1. Mein Leben mit der Krankheit
»Alzheimer – so ’ne Scheiße!«
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»Ich bin doch noch jung, keine 70. Ich war doch immer fit, topfit, ein Fußballer eben. Und jetzt Alzheimer. Warum ich? Assauer, frage ich mich, warum du?
Will man den dicken Max machen, nach außen stark sein, dann sagt man gerne: Ich kenne keine Angst. Doch wenn es eine Sache in der Welt gibt, wenn es eine Sache in meinem Leben gibt, vor der ich immer Angst hatte, so richtig Schiss auf gut Deutsch, dann Alzheimer. Bloß nicht diese Nummer. Bloß nicht dement werden im Alter, das schwirrte mir oft im Kopf herum. Erst meine Mutter, dann mein Bruder – und nun hat’s mich erwischt, jetzt muss ich damit klarkommen. Ich gehe doch erst langsam auf die 70 zu. Ich wollte doch das Alter, das Leben genießen. So ’ne Scheiße. Verdammt noch mal.«
Rudi Assauer hat Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium. Auf sich allein gestellt, wäre er nicht mehr lebensfähig, er könnte sich nicht mehr ernähren, würde vergessen, sich zu waschen. Einkaufen, kochen – unmöglich. Um ihn kümmert sich liebevoll Bettina, seine Tochter. Sie hat ihn zwischenzeitlich in ihrer Wohnung aufgenommen, eine Übergangslösung. Frau Söldner, Sekretärin und guter Geist, regelt im Büro die Termine, organisiert sämtliche Anfragen und Verpflichtungen.
Von seiner Frau Britta, die er im April 2011 im Rittersaal von Schloss Horst in Gelsenkirchen standesamtlich geheiratet hat, hat sich Assauer mittlerweile getrennt. Bis Dezember 2011 lebte er mit der 21 Jahre jüngeren Frau in einem Haus im Gelsenkirchener Stadtteil Buer. Wie so viele Eheleute kamen beide jedoch mit den Konsequenzen der Demenzerkrankung nicht zurecht, waren den zunehmenden Belastungen nicht gewachsen.
Rudi Assauer hat eine Fußballerkarriere gemacht, von der Millionen Hobbykicker nur träumen. Sechs Jahre bei Borussia Dortmund, sechs Jahre bei Werder Bremen, 307 Bundesligaspiele, DFB-Pokalsieger, Europapokalsieger der Pokalsieger. Danach Manager bei Werder Bremen, beim VfB Oldenburg und verteilt über drei Jahrzehnte beim FC Schalke. Er bewahrt den Traditionsklub vor dem Lizenzentzug, erfindet Huub Stevens als Schalke-Trainer, bastelt die Eurofighter-Mannschaft und sorgt damit für den größten Triumph der königsblauen Vereinsgeschichte: den Gewinn des UEFA-Cups 1997. Danach baut er die modernste Arena Europas: Die neue Heimat des FC Schalke wird 2001 eröffnet. Es ist sein Werk, und Fußball ist sein Leben. Bald wird das alles in seinem Kopf gelöscht sein. Vergessen. Durch dieses Buch sollen sich die Leute an sein Lebenswerk erinnern.
»Ein körperliches Gebrechen, das lässt sich vielleicht beheben oder lindern. Wie bei mir der Ärger mit der Bandscheibe – ’ne unangenehme Geschichte, aber okay. Manche Dinge sind altersbedingt, die kleinen Zipperlein, die größeren, ach – damit kannste leben. Muss man ja, das gehört zum Altern dazu. Es gibt Gehhilfen, künstliche Knie, neue Hüftgelenke, andere freuen sich des Lebens mit ’nem Herzschrittmacher. Aber der Kopf. Die Birne. Schlimmer geht’s nicht.«
Assauer ist einer von 1,2 Millionen Demenzkranken in Deutschland, Tendenz steigend. Denn: Mit dem Alter erhöht sich das Risiko einer Erkrankung. So leidet zwischen 65 und 69 Jahren jeder Zwanzigste daran, zwischen 80 und 90 ist schon fast jeder Dritte davon betroffen. Da in Deutschland der Anteil älterer Bürger zunimmt, rechnen Experten für das Jahr 2030 mit 2,5 Millionen Erkrankten.
Demenz – abgeleitet vom lateinischen Wort für Unvernunft – bedeutet wörtlich übersetzt »weg vom Geist« oder auch »ohne Geist« und bezeichnet das schleichende Vergessen, den sukzessiven Verlust der Denkfunktionen. Die Alzheimerkrankheit ist benannt nach dem Psychiater Alois Alzheimer und ist die häufigste aller Demenzerkrankungen. Rund 60 Prozent aller Demenzen werden durch sie hervorgerufen.
Die Krankheit berührt den Menschen in seinem tiefsten Inneren, in seiner Persönlichkeit. Sie lässt die Vergangenheit erlöschen, zerstört die Orientierung in der Gegenwart und nimmt ihm die Zukunft. Man wird ein anderer Mensch – ist wie ausgewechselt.
»Ich habe eines Tages gemerkt, dass der Kopf in manchen Situationen nicht so wollte, wie ich wollte. Als wäre da oben eine Tür zu, zack – einfach geschlossen. Ich war nicht mehr so aufnahmefähig, es ging nichts mehr rein. Dann tut man das ab. Ach, Assi! Tagesform. Ein schlechter Tag eben. Wenig geschlafen, viel gearbeitet. Was soll’s? Immer häufiger spürst du aber: Du bist blockiert. Bestimmte Dinge, ob Namen, ob Termine – sie sind ums Verrecken nicht mehr da. Wie gelöscht. Man fühlt sich ohnmächtig. Das ist am Anfang blöd, richtig blöd. Du denkst: Das gibt’s nicht, das kann doch nicht wahr sein.«
Die Vergangenheit der Patienten rinnt wie durch eine Sanduhr. Erst langsam, dann immer schneller. Die Betroffenen fühlen sich verlassen, im Stich gelassen vom eigenen Ich. Die exakte, komplexe Erinnerung blinzelt in bestimmten hellen Momenten durch wie die Sonne an einem trüben Tag durch die Wolken. Personen, Namen, Orte, Daten – alles fließt durch die Sanduhr. Die Öffnung lässt sich nie mehr schließen, die Dicke des Nadelöhrs lediglich konstant halten.
Bei Rudi Assauer setzen erste kleinere Vergesslichkeiten und Erinnerungslücken ab 2005 ein. Beobachter führen die Aussetzer auf den Stress zurück, schließlich ist er zu dieser Zeit noch Schalke-Manager. Wer denkt da schon an Alzheimer? Ab 2007 wurden es mehr und mehr. Der Sekretärin fällt auf, dass ihr Chef mehrmals am Tag bei einem Anruf die gleiche Frage stellt. Immer häufiger muss er selbst im Gespräch nachhaken, sich vergewissern. Immer häufiger spricht er auch im Laufe einer Unterhaltung zwei- oder dreimal genau das gleiche Thema an.
»Wenn die Leute dann so komisch geguckt haben, mit diesem leicht irritierten Gesichtsausdruck, hat mich das stutzig gemacht. In dem Moment, in dem du erkennst, dass du das Problem bist, tut es weh. Aber man verdrängt das. In diesem Punkt funktioniert der Kopf blöderweise einwandfrei.«
Assauer hält Absprachen nicht mehr ein, vergisst Termine und Namen. Die innere Wiederholungstaste funktioniert nicht mehr. Schon telefoniert mit demjenigen oder nicht? Schon über dieses oder jenes Thema gesprochen? Eben am Telefon? Vielleicht gestern schon? Anfang der Woche? Letzte Woche? Mehrmals? Oder am Ende etwa überhaupt nicht?
»Einmal im Jahr habe ich mich immer vom Arzt komplett durchchecken lassen. Aber nun war etwas anders. Ich habe gespürt, dass irgendwas nicht stimmte. Meine Sekretärin Frau Söldner hat mich eines Tages gefragt, ob wir mal einen Test machen sollten. Was? Nicht nur wie sonst den Körper? Auch die Birne überprüfen? Ich hatte mit niemandem darüber geredet. Da ist dieses Schamgefühl. Als könnte man was dafür! Man will es nicht zugeben. Mit wem soll man auch sprechen? Mit jemandem aus der Familie? Nein. Mit der Partnerin? Schon gleich gar nicht. Gibt es etwas Peinlicheres? Wenn man sich den Arm bricht oder sonst einen Knochen, gibt’s einen Gips und fertig, wird schon wieder. Aber Alzheimer! Als Knirps hat man sich darüber lustig gemacht. Hehe, haste wohl vergessen, du Alzi. Na, biste blöd, das weißte nicht mehr, du Patient! Alzheimer war als Kind für einen so weit weg wie die Vorstellung, eines Tages nicht mehr so schnell rennen zu können, wie man möchte.«
Assauers Nichte Dagmar, Tochter seines Bruders Lothar, gibt Frau Söldner den Tipp, einen Termin zur Untersuchung in der Essener Memory Clinic zu vereinbaren. Die Sekretärin fasst sich daraufhin ein Herz und informiert Katy, die jüngere seiner beiden Töchter. Im Januar 2010 fährt Katy dann mit ihrem Vater in die Klinik nach Essen-Borbeck. Nach der ersten Untersuchung und ein paar weiteren Sitzungen kommt es zu Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden, der Kontakt bricht ab. Von nun an kümmern sich Bettina, die ältere Tochter, und seine damalige Partnerin Britta. Im Sommer 2010 nimmt Assauer die Therapie in der Memory Clinic wieder auf, regelmäßige Sitzungen folgen.
Die ambulante Beratungsstelle des Elisabeth-Krankenhauses besteht seit April 1991. Klinikleiter Professor Hans Georg Nehen, Nervenarzt Dr. Johannes Haseke, Pädagoge Dr. Hartmut Fahnenstich sowie Sozialpädagoge Carsten Brandenberg behandeln die Patienten in der Gedächtnisambulanz, steuern die medikamentöse und soziale Betreuung. Es werden regelmäßige Angehörigengespräche vereinbart oder Freunde, ehemalige Weggefährten und Berufskollegen eingeladen. Der Demente kann zwar nicht mehr neu dazulernen, aber Vergangenes reaktivieren, mithilfe bestimmter Übungen und Gespräche wieder hochholen. Darüber hinaus werden banale Fragen nach dem aktuellen Jahr, dem Monat, dem Wochentag gestellt. Oder dem Aufenthaltsort, der Stadt. Einfache Rechenaufgaben aus dem Bereich des Einmaleins sind zu lösen, die Patienten sollen sich über wenige Minuten im Gespräch drei Worte merken. Ein weiterer Test, den auch Assauer gemacht hat, beginnt mit einem Blatt Papier, auf dem ein Ziffernblatt aufgemalt ist. Der Demenzkranke soll auf Zuruf eine Uhrzeit, sprich die Zeiger, einzeichnen. Assauer besteht einige der Tests nur mit Mühe. Die meisten Aufgaben löst er gar nicht.
»Die Leute dort in der Klinik sind gut, echt kompetent. Alle schwer in Ordnung. Ich weiß, dass die mir helfen wollen. Ich denke laufend daran, an diese Scheiße. Das macht mich ganz fertig. Mensch, dies oder jenes – das habe ich doch alles noch im Kopf gehabt. Wenn ich in einer Situation nicht auf einen...