Vorwort
Hannah Arendt war mit der amerikanischen Schriftstellerin Mary McCarthy sehr gut befreundet. Ihre Freundschaft war eng und vertrauensvoll. Einmal aber, so geht die Anekdote, war Mary McCarthy von ihrer lieben Hannah enttäuscht: Sie hatte sie zum Flughafen gebracht. Hannah hatte sich verabschiedet und war dann zielstrebig von dannen gegangen, der Passkontrolle entgegen, neuen Ufern zu, ohne sich noch einmal umzuwenden. Mary McCarthy blieb zurück und hoffte vergeblich, die Freundin möge mit einem Blick zurück den Zusammenhalt beider trotz der bevorstehenden Trennung über Kontinente hinweg nochmals besiegeln.
Vielleicht hat diese Anekdote sich nicht genauso zugetragen, trotzdem beschreibt sie einen auffälligen Zug in Hannah Arendts Charakter: Die Frau, die das Denken ohne Geländer liebte, konnte mitunter ganz unromantisch sein, sachlich, buchstäblich ohne Rücksicht auf andere und ihre Gefühle. Ihr erster Mann, Günther Anders, hat 1975, nach ihrem Tod, seine Erinnerungen an gemeinsame Gespräche aufgeschrieben. (Unter dem Titel Die Kirschenschlacht. Dialoge mit Hannah Arendt sind sie 2012 im Verlag C. H. Beck erstmals erschienen.) In der Einleitung nannte er sie »selbstbewusst und herrschsüchtig«. Gleich zu Beginn des Textes beschreibt er die Frau von 23 Jahren ausführlicher, die er 1929 in Berlin – zu der Zeit hieß er noch Günther Stern – geheiratet hatte: »Sie war damals zugleich profund, frech, fröhlich, herrschsüchtig, schwermütig, tanzlustig – für die scheinbaren Widersprüche übernehme ich keine Verantwortung – sie war eben so.«
Hannah Arendt kam 1906 zur Welt. Sie war ein Einzelkind und noch klein, als 1913 ihr Vater starb. Sie blieb mit der Mutter allein. Und die Mutter, anstatt die Tochter im Geist des Verlustes zu erziehen, hat aus ihr eine starke Frau gemacht. Wie viele alleingelassene Mütter mag sie sich von der Tochter gewünscht haben, sie möge den Mann im Haus wenigstens ein bisschen ersetzen. Vielleicht kam Günther Anders’ spätere Beobachtung nicht von ungefähr, dass Hannah Arendt »in einer mindestens um eine Quinte tieferen, ganz unweiblichen Stimmlage« gesprochen habe, wenn sie »etwas wirklich ganz ernst meinte«.
Zu den entscheidenden Lehren der Mutter gehörte die Ermahnung, Hannah dürfe sich antijüdische Beleidigungen an der Schule in Königsberg nicht bieten lassen. Ihre Tochter sollte kein Opfer sein, keine schwache Person, sondern eine, die sich als Handelnde und die zu handeln versteht. Nebenbei gesagt: Der Titel Vita activa oder Vom tätigen Leben war für Hannah Arendt die passende deutsche Übersetzung für das Buch, das sie auf Englisch 1958 unter dem Titel The Human Condition publizierte. Den Menschen stellte sie sich eben als Handelnden, nicht als Duldenden vor. Wer nicht glaubt, dass sie erst während ihrer philosophischen Studien begann, über den Unterschied zwischen »Tun« und »Hinnehmen« nachzudenken, der mag dafür auch ihrer Mutter, die keine Intellektuelle war, Kredit geben.
Das Projekt, der Tochter das Gefühl für ihre eigene Handlungsfähigkeit mit auf den Weg zu geben, ist der Mutter jedenfalls gelungen. Ja, der Erfolg stellte sich noch zu Hannahs Schulzeiten ein: Anlässlich einer besonders üblen Beleidigung vonseiten eines Lehrers, über die sie später so wenig verlauten ließ wie Antonie Buddenbrook über das Schimpfwort ihres unseligen Gatten Permaneder, überredete sie ihre Mitschüler dazu, diesen Lehrer nun zu boykottieren. Dafür wurde sie der Schule verwiesen. Aber weil sie eine exzellente Schülerin war, hat sie ihr Studium dennoch früh begonnen. Und weil sie nicht nur mit ihrem Wesen und ihrer jugendlichen Schönheit für sich einnahm, sondern auch eine exzellente Studentin war, hat ihr Doktorvater Karl Jaspers ihre Promotion 1928 über den »Liebesbegriff bei Augustin« in seiner philosophischen Schriftenreihe gedruckt. Er hat die Arbeit angenommen, obwohl er sie, wie Arendts Biograf Kurt Sontheimer vermerkte, »nicht ganz überzeugend fand«.
Nur eine Vermutung ist es, dass das Thema, das die sehr junge Frau sich da gewählt hatte, mit ihrer Liebe zu Martin Heidegger zusammenhängen könne. Ihr Studium hatte sie in Marburg begonnen: Der dort lehrende, schon Mitte der Zwanzigerjahre berühmte Martin Heidegger war ihr heiß empfohlen worden. Sofort hatte sie sich in ihn verliebt und er sich in sie. Zu Hannah Arendts Glück – man weiß nicht, was sonst aus ihr geworden wäre – sah sich der verheiratete, noch nicht vierzig Jahre alte Philosoph, der auf zeitgenössischen Fotografien nur verkniffen wirkt, nicht in der Lage, die für eine halbwegs geheime Liebschaft notwendige Logistik einzurichten. Seine Frau Elfride wusste, dass ihr Martin ein Schürzenjäger war. Als Ehefrau nahm sie ihres Mannes Liebschaften hin. Aber als überzeugte Antisemitin kam es für sie nicht infrage, dass er sich mit einer Jüdin einließ.
Das Herz voll, hat Hannah Arendt die Universität gewechselt und dann eben bei Karl Jaspers über eine Thematik promoviert, in der sie ihre Gefühle aufgehen lassen konnte: Statt der Liebe hatte sie nun den »Liebesbegriff«. Das war besser als nichts und eine vorzügliche Sublimierung: Mit 22 Jahren war sie Doktorin der Philosophie.
Die Trennung von dem geliebten Heidegger – das Verhältnis zu Günther Stern war nicht von Leidenschaft geprägt – warf Hannah Arendt auf sich selbst zurück und damit auf ihre jüdische Abkunft. Ihre Biografie der Rahel Varnhagen, an der sie von 1929 bis 1933 arbeitete, spiegelt ihr wachsendes politisches Verständnis. Ihr Mentor in politischen Fragen war der Journalist und begeisterte Zionist Kurt Blumenfeld. Er gab ihr das Gefühl, dass es nicht von Schwäche zeuge, sich zu der eigentlich belanglosen, weil rein akzidentiellen Tatsache der eigenen Abkunft zu bekennen. Bald nach Hitlers Machtantritt emigrierte Hannah Arendt – wie zuvor schon ihr Mann – nach Paris. Nachdem das Deutsche Reich sich Frankreich einverleibt hatte, wurde sie ein paar Wochen lang in dem berüchtigten Internierungslager Gurs eingesperrt. Weil es ihr so gar nicht lag, sich als Opfer in den Vordergrund zu spielen, hat sie über diese bedrückende Erfahrung nie viele Worte verloren. Mit eigenem Geschick und der Hilfe zionistischer Bekannter gelang es ihr dann, in die USA zu fliehen und auch ihre Mutter aus Nazi-Deutschland herauszuholen.
Das erste Werk, das Hannah Arendt in den Vereinigten Staaten verfasste, war ein großer Wurf, der sie mit einem Schlag weltberühmt machte: 1951 erschien ihr Buch über den Totalitarismus. In seinen Stärken und seinen Schwächen ist es symptomatisch für ihre gesamte Lebensarbeit. Schon andere vor ihr hatten totalitäre Systeme analysiert, so etwa Franz Neumann in seinem Buch über das NS-System, das er »Behemoth« nannte. Aber sie fand Worte, die eingängiger waren als die Sprache der Politologie. Und in der Zeit des Kalten Kriegs kam es gut an, dass sie den Nazismus und den Stalinismus zu demselben Phänomen erklärte: Aus dem Niedergang des Nationalstaats erwuchs die moderne Massengesellschaft, in der Einzelne nichts mehr zählen. Und in dem Maße, wie der Einzelne nicht mehr zählt, sondern zum Rädchen im Getriebe wird, kann er auch versklavt werden. Die neue Staatsform, die sich nun herausbildete, basierte darauf, dass die Bevölkerung mit Terror in Furcht und Lähmung gehalten wurde. Aus dieser Perspektive gesehen, waren die deutschen Konzentrationslager die plausible Konsequenz und perfekte Ausformung der neuen Staats- und Gesellschaftsform. Was der Historiker Dan Diner Jahrzehnte später als »Zivilisationsbruch« bezeichnete, hat Hannah Arendt in ihrem Buch dargestellt.
Schon zeitgenössische Historiker, Soziologen und Politikwissenschaftler stießen sich daran, dass sie ihre Thesen nicht empirisch belegte. Das spielte aber keine Rolle: Gefühlsmäßig fanden ihre Leser sie plausibel. Nach dem Fall des »Eisernen Vorhangs« 1990 hat Hannah Arendts Totalitarismustheorie in Deutschland ein Revival erfahren. Nun wurde behauptet, dass die Bundesrepublik zwei totalitäre Systeme glücklich hinter sich gelassen habe: das NS-Reich und die DDR. Das war nicht im Einklang mit den Ansichten Hannah Arendts, die einen deutlichen Unterschied sah zwischen dem Totalitarismus unter Stalin und den Diktaturen in den Ostblockstaaten, in die Stalins Herrschaft mündete. Wäre Hannah Arendt 1990 noch am Leben gewesen, hätte sie sich gegen die tagespolitische Vereinnahmung ihrer Theorie verwahrt.
Ihre eigenwillige Herangehensweise an die politische Analyse beiseitegelassen, hatte sie einen blinden Fleck: Ihre Totalitarismustheorie entsprach George Orwells Roman 1984. Das Volk wird von der Obrigkeit grausam versklavt, sodass es nicht einmal mehr Worte haben darf, seine eigene Unterdrückung zu beschreiben. Mit der schrecklichen Utopie von Aldous Huxleys »schöner neuer Welt« hingegen hätte Hannah Arendt sich ausführlicher beschäftigen können: Niemand wird versklavt, alle werden mit Chemie gefüttert und finden ihr solchermaßen zugedröhntes Nicht-Leben herrlich. Orwells Roman beschreibt Diktaturen. Huxleys Roman ist als Satire auf die Konsum- und Massengesellschaft des freien Westens zu lesen.
Gegen den freien Westen und seine Hauptmacht, die Vereinigten Staaten, hat Hannah Arendt sich verständlicherweise nicht mit Verve gewendet. Sie war froh, in den USA eine neue Heimat gefunden zu haben, in der sie die Freiheit hatte, ihren eigenen, höchst originellen Politikbegriff zu entwickeln. Anders als Aristoteles sah sie den Menschen nicht als »zoon politikon«, als von Natur aus politischen Menschen. Sie war der Meinung, dass Politik erst im Miteinander, erst im Gespräch zwischen...