1.1 Ein Experiment
Mit dem Wort »Phänomenologie des denkens« möchte ich, sehr einfach zunächst, die Beschreibungen der gesamten Erfahrungen bezeichnen, die wir machen, wenn wir denken. Das klingt durchaus einfach und ist es in gewisser Weise auch. Allerdings haben viele derartige Fachbegriffe wie »Phänomenologie« häufig eine lange und daher verschlungene Geschichte, ehe sie zu dem geworden sind, was wir heute (manchmal fälschlich) darunter verstehen. Wörter wie »Tubenkatarrh«, »Xeroradiographie«, »Quantenvakuumfluktuation« oder »Ethik« sind nicht von heute auf morgen entstanden. Auf die Hintergründe solcher Begriffe – man spricht von Begriffsgeschichte – muss daher hin und wieder hingewiesen werden, um sie zu verstehen. Von Fall zu Fall werde ich das auch tun und somit einen kleinen Umweg einschlagen. Wenn Sie jedoch zu den eiligen Leserinnen oder Lesern gehören, können Sie diese kleinen Vertiefungen im Text gerne überschlagen. Wäre das Buch eine Computerdatei, dann hätte ich derartige Begriffe wie »Phänomenologie« vermutlich bunt markiert. Sie könnten dann wahlweise durch Anklicken auf ein solches markiertes Wort weitere Erklärungen finden. In einem Buch geht das nicht so einfach wie mit der Maus. Aber ehrlich gesagt ist das Verfahren des Anklickens weder neu noch erst eine späte Erfindung des Internets. Über Jahrhunderte hinweg existierte das »Anklicken« bereits und nannte sich »Fußnote«. Fußnoten erfüllen ihren Zweck durchaus – bis heute. Sie warten meist geduldig am Ende der Seite unter dem Haupttext und können daher, wenn man es eilig hat, leicht stehengelassen und überlesen werden. Das Problem mit Fußnoten ist lediglich, dass sie einem Text leider schnell eine übertrieben wissenschaftliche Note geben und sehr gelehrt wirken. Deshalb habe ich mich dazu entschlossen, weitgehend auf Fußnoten zu verzichten, auch wenn es mich manchmal juckt, ins Detail zu gehen. Fußnoten sind und bleiben das beste Mittel, um sich in der Gutenberg-Galaxie erfolgreich vor dem Karl Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Franz Joseph Sylvester Freiherr von und zu Guttenberg-Effekt zu schützen. Fußnoten geben an, woher man einen Gedanken geklaut hat. So weit die Vorbemerkung – und damit zum kleinen »Hyperlink«, einer vertiefenden Erklärung des Wortes »Phänomenologie« samt kurzem Hinweis auf seine Geschichte.
Phänomenologie:
die Bestimmung dessen,
was sich uns zeigt.
Unter Phänomenologie versteht man ganz allgemein die Bestimmung, Beschreibung oder auch Lehre von den Erscheinungen. Das phänomenologische Wissen ist das Wissen von den Erscheinungen, also über das, was sich uns durch unsere Sinne auf verschiedenste Art und Weise zeigt. Allerdings kann man auch gleichsam in sich selbst Erscheinungen haben (die, wie wir wissen, nicht immer mit der Welt übereinstimmen, so dass manche Erscheinung eben bloßer Schein, bloße Einbildung ist). Immanuel Kant (*22. April 1724 in Königsberg; †12. Februar 1804 ebendort) verstand unter den Phänomenen die Erscheinung der Dinge im Unterschied zum Schein. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (*27. August 1770 in Stuttgart; †14. November 1831 in Berlin) gab dem Begriff mit seinem Hauptwerk Phänomenologie des Geistes (1807) eine zentrale Rolle. Ihm ging es darum, die Erfahrung genauer zu fassen, die das Bewusstsein beim Voranschreiten auf dem Weg zum (absoluten) Wissen macht, das mit der Sinneserfahrung anfängt und über deren weitere Aufarbeitung zu verschiedenen Formen der Gewissheit und des Wissens fortschreitet. Wenn man es genau nimmt, ist die Phänomenologie sogar eine bestimmte Schule des philosophischen Denkens, die insbesondere der deutsche Philosoph Edmund Husserl (*8. April 1859 in Proßnitz, Mähren; †27. April 1938 in Freiburg im Breisgau) entwickelt hat. Husserl war ein äußerst produktiver Denker (sein Nachlass alleine umfasst über 40000 Seiten), dessen bekanntester Schüler Martin Heidegger (*26. September 1889 in Meßkirch; †26. Mai 1976 in Freiburg im Breisgau) war. Husserls Absicht war es, zu einer Wesensschau des Gegebenen – der Welt – zu gelangen. Für ihn war entscheidend, dass es weder reine, vom Bewusstsein losgelöste Dinge (also keine »reinen« Objekte) geben kann, noch ein Bewusstsein unabhängig von den Gegenständen, die es wahrnimmt (also auch kein »reines« Subjekt), bestehen kann. Beide, Subjekt und Objekt, sind und bleiben immer verschränkt. Um die Gegenstände klarer zu erkennen, schlug Husserl den schwer zu bestreitenden Weg der »Phänomenologischen Reduktion« vor.[7] Wir müssen versuchen, uns unserer Urteile und Vorurteile zu enthalten, um uns auf diese Weise den Dingen – dem wahren Wesensgehalt der Gegenstände – nähern zu können. Wer richtig denken und die Welt verstehen will, muss seine Einstellung ihr gegenüber verändern. Nach Husserl sollte man sich gewissermaßen aller »Seinsmeinungen« enthalten und versuchen, alle Urteile und Theorien beim Betrachten der Welt zunächst auf ein Minimum zu reduzieren. Erst durch diese Zurücknahme des Subjekts – des denkenden, betrachtenden Ichs – erscheint die Welt, verkürzt gesagt, klarer und in ihren tatsächlichen Strukturen. Husserl fordert also Urteilsabstinenz. Man klammert den eigenen Seinsmodus ein – und indem man ihn einschätzt, klammert man ihn wieder aus. Wer beobachtet, muss all das, was in seinem Denken an Vorstellungen und (Vor-)Urteilen aufsteigt, ein- und ausklammern, um auf diese Weise allmählich und mit Geduld zu einer Beschreibung all dessen zu gelangen, was sich zeigt und in unsere Sphäre des Wissens gelangt.
Husserl bezeichnete diese Haltung der Zurücknahme mit dem Kunstausdruck Epoché. Dieses Wort bedeutet auf Griechisch (έποχή) nichts anderes als Zurückhaltung und gleicht der Einstellung eines Mannes, der über den Markt der Dinge spaziert, ohne irgendetwas zu kaufen oder sich auf einen Handel einzulassen. In den Geschichtswissenschaften bezeichnet die Epoche einen bestimmten zeitlichen Einschnitt, eine eigene Einheit also, die nicht einfach die Verlängerung des Vergangenen ist, sondern etwas davon Abgetrenntes, Eigenes, das sich von den bisherigen anderen Entwicklungen unterscheidet.[8]
Zurück zum ersten Satz dieses Kapitels: zur Phänomenologie des Denkens. Damit meine ich nichts anderes als die Beschreibung all der Erfahrungen (oder zumindest einiger Erfahrungen), die wir machen, wenn wir denken. Mein Vorschlag ist, dass Sie ein weiteres Experiment machen. Wie gesagt: Dieses Experiment ist kein in der Philosophie übliches Gedankenexperiment, sondern eine völlig natürliche, reale Erfahrung. Warum? Sie werden es gleich erfahren.
Auch dieses Mal sollten Sie sich entspannt und mit geradem Rücken hinsetzen. Legen Sie dabei das Buch weg. Im Unterschied zum ersten Experiment sollten Sie diesmal versuchen, ganz bei dem zu bleiben, was Sie gegenwärtig erleben – also bei dem Augenblick zu bleiben, in dem Sie sitzen und sich und Ihre Umgebung (»alles«, Ihre Welt) wahrnehmen. Sie werden vermutlich feststellen, dass sich dieser gegenwärtige Augenblick schnell verändert. Lassen Sie sich dadurch nicht irritieren – es ist normal. Vielleicht werden Sie sogar am Anfang Ihre Mühe haben, klar einen einzelnen Augenblick wahrzunehmen und zu identifizieren, weil sich in Ihrem Geist von Moment zu Moment alles so schnell verändert, dass Sie kaum folgen können (während jetzt noch, beim Lesen, alles einigermaßen geordnet zuzugehen scheint). Tatsächlich ist jeder dieser Momente »ein Moment von Ereignissen, und kein Moment vergeht ohne ein Ereignis. Wir können keinen Moment wahrnehmen, ohne Geschehnisse zu bemerken, die in diesem Moment stattfinden. Deshalb ist der Augenblick, dem wir reine Aufmerksamkeit zu schenken versuchen, der gegenwärtige Augenblick.«[9]
Die Aufgabe für Sie besteht darin, sich ganz auf den Moment zu konzentrieren. Um es einfacher zu machen, können Sie sich ganz auf Ihren Atem konzentrieren. Der Atem stellt eine sehr einfache, unbewusst ablaufende, sich ständig wiederholende Handlung Ihres Körpers dar. Es geht dabei darum, die Dinge – den Atem – so zu sehen, wie sie sind. Einfach, werden Sie vielleicht denken. Versuchen Sie es. Ich vermute, dass Sie bereits nach dem zweiten Atemzug an etwas anderes denken. Dann kommen Sie »einfach« zurück zu Ihrem Atem. Henepola Gunaratana, ein in Sri Lanka geborener buddhistischer Mönch der Theravada-Tradition, der seit 1968 in den USA lebt, in Philosophie promovierte und in den USA, in Kanada und Europa Meditation lehrt, erläutert das Problem so: »Wenn wir unsere Körperempfindungen achtsam wahrnehmen, sollten wir sie nicht mit geistigen Gebilden verwechseln, denn Körperempfindungen können auftauchen, ohne irgendetwas mit dem Geist zu tun zu haben. Ein Beispiel: Wir sitzen bequem. Nach einer Weile kann ein unangenehmes Gefühl in unserem Rücken oder in unseren Beinen auftreten. Unser Geist erlebt dieses Unbehagen sofort und bildet zahlreiche Gedanken um das Gefühl. An diesem Punkt sollten wir das Gefühl als Gefühl isolieren und achtsam beobachten, ohne zu versuchen, das Gefühl mit den geistigen Gebilden zu...