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E-Book

Der große Trip

Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst

AutorCheryl Strayed
VerlagKailash
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl448 Seiten
ISBN9783641046026
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
EAT, PRAY, LOVE meets Hape Kerkeling
Gerade 26 geworden, hat Cheryl Strayed das Gefühl, alles verloren zu haben. Drogen und Männer trösten sie über den Tod ihrer Mutter und das Scheitern ihrer Ehe hinweg. Als ihr ein Outdoor-Führer über den Pacific Crest Trail in die Hände fällt, trifft sie die folgenreichste Entscheidung ihres Lebens: mehr als tausend Meilen zu wandern. Die berührende Geschichte einer Selbstfindung - voller Witz, Weisheit und Intensität, mit einer respektlosen Heldin, die man lieben muss.

Cheryl Strayed, geboren 1968, veröffentlichte nach ihrem Studium der Literatur zahlreiche Beiträge in der New York Times, Washington Post, Vogue und anderen Medien. Ihr biografisches Buch »Wild - Der große Trip« avancierte zu einem beispiellosen Erfolg in den USA und stand auch in Deutschland auf Rang 1 der Bestsellerliste. Von und mit Reese Witherspoon wurde es auch erfolgreich verfilmt. Cheryl Strayed lebt mit ihrem Mann, dem Filmemacher Brian Lindstrom, und ihren beiden Kindern in Portland, Oregon.

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Leseprobe

2 –
Zweigeteilt

Müsste ich eine Karte dieser viereinhalb Jahre zeichnen, um die Zeit zwischen dem Todestag meiner Mutter und dem Tag zu illustrieren, an dem ich mit der Wanderung auf dem Pacific Crest Trail begann, würde dabei ein Gewirr von Linien herauskommen, die in alle Richtungen führen und deren Mittelpunkt natürlich Minnesota bildet wie eine Funken sprühende Wunderkerze. Nach Texas und zurück. Nach New York City und zurück. Nach New Mexico, Arizona, Kalifornien und Oregon und zurück. Nach Wyoming und zurück. Nach Portland, Oregon, und zurück. Noch einmal nach Portland und zurück. Und noch einmal. Aber diese Linien würden nicht die Geschichte erzählen. Die Karte würde nur zeigen, wohin ich mich geflüchtet hatte, nicht aber, wie ich immer wieder zu bleiben versuchte. Sie würde nicht zeigen, wie ich mich in den Monaten nach dem Tod meiner Mutter bemühte, vergeblich bemühte, die Lücke, die sie hinterlassen hatte, zu füllen und die Familie zusammenzuhalten. Oder wie ich um die Rettung meiner Ehe kämpfte, noch während ich sie durch meine Lügen zerstörte. Sie würde nur diese Wunderkerze und jeden einzelnen sprühenden Funken zeigen.

Als ich an dem Abend, bevor ich die Wanderung auf dem PCT begann, in der kalifornischen Stadt Mojave ankam, hatte ich Minnesota zum letzten Mal verlassen. Ich hatte sogar mit meiner Mutter darüber gesprochen, auch wenn sie mich nicht hören konnte. Ich hatte in dem Blumenbeet in unserem Wald gesessen, wo Eddie, Paul, meine Geschwister und ich ihre Asche unter die Erde gemischt und einen Grabstein aufgestellt hatten, und ihr erklärt, dass ich künftig nicht mehr da sein würde, um ihr Grab zu pflegen. Was bedeutete, dass es niemand mehr pflegen würde. Mir blieb keine andere Wahl. Ich musste ihr Grab dem Unkraut überlassen, den Zweigen und Zapfen, die von den Kiefern fielen. Dem Schnee und den Ameisen, den Hirschen, den Schwarzbären und den Erdwespen. Ich legte mich in die Mutterascheerde zwischen den Krokussen und sagte ihr, dass es in Ordnung sei. Dass ich kapituliert hätte. Dass sich seit ihrem Tod alles verändert habe. Wie sie es sich nie habe vorstellen können, wie sie es nie geahnt habe. Ich sprach mit leiser, fester Stimme. Ich war so traurig, dass es mir die Kehle zuschnürte, und doch war mir, als hänge mein ganzes Leben davon ab, dass ich diese Worte herausbrachte. Sie werde immer meine Mutter bleiben, sagte ich zu ihr, aber nun müsse ich fort. In diesem Blumenbeet sei sie ohnehin nicht mehr für mich da, erklärte ich ihr. Ich würde die Erinnerung an sie woanders bewahren. An dem einzigen Ort, wo ich sie erreichen könne. In mir.

Am nächsten Tag verließ ich Minnesota für immer. Ich wollte auf dem PCT wandern.

Es war die erste Juniwoche. Ich fuhr in meinem 1979er Chevy Luv Pick-up, den ich mit einem Dutzend Kartons voller Trockennahrung und Wanderzubehör beladen hatte, nach Portland. Ich hatte Wochen damit zugebracht, die Sachen zusammenzustellen und alle Kartons mit Adressaufklebern zu versehen, auf denen neben meinem Namen auch die Namen von Orten standen, an denen ich noch nie gewesen war, Etappenziele entlang dem PCT mit so wohlklingenden Namen wie Echo Lake und Soda Springs, Burney Falls und Seiad Valley. Ich ließ den Pick-up und die Pakete bei meiner Freundin Lisa in Portland – sie sollte mir die Pakete im Lauf des Sommers zuschicken –, flog nach Los Angeles und fuhr dann mit dem Bruder einer Bekannten nach Mojave.

Wir kamen am frühen Abend in der Stadt an, als die Sonne ein Dutzend Kilometer hinter uns gerade in den Tehachapi Mountains versank. In eben den Bergen, durch die ich am nächsten Tag wandern sollte. Mojave liegt ungefähr neunhundert Meter über dem Meeresspiegel, aber ich kam mir vor wie auf dem Grund von etwas, denn die Reklameschilder von Tankstellen, Restaurants und Motels überragten die größten Bäume.

»Dort kannst du mich rauslassen«, sagte ich zu dem Mann, der mich von Los Angeles hergefahren hatte, und deutete auf eine altmodische Neonreklame mit dem Schriftzug WHITE’S MOTEL. Darüber leuchtete gelb TV und darunter rosa ZIMMER FREI. Aus dem maroden Äußeren des Gebäudes schloss ich, dass es das billigste Hotel in der Stadt war. Genau das Richtige für mich.

»Danke fürs Herfahren«, sagte ich, als wir auf den Parkplatz rollten.

»Gern geschehen«, sagte er und sah mich an. »Ist wirklich alles in Ordnung?«

»Ja«, antwortete ich mit gespielter Zuversicht. »Ich bin schon oft allein gereist.« Ich stieg mit meinem Rucksack und zwei übergroßen, prall gefüllten Kaufhaustüten aus. Eigentlich hatte ich vor der Abreise aus Portland den Inhalt der Tüten in den Rucksack umpacken wollen, war aber nicht mehr dazu gekommen und hatte deshalb die Tüten mitgeschleppt. Ich wollte es in meinem Zimmer nachholen.

»Viel Glück«, sagte der Mann.

Ich sah ihm nach, wie er wegfuhr. Die heiße Luft schmeckte wie Staub, der trockene Wind peitschte mir die Haare in die Augen. In den Parkplatzbelag waren lauter kleine weiße Kieselsteine einzementiert, das Motel selbst bestand aus einer langen Reihe von Türen und Fenstern, an denen schäbige Vorhänge hingen. Ich schulterte den Rucksack und raffte die Tüten zusammen. Es war ein komisches Gefühl, nicht mehr zu besitzen. Plötzlich fühlte ich mich schutzlos, weniger euphorisch, als ich erwartet hatte. In den letzten sechs Monaten hatte ich mir diesen Augenblick immer wieder vorgestellt, aber jetzt, wo ich hier war – nur neunzehn Kilometer vom PCT entfernt –, erschien mir alles längst nicht mehr so lebendig wie in meiner Fantasie, als würde ich träumen, als hätte sich mein Denken verlangsamt, als wäre es vom Willen getrieben statt vom Instinkt. Geh rein, musste ich mir sagen, bevor ich mich in Richtung Empfang in Bewegung setzen konnte. Frag nach einem Zimmer.

»Macht achtzehn Dollar«, sagte die alte Frau, die hinter dem Empfangstisch stand. Mit rüder Unverhohlenheit spähte sie an mir vorbei durch die Glastür, durch die ich eben eingetreten war. »Außer Sie sind in Begleitung. Dann kostet es mehr.«

»Ich habe keinen Begleiter«, sagte ich und wurde rot – erst als ich die Wahrheit sagte, kam ich mir wie eine Lügnerin vor. »Der Mann hat mich nur hier abgesetzt.«

»Dann macht es achtzehn Dollar«, erwiderte sie. »Aber wenn Sie doch noch Gesellschaft bekommen, müssen Sie mehr bezahlen.«

»Es wird niemand kommen«, sagte ich mit ruhiger Stimme, zog einen Zwanzigdollarschein aus der Hosentasche und schob ihn über den Tisch. Sie nahm das Geld und gab mir zwei Dollar heraus, dazu einen Meldeschein und einen Kuli, der an einer Kette hing. »Ich bin zu Fuß, kann also den Autoteil nicht beantworten«, sagte ich, deutete auf das Formular und lächelte, aber sie lächelte nicht zurück. »Außerdem habe ich eigentlich keine Adresse. Ich bin auf Reisen, deswegen …«

»Tragen Sie die Adresse ein, an die Sie zurückkehren«, sagte sie.

»Das ist es ja. Ich weiß nicht, wo ich anschließend wohnen werde, weil …«

»Dann die Ihrer Angehörigen«, blaffte sie. »Wo die eben wohnen.«

»Okay«, sagte ich und trug Eddies Adresse ein, obwohl meine Beziehung zu Eddie in den vier Jahren seit dem Tod meiner Mutter auf so schmerzliche Weise abgekühlt war, dass ich nicht mehr meinen Stiefvater in ihm sehen konnte. Ich hatte kein »Zuhause« mehr, obwohl das Haus, das wir gebaut hatten, noch stand. Leif, Karen und ich waren als Geschwister zwar untrennbar miteinander verbunden, aber wir hatten kaum noch Kontakt, da wir ganz unterschiedliche Leben führten. Paul und ich hatten im Monat zuvor nach quälender einjähriger Trennung unsere Scheidung hinter uns gebracht. Ich hatte liebe Freunde, die ich manchmal als meine Familie bezeichnete, aber unsere Beziehung war unverbindlicher und sporadischer Natur, familiär mehr in Worten als in Taten. »Blut ist dicker als Wasser«, hatte meine Mutter immer gesagt, als ich heranwuchs, und ich hatte ihr oft widersprochen. Aber wie sich zeigte, war es egal, ob ich recht gehabt hatte. Mir war beides zwischen den Fingern zerronnen.

»Hier«, sagte ich zu der Frau und schob ihr den Meldezettel hin, aber sie wandte sich mir nicht zu. Ihr Blick war auf einen kleinen Fernseher gerichtet, der auf einem Tisch hinter der Theke stand. Die Abendnachrichten. Ein Bericht über den Prozess gegen O. J. Simpson.

»Glauben Sie, er ist schuldig?«, fragte sie, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden.

»Es sieht so aus, aber noch kann man, glaube ich, nichts sagen. Wir kennen noch nicht alle Fakten.«

»Natürlich hat er es getan!«, schrie sie.

Als sie mir endlich den Schlüssel gab, ging ich über den Parkplatz zu einer Tür am anderen Ende des Gebäudes, schloss auf, trat ein, stellte mein Gepäck ab und setzte mich auf das weiche Bett. Ich war jetzt in der Mojave-Wüste, aber das Zimmer war seltsam klamm und roch nach nassem Teppich und Desinfektionsmittel. Ein weißer Metallkasten mit Lüftungsschlitzen erwachte in der Ecke scheppernd zum Leben – ein Raumkühler, der ein paar Minuten lang eiskalte Luft ins Zimmer pustete und sich dann unter dramatischem Geklapper, das mein unbehagliches Gefühl der Einsamkeit noch verstärkte, wieder abschaltete.

Ich spielte mit dem Gedanken, auszugehen und mir Gesellschaft zu suchen. Es wäre ein Leichtes gewesen. Die vorangegangenen Jahre waren ein wahres Fest an One-Night-Stands gewesen, denen gelegentlich auch eine zweite oder dritte Nacht folgte. Inzwischen kamen sie mir so lächerlich vor, all diese Intimitäten mit Männern,...

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