1984
Es ist ein sonniger Frühlingstag. An den Bäumen wachsen erste zartgrüne Blätter, und es ist sogar schon so warm, dass ich die Jacke erst im Wagen lassen will. Doch dann erinnere ich mich an meinen letzten Besuch in der Gerichtsmedizin und ziehe sie doch lieber über. Olaf nimmt seine ebenfalls mit.
Inzwischen habe ich ein Praktikum bei der Mordkommission angetreten. Ich bin dort schon einige Wochen und mag die Arbeit sehr. Wenn es um einen Mord geht, hat man bei den Ermittlungen ganz andere Möglichkeiten. Wenn wir zum Beispiel einen Fotografen benötigen, der Bilder von einem Tatort macht, dann kommt der sofort und nicht wie häufig bei anderen Delikten nach ein paar Tagen, weil ein Mord einfach als wichtiger eingestuft wird.
Olaf, mein Bärenführer bei der Mordkommission, ist ein erfahrener, kluger Kollege, der sich bemüht, mir so viel wie möglich beizubringen. Leichen ansehen musste ich bei ihm bisher zum Glück nicht, aber heute hat er mich zu diesem Termin mitgenommen. Wir sollen bei einer Obduktion dabei sein. Ein Mann ist an einem Kopfschuss gestorben, und wir sind nicht sicher, ob es Selbstmord war oder nicht. Natürlich könnten wir auch einfach auf den Bericht warten, aber es dauert erfahrungsgemäß eine Woche, bis der fertig ist, und wenn wir bei der Obduktion dabei sind, erfahren wir gleich die Ergebnisse. Außerdem können wir dem Mediziner Informationen geben, die ihm bei seiner Arbeit weiterhelfen.
Mir behagt die Aussicht, wieder mit einem toten Menschen konfrontiert zu werden, natürlich überhaupt nicht. Ich fühle mich unwohl und ertappe mich dabei, wie ich nach Ausreden suche, damit ich da jetzt doch nicht mit hinein muss. Aber das gehört nun einmal zum Beruf einer Polizistin dazu, sage ich mir immer wieder. Ich zwinge mich, an etwas anderes zu denken, und gehe hinter Olaf her.
Vor der Tür verlangsame ich mein Tempo automatisch. Olaf hält mir die Eingangstür auf und wartet geduldig. »Komm! Das schaffst du«, sagt er, aber ich bin mir nicht sicher, ob er es ernst meint oder ob er sich lustig über mich macht. Diesmal bin ich auf den Geruch vorbereitet. Süßlich und beißend hat er sich bei meinem ersten Besuch hier in meiner Nase festgesetzt und war erst Tage später vollständig verschwunden. Es dauerte ein bisschen, bis ich herausgefunden hatte, dass es eine Mischung aus Leichengestank und diesem Reinigungsmittel ist, das sie hier verwenden. Ich versuche, flach zu atmen. Unwillkürlich halte ich meinen Arm schützend unter meine Nase. Es muss eine Möglichkeit geben, sich an diesen Geruch zu gewöhnen, andernfalls würde doch kein Mensch hier arbeiten können. Als hätte Olaf meine Gedanken erraten, dreht er sich zu mir und sagt: »An den Geruch hier werde ich mich nie gewöhnen.«
Die Leichen werden im Keller in riesigen Kühlschränken aufbewahrt. Das habe ich bei meinem ersten Besuch hier schon gesehen. Olaf und ich fahren mit dem Fahrstuhl runter. Unten schlägt uns frostige Kälte entgegen. Ich ziehe meine Jacke enger um mich. Sie kühlen die Räume hier, um die Verwesungsprozesse aufzuhalten. Es sind höchstens zwölf Grad. Der Geruch ist trotzdem sehr intensiv. Ich möchte mir nicht vorstellen, wie es hier riechen würde, wenn sie nicht kühlen würden.
Wir treten in einen großen weißgekachelten Raum, in dessen Zentrum ein metallener, blitzblank geputzter Arbeitstisch steht. Ein Arzt in blauem Chirurgenkittel erwartet uns. »Das ist Dr. Hauk«, raunt mir Olaf zu. Die beiden begrüßen sich wie alte Bekannte. Dr. Hauk ist ein hochgewachsener, schmaler Mann mit sehr wenig Haar und einer großen Brille. Olaf stellt mich vor. Ich versuche, in den glatten Gesichtszügen des Arztes irgendeinen Hinweis darauf zu finden, wie er an so einem Ort arbeiten kann.
Mir ist flau im Magen, trotzdem sehne ich mich nach einer Zigarette. Das würde sicher helfen, diesen Geruch besser zu ertragen. Hinter uns schiebt ein anderer Blaubekittelter eine metallene Bahre herein. Unter einem weißen Tuch erkenne ich deutlich die Konturen eines menschlichen Körpers. Unwillkürlich fröstle ich. Es kommt mir vor, als wäre es mit einem Mal noch kälter geworden.
Der Rollwagen wird neben den Arbeitstisch geschoben, und mit einem routinierten Handgriff heben Dr. Hauk und sein Kollege den Körper mit dem Tuch auf den Seziertisch. Während ich noch damit beschäftigt bin, das Tuch, das bei dieser Aktion wie durch ein Wunder nicht verrutscht ist, mit einer Mischung aus Faszination und Grauen anzustarren, wird es von Dr. Hauk mit einem Ruck weggezogen. Erschrocken halte ich die Luft an. Ich blicke auf den vollkommen nackten Körper eines jungen Mannes. Er liegt auf dem Rücken, seine Haut ist unnatürlich blass. Aber als ich genauer hinsehe, bemerke ich an einigen Stellen dunkelrote Verfärbungen. Soweit ich erkennen kann, sind diese vor allem am Rücken und an der Unterseite der Arme und Beine ausgeprägt: Leichenflecken. Bei einem früheren Besuch hier hat man mir und meinen Kommilitonen gezeigt, wie man anhand dieser Flecken Rückschlüsse auf den Eintritt des Todes ziehen kann. Wenn man sie wegdrücken kann, dann ist die Leiche noch einigermaßen frisch. Ich habe keine gute Erinnerung daran.
»Der Kopfschuss ist jetzt ja drei Tage her«, erklärt Olaf. »Hier soll jetzt ermittelt werden, wie der Schusskanal verläuft. Das kann Aufschluss darüber geben, ob der Tote sich selbst erschossen hat oder von jemand anderem erschossen wurde. Außerdem hat er eine Verletzung im Bauchbereich, die möglicherweise auch zum Tod geführt haben kann. Das muss untersucht werden.«
Ich unterdrücke den Ekel und werfe vorsichtig einen genaueren Blick auf den Toten. Der süßliche Geruch überlagert jetzt deutlich den der Reinigungsmittel. »Es ist nur ein Körper, alles ist gut«, sage ich mir vor.
Dr. Hauk nimmt ein Skalpell von einem Messingtablett, auf dem noch einige andere Gerätschaften liegen. Ich sehe eine Säge, einen kleinen Hammer und etwas, das wie ein Meißel aussieht. Der Gerichtsmediziner setzt am Bauch an. Unwillkürlich wende ich den Blick ab und starre auf eine Uhr, die an der Wand angebracht ist. Mit einem Knacken rückt der große Zeiger auf die Zwei: elf Uhr und zehn Minuten. Ich weiß, dass ich hinsehen muss, wenn ich hier etwas lernen will. Dr. Hauk hebt etwas aus der offenen Bauchhöhle und benennt es. Der Gestank ist jetzt kaum noch auszuhalten. Ich versuche, durch den Mund zu atmen.
»Die Verletzung am Bauch kommt von einem langen spitzen Gegenstand, einem Messer zum Beispiel. Das muss aber schon ein paar Tage vor dem Todeszeitpunkt passiert sein«, resümiert der Arzt.
Dann greift er zur Säge und setzt an der Stirn des Toten an. Ich drehe entsetzt den Kopf weg. Aber das scharfe Ratschen der Säge höre ich trotzdem. Am liebsten würde ich mir die Ohren zuhalten, aber ich unterdrücke den Wunsch. So eine Blöße will ich mir dann doch nicht geben. Als ich vorsichtig wieder hinsehe, bemerke ich, dass der leblose Körper unter der Einwirkung der Säge zittert. Plötzlich kommt Bewegung in die toten Glieder. Mit einem metallenen Geräusch rutscht der Arm des Mannes vom Operationstisch und schlenkert noch einmal hin und her, bevor er herunterhängend verharrt. Ich schreie auf vor Schreck und mache einen Satz zurück. Mir ist jetzt egal, ob die anderen mich für hysterisch halten. Diese Leiche hat sich bewegt. Olaf ist instinktiv auch zurückgewichen. Dr. Hauk und sein Kollege, dessen Namen ich schon wieder vergessen habe, lachen. Olaf stimmt zögernd in das Gelächter ein. Mir ist überhaupt nicht nach Lachen zumute. Ich will hier raus. Der Gestank ist nicht mehr zu ertragen, gleichzeitig ist es eiskalt.
»Hier, halten Sie das«, sagt Dr. Hauk in diesem Moment zu mir und drückt mir ein kleines gläsernes Behältnis in die Hand. Ich erstarre und umklammere das Gefäß, als hinge mein Leben davon ab.
Sein Kollege hat unterdessen etwas aus dem inzwischen offenen Schädel geholt, von dem ich annehme, dass es das Gehirn ist. Ich konzentriere mich ganz auf das Glas in meiner Hand. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Dr.Hauk sich über das Gehirn, oder was es sonst sein mag, beugt und es mit dem Skalpell bearbeitet. Wieder hefte ich meinen Blick auf die Uhr: elf Uhr und 29 Minuten.
»Hier ist es ja«, höre ich Dr. Hauk sagen. Mit einer Art Pinzette hält er einen kleinen blutigen Gegenstand hoch und betrachtet ihn einen Moment lang von allen Seiten. Als er Wasser darüberlaufen lässt, kann ich erkennen, dass es ein Geschoss ist. Dann hält mir der Arzt den Fund unter die Nase und lässt ihn mit einem kleinen Klicken in die Glasviole fallen, die ich noch immer in der Hand halte. Wie festgefroren starre ich auf das kleine Stück Metall. Meine Hand zittert leicht. Ich bin plötzlich nicht mehr sicher, ob ich das Glasgefäß in meiner Hand jemals wieder loslassen kann. Mein ganzer Körper bebt und ist gleichzeitig steif. Ich habe das Gefühl, als sei der Boden unter mir mit einem Mal schief. Gleich verliere ich die Kontrolle, schießt es mir durch den Kopf, dann zerdrücke ich das Glasgefäß in meiner Hand oder ich lasse es fallen und vielleicht falle ich dann auch einfach um. Hilfesuchend sehe ich zu Olaf, der noch immer neben mir steht. Auch er scheint das, was hier vorgeht, nicht gerne zu sehen, aber offensichtlich kann er damit irgendwie besser umgehen als ich.
»Olaf?«, meine Stimme hört sich rau an. »Kannst du mir das abnehmen, ich glaube, ich lasse es gleich fallen. Ich … ich kann nicht mehr.«
Ohne zu zögern, nimmt er mir die Glasviole aus der Hand. Mein Körper entspannt sich etwas.
»Geh an die Luft«, rät er mir.
Fluchtartig verlasse ich den Raum.
Draußen lehne ich mich gegen die Hauswand und atme die warme Frühlingsluft tief ein....