Märchenhafter Aufstieg, sagenhafter Reichtum
Legenden und Mythen um die Familie Rothschild
Am Ende der napoleonischen Ära gelang es einer jüdischen Familie aus dem Frankfurter Ghetto, in wenigen Jahren die wichtigste Bank Europas zu begründen und für einige Jahrzehnte bei der Finanzierung der europäischen Staaten eine zentrale Rolle zu übernehmen. Fünf Brüder, verbunden durch einen Gesellschaftsvertrag, gründeten und leiteten in Frankfurt, London, Paris, Wien und Neapel Banken, die durch Staatsanleihen und Kredite für Großmächte wie Preußen, Österreich und Frankreich, aber auch für junge Staaten wie Brasilien und Belgien unverzichtbar wurden. Legendär ist das Bonmot ihrer Mutter Gutle Rothschild in der Revolution von 1830: „Es kommt nicht zum Krieg – meine Söhne geben kein Geld dazu her.“
Der schnelle Aufstieg der Familie, ihre beherrschende Rolle an der Börse, deren Auf und Ab für die Mehrzahl der Zeitgenossen undurchschaubar war, der luxuriöse Lebensstil der Brüder und ihrer Familien in prächtigen Schlössern, der einen starken Kontrast zu ihrer Jugend im Ghetto der Frankfurter Judengasse bildete, vor allem aber die Tatsache, dass sie eine jüdische Familie blieben und ihren gesellschaftlichen Aufstieg nicht durch den Übertritt zum Christentum erleichterten – das alles machte sie zum Objekt von Legenden und Mythen. Unter den armen Juden Osteuropas wurde bewundernd ihr märchenhafter Reichtum beschworen. Für Antisemiten waren sie schon sehr bald die idealen Protagonisten einer jüdischen Weltverschwörung: Mit ihrem Geld seien sie die eigentlichen Herren der Welt und degradierten Fürsten und Regierungen zu Marionetten. Schriftsteller wie Börne, Heine, Balzac, Zola und Disraeli beschäftigen sich mit ihnen; Karikaturen, Theaterstücke, Filme und ein Musical schrieben den Mythos bis in das 20. Jahrhundert fort.
Herrscher eines Finanzimperiums:
Die fünf Söhne Mayer Amschel Rothschilds
Es gibt zahlreiche Porträts, die uns eine genauere Vorstellung von den fünf Brüdern und ihren Familien vermitteln. Geschaffen für repräsentative Zwecke oder auch zum Austausch in dem über Europa verteilten Familienkreis, treten die Rothschilds uns in der Regel sehr würdevoll als Damen und Herren in prachtvoller Garderobe und luxuriöser Umgebung entgegen. Einer allerdings fehlt in diesem kaum überschaubaren Bilderreigen: der Vater Mayer Amschel Rothschild, der 1743 oder 1744 in der Frankfurter Judengasse geboren wurde und dort 1812 starb. Es ist kein zeitgenössisches Porträt von ihm angefertigt worden und viele Details seines Lebens bleiben bis heute ungewiss. Welche Bedeutung ihm seine Söhne für ihren Erfolg zumaßen, spiegelt der erneuerte Gesellschaftsvertrag von 1836 wieder, abgeschlossen nach dem Tode Nathan Rothschilds, der die Londoner Niederlassung begründet hatte. Seine Brüder hatten ihn in Anspielung auf Napoleon spöttisch als „kommandierenden General“ bezeichnet, damit aber auch seine führende Rolle gewürdigt. Nathans unerwarteter Tod – mit knapp 60 Jahren als Folge einer Blutvergiftung – war ein Schock für den Familienverband, der sich gerade zur Hochzeit des ältesten Sohnes von Nathan in Frankfurt versammelt hatte. Um diese Krise zu meistern, wurde in den erneuerten Gesellschaftsvertrag als Präambel ein Passus über den bereits 24 Jahre zuvor verstorbenen Vater aufgenommen: „(Wir wollen) auf den geheiligsten Andenken unseres vereinigten Vaters, dessen tugendhaften Wandel in allen Verhältnissen des Lebens uns als adles Vorbild vorschwebet, ein Denkmal unserer kindlichen Verehrung weisen. Durch frommen Hingebung in den höheren Wille, durch Vertrauen auf den göttlichen Beistand, durch gewissenhafte Redlichkeit und unermüdete Betriebsamkeit, hat dieser adle Mann und Menschenfreund, die Grundlagen unseres Glückes gelegt, durch die Aufnahme seiner Söhne als Associés in seine Handlung schon vor beinahe vierzig Jahren, hat er ihre vereinigte Thätigkeit als ein sicheres Mittel des Erfolgs ihrer Bemühungen bezeichnet, und die brüderliche Eintracht ihnen stets als eine Quelle des göttlichen Segens anempfohlen. Diesem seinem verehrten Willen nach handelnd, und der Stimme unserer Herzen folgend, wollen wir daher heute durch diese erneuerte Verbindung unsern gegenseitigen Anhänglichkeit kräftigen und hoffen, in diesem neuen Bunde brüderlicher Liebe, den ferneren Unternehmungen unseres Hauses ein glückliches Gedeihen zu verbürgen. Mögen auch späterhin unsere Kinder und Nachkommen diesem unserem Leitziele folgen, in der Erhaltung steter Eintracht die Blüthe des Hauses von Rothschild zur völligen Reife bringen … und mögen sie, wie wir, der geheiligten Vorschrift des adlen Stammvaters eingedank, der Nachwelt das fromme Bild vereinter Liebe und Thätigkeit darbieten.“
Die Söhne – mittlerweile zwischen 44 und 65 Jahre alt, bewunderte und gefürchtete Herren des europäischen Finanzmarktes, enge Vertraute von Ministern und Königen – beschworen hier in fast kindlicher Verehrung das Idealbild des schon lange verstorbenen Vaters und sahen die Wurzel ihres Erfolges in seinem Vorbild, obwohl sie ihn in ihrem Erfolg, ihrem Lebensstil und ihrer politisch-wirtschaftlichen Bedeutung bereits weit hinter sich gelassen hatten.
Die Eigenschaften, die sie ihm zumaßen – fromm, tugendhaft, edel, betriebsam und ein Menschenfreund – erinnern eher an einen Gelehrten und Rabbiner als an einen Kaufmann und Bankier. Die Söhne pflegten dieses Bild ihres Vaters nicht nur im Familienkreis und in internen Dokumenten wie in dem Gesellschaftsvertrag, sondern lancierten es auch schon sehr früh in der Öffentlichkeit. Bestes Beispiel hierfür ist der 1827 erstmals in der Brockhaus-Enzyklopädie erschienene Artikel über das Haus Rothschild, der von Friedrich von Gentz, einem Mitarbeiter Metternichs, im Auftrag der Familie verfasst und von Salomon von Rothschild redigiert wurde. Die Familie versucht darin vor allem den üblichen Verdächtigungen entgegenzutreten, die erfolgreichen jüdischen Kaufleuten und Bankiers entgegengebracht wurden und die das öffentliche Bild der Rothschilds in Karikaturen, Zeitungsartikeln und literarischen Darstellungen immer stärker zu bestimmen begannen. Nicht Betrug oder Spekulation habe ihren atemberaubenden Aufstieg begründet (wie sie unausgesprochen argumentieren), sondern nur die „einsichtsvolle Benutzung der Wege, die tausend anderen gleich ihnen offen standen, ... wohlverstander Unternehmungsgeist, geregelter gleichförmiger Gang, ächte Schätzung der Menschen und Dinge, bei festbegründetem Ruf unbescholtener Rechtlichkeit“ haben das Haus Rothschild „groß und blühend“ werden lassen. Insbesondere wurden dabei jene Tugenden in den Mittelpunkt gestellt, die die Rothschilds auch in dem wenige Jahre zuvor erworbenen Adelswappen präsentierten: die „concordia“, also die Einmütigkeit der fünf Brüder, die „industria“, der bürgerliche Fleiß, und die „integritas“, also die in langen Jahren erworbene Vertrauenswürdigkeit beim Kunden.
Die Rothschilds zeigten sich als traditionsbewusste Familie, die allgemein anerkannten Tugenden verpflichtet sei – ein diametraler Gegensatz zu der Einschätzung vieler Zeitgenossen, für die stellvertretend Heinrich Heines Charakterisierung des Stammvaters stehen kann: „Ich sehe in Rothschild einen der größten Revoluzionäre, welche die moderne Demokratie begründeten. Richelieu, Robespierre und Rothschild sind für mich drey terroristische Namen, und sie bedeuten die graduelle Vernichtung der alten Aristokrazie. Richelieu, Robespiere und Rothschild sind die drey furchtbarsten Nivelleurs Europas. Richelieu zerstörte die Souverainität des Feudaladels ... Robespiere schlug diesem unterwürfigen und faulen Adel endlich das Haupt ab. Aber der Boden blieb, und der neue Herr desselben, der neue Gutsbesitzer, ward ganz wieder ein Aristokrat… Da kam Rothschild, und zerstörte die Oberherrschaft des Bodens, indem er das Staatspapierensystem zur höchsten Macht emporhob, dadurch die großen Besitzthümer und Einkünfte mobilisirte, und gleichsam das Geld mit den ehemaligen Vorrechten des Bodens belehnte.“
Wonach man in dem vier Seiten langen Brockhaus-Artikel vergeblich sucht, ist ein unmittelbarer Hinweis auf das Judentum der Rothschilds oder die Bedeutung des Vaters innerhalb der jüdischen Gemeinde. So wird beispielsweise sein Studium auf einer Jeschiwa in Fürth, einer jüdischen Hochschule, folgendermaßen umschrieben: „Seine Ältern ... waren gottesfürchtige Leute, die, da sie frühzeitig an dem Knaben Spuren besonderer Fähigkeiten bemerkten. Alles daran wandten, ihm eine gute Erziehung zu geben. Zum Lehrfache bestimmt, betrieb er mit Fleiß die hierzu erforderlichen Wissenschaften auf der Schule zu Fürth und kehrte von dort in s. Vaterstadt zurück. Hier erwarb er sich eine gute Kenntnis der Antiken und alter Münzen ...“ Offensichtlich sollte der rasante geschäftliche Erfolg der Söhne, das eigentliche Hauptthema dieses Artikels, sorgsam vom Judentum der Familie getrennt und ausschließlich als Folge allgemein anerkannter kaufmännischer Handlungsmaximen präsentiert werden, die der Vater in vollkommener Weise verkörpert habe.
Wer war aber dieser Vater, den wir vor allem im Spiegelbild seiner berühmten Söhne kennenlernen? Über sein Leben besitzen wir nur sehr fragmentarische Zeugnisse. Es fehlt nicht nur ein authentisches Porträt, auch unmittelbare Selbstzeugnisse sind nicht erhalten. Geblieben sind lediglich einige Briefe, die Berichte seiner Söhne und Zeugnisse von Zeitgenossen. Die lückenhafte...