen, eine Gruppe calvinistischer Publizisten, leiteten im 16. Jahrhundert daraus die generelle Begrenzung der Staatsgewalt ab und proklamierten ein Recht der Stände, Herrscher auf friedlichem Wege abzusetzen – im Notfall auf unfriedliche Art und Weise. Friedrich Schiller versetzte sich in die aufständischen Niederländer: »Groß und beruhigend ist der Gedanke, daß gegen die trotzigen Anmaßungen der Fürstengewalt endlich noch eine Hilfe vorhanden ist, daß ihre berechnetsten Pläne an der menschlichen Freiheit zuschanden werden, daß ein herzhafter Widerstand auch den gestreckten Arm eines Despoten beugen kann.«[15] So hat Schiller den »W-Punkt« bedacht und abgewogen, wann der kairós, der richtige Moment zum Widerstand gegen einen Tyrannen, gekommen ist.
Das Schwanken des Widerstandsgedankens zwischen Legalität und Legitimität kann man exemplarisch darlegen am philosophischen Fernduell zwischen John Locke und Immanuel Kant. Der Engländer leitet im »Second Treatise on Goverment« (1689) das Recht auf Widerstand gegen Willkürherrschaft aus dem (fiktiven) Gesellschaftsvertrag ab: Wenn Bürger aus dem Naturzustand treten, delegieren sie ihr natürliches Recht auf Selbstverteidigung an eine Regierung, die Leben, Freiheit und Eigentum des Einzelnen schützen soll. Wenn diese versagt oder sich selbst aufführt wie Räuber, Piraten und Fremdherrscher, fällt das Selbstverteidigungsrecht an die Bürger zurück, die sich wehren dürfen, wenn sonstige Mittel des Rechtsschutzes ausgeschöpft sind. Dagegen wandte Immanuel Kant ein Jahrhundert später in der Metaphysik der Sitten (1797) ein, das Volk könne egoistische Ziele verfolgen, die sich ständig verändern; da wäre es nicht logisch, dem Souverän eine alleroberste Instanz, das Volk selbst, überzuordnen. Nur die Geltung positiven Rechts könne den Rückfall in den Naturzustand vermeiden. Lockes Zeithintergrund war der konfessionelle Bürgerkrieg in England, Kant schrieb vor dem Hintergrund der Wende der Französischen Revolution in die Terreur und der Gegenrevolution der Vendée. Er gab dem »Gebrauch der Feder« den Vorzug, der Ausübung von Gedanken- und Meinungsfreiheit im Rahmen der geltenden Gesetze.
Das Recht auf Widerstand ist in vielen Verfassungen verankert, nur wozu nutzt es, wenn eine Diktatur bereits errichtet und keine Richter mehr vorhanden sind? Ist man dann wie Georg Elser, der einsame Attentäter des Jahres 1939, der Adolf Hitler im Münchner Bürgerbräukeller in die Luft jagen...