Traum oder Wirklichkeit – Reality-Checks
Wenn Sie oft mit dem Auto unterwegs sind, ist Ihnen mit Sicherheit schon einmal etwas Ähnliches passiert: Sie müssen plötzlich scharf abbremsen, weil jemand unbedingt noch die winzige Lücke vor Ihnen nutzen musste, um die Spur zu wechseln. Nach einer kurzen Schrecksekunde wird Ihnen plötzlich klar, dass Sie die letzten zehn Kilometer mehr oder weniger auf «Autopilot» geschaltet hatten. Ihr Körper hat problemlos den korrekten Input an Kupplung, Bremse, Gas, Blinker und Lenkrad weitergegeben, aber Ihr Bewusstsein war daran scheinbar nicht maßgeblich beteiligt.
In Gedanken sind Sie nämlich noch einmal die Einkaufsliste durchgegangen oder haben ein anstehendes Meeting mit der Geschäftsleitung durchgespielt, anstelle sich darauf zu konzentrieren, das gefährliche Monstrum in Form einer Tonne Stahl unter Ihrem Hintern sicher durch das Labyrinth der Innenstadt zu bewegen. Das ist zwar eine beachtliche Leistung, die als Fahranfänger noch undenkbar schien, gleichzeitig aber auch eine erschreckende Erkenntnis, wenn man bedenkt, mit wie vielen «Autopiloten» man sich die Straße teilt.
Der Psychologe Daniel Gilbert von der Harvard University fand heraus, dass dieser Bewusstseinszustand nicht nur im Straßenverkehr anzutreffen ist. Eine Studie mit über 2000 Teilnehmern zeigte, dass wir knapp die Hälfte unseres Alltags gedanklich «abwesend» sind, während wir Handlungen ausführen und Aufgaben erledigen. Gerade monotone Arbeit oder tägliche Routine nehmen demnach oft gewissermaßen «bewusstlos» ihren Lauf, fast wie im Traum.
Das ist eine wichtige Erkenntnis für Ihren Lernprozess: Auch wenn man sich, wie beim Autofahren, oft nicht über die einzelnen Handlungen bewusst ist, die man ausgeführt hat, um an sein Ziel zu kommen, so hat man sie natürlich trotzdem erlebt. Die Sinnesorgane haben konstant Informationen geliefert, von der Beschaffenheit des Lenkrades in der Hand bis hin zur Beschleunigung, die während der Fahrt auf den gesamten Körper eingewirkt hat. All diese Informationen haben jedoch nicht Ihre bewusste Aufmerksamkeit erreicht, die zu sehr damit beschäftigt war, sich fest vorzunehmen, heute einen großen Bogen um die Süßwarenabteilung im Supermarkt zu machen.
Im Traumzustand kommt nun erschwerend hinzu, dass unser Bewusstsein in der Regel nicht abgelenkt, sondern völlig durch den «Autopiloten» ersetzt ist. Aber auch im Traum gilt: Das fehlende Bewusstsein verhindert nicht, dass jede Sinneswahrnehmung erlebt, jede Handlung aktiv ausgeführt wird. Sie können sich also den Unterschied in der Wahrnehmung eines normalen Traums verglichen mit einem Klartraum folgendermaßen verdeutlichen: Ein normaler Traum gleicht Ihrer Erinnerung an die Autofahrt zum Arbeitsplatz, die Sie seit Jahren wiederholen. Sie können sich eventuell an einige Details erinnern, die die Routine durchbrochen haben, und eventuell auch die Gefühle und Wahrnehmungen in dieser Situation erneut abrufen. Die meisten Informationen wurden jedoch nicht abgespeichert, da Ihr Autopilot weitestgehend die bewusste Aufmerksamkeit abgelöst hat. Einen Klartraum hingegen erfahren Sie jedes Mal, als säßen Sie gerade in der praktischen Führerscheinprüfung. Ihre Gedanken sind völlig an die Gegenwart gefesselt, Sie leben von Augenblick zu Augenblick, und die Zeit scheint stillzustehen. Sie können Ihrer Verwandtschaft noch Wochen später bis ins kleinste Detail den Moment beschreiben, in dem Sie fast ein Stoppschild übersehen hätten, und davon schwärmen, wie gut es sich angefühlt hat, als der Wagen endlich erfolgreich in der Parklücke stand.
Der Alltag im Traum
Mit dem Wissen, dass nicht nur Träume, sondern auch weite Teile des wachen Lebens scheinbar getrennt von unserem Bewusstsein ihren Lauf nehmen, bietet sich für uns die Möglichkeit, im Alltag zu trainieren, was wir im Traum erreichen wollen. Wenn Sie daran arbeiten, den Autopiloten im Wachzustand gezielt zu erkennen und abzuschalten, wird sich dies auch bald fast automatisch auf den Traumzustand übertragen. Denn unser Denken und Handeln am Tag hat direkten Einfluss auf unsere Träume. Ziel dieses Kapitels ist es, Ihnen dabei zu helfen, diese Theorie möglichst effektiv in die Praxis umzusetzen. Sie werden lernen, Ihrem Alltag mit einem neuen, kritischen Bewusstsein zu begegnen und so in Zukunft auch im Traum ein aktiver Teilnehmer zu werden.
Den Moment leben
Wir beginnen mit einem kleinen Gedankenexperiment: Stellen Sie sich vor, Sie könnten einen Tag lang eine hochintelligente Zivilisation auf einem weit entfernten Planeten beobachten. Sie haben nur 24 Stunden Zeit, um so viele Eindrücke und Informationen wie möglich zu sammeln, und Sie sind der einzige Mensch, der jemals diese Chance bekommen wird. Können Sie sich in dieser Situation vorstellen, darüber nachzudenken, was es am nächsten Morgen zurück auf Planet Erde zum Frühstück geben wird?
Wenn Sie ein realistischeres Beispiel brauchen, erinnern Sie sich einfach an Ihren letzten Urlaub. Die fremde Umgebung, fehlende Routine und nahezu unbegrenzte Freizeit lassen Ihre Neugier wachsen, neue Erfahrungen zu machen. Sie saugen die Eindrücke der fremden Umgebung geradezu in sich auf. Wenn Sie es schaffen, dieses veränderte Bewusstsein zumindest teilweise auf den Alltag anzuwenden, werden Ihre Chancen auf einen Klartraum enorm steigen.
Machen Sie als ersten Schritt einfach mal einen Spaziergang durch Ihre Nachbarschaft und versuchen Sie dabei, so viel Neues zu entdecken wie möglich. Selbst wenn Sie glauben, dass Sie ein besseres Bild von Ihrem Wohnort haben, als Google es mit noch so vielen auf Kleinwagen montierten Kameras einfangen kann, verspreche ich Ihnen, dass es unendlich viel zu entdecken gibt. Es gibt dabei nur eine Regel: Konzentrieren Sie Ihre Aufmerksamkeit und Gedanken einzig und allein darauf, etwas Neues über Ihre Nachbarschaft zu erfahren. Beschränken Sie sich dabei nicht nur auf optische Eindrücke, sondern benutzen Sie nach Möglichkeit alle Sinne, um sich leiten zu lassen.
Wenn Sie es wirklich schaffen, sich von nichts ablenken zu lassen, sollten Sie am Abend keine Probleme damit haben, Ihre kleine Expedition noch einmal durchzuspielen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was es wirklich bedeutet, getragen von Neugier im Moment zu leben. Nehmen Sie sich fest vor, in den kommenden Träumen dieses veränderte Bewusstsein aufrechtzuerhalten.
Auch wenn dies nicht gelingt, hat die Übung ihren Zweck erfüllt. Sie haben die erste Grundlage dafür geschaffen, in den kommenden Tagen und Wochen dieses veränderte Bewusstsein über Ihre Umgebung weiterzuentwickeln und es auf diesem Wege bald auch Teil Ihrer Träume werden zu lassen.
Da über das «im Moment leben» unzählige Bücher geschrieben, sogar ganze Lebensphilosophien gegründet wurden, beschäftigen wir uns nun damit, wie man diese erste, zunächst vielleicht abstrakt wirkende Übung alltagsfähig umgestaltet.
Reality-Checks
Sie haben nun schon eine Vorstellung davon, wie wichtig es ist, ein kritisches Bewusstsein für die Realität des Alltags zu entwickeln, mit dem Ziel, dass sich diese Verhaltensänderung auch in den Traumzustand überträgt. Auf dem gleichen Prinzip beruhen die unter Klarträumern sehr beliebten sogenannten «Reality-Checks», also Realitätsprüfungen, die regelmäßig über den Tag verteilt ausgeführt werden und uns dabei helfen, den Traumzustand vom Wachzustand eindeutig zu unterscheiden.
Das mag zunächst komisch klingen, da Sie sich schon Ihr ganzes Leben lang sicher sind, wann Sie wach sind. Es gibt schließlich, bis jetzt, gar keine bewusst erlebte Alternative. Gerade das ist aber auch der Grund dafür, warum Sie bisher nie den Traumzustand als solchen hinterfragt haben, da diese grundlegende Überzeugung auch automatisch im Traumschlaf gilt. Behalten Sie diesen Gedanken im Hinterkopf, wenn Sie die folgenden Zeilen lesen.
Atmen im Schlaf
Einer der effektivsten Reality-Checks macht die Technik deutlich. Für diesen Test hält man sich ganz einfach bei geschlossenem Mund die Nase zu und versucht, tief einzuatmen. Wenn Sie das gerade ausprobieren, während Sie diesen Satz lesen, merken Sie spätestens jetzt, dass das offensichtlich nicht funktioniert. Wiederholt man diesen Test jedoch regelmäßig im Wachzustand, ist es nur eine Frage der Zeit, bis man auch von dessen Durchführung träumt.
Und das Ergebnis ist überraschend: Die Atmung ist im Traum weiterhin problemlos möglich, da man natürlich nur davon träumt, sich die Nase zuzuhalten und die Schlafparalyse dafür sorgt, dass der Körper weiterhin ungehindert atmen kann. Dieses Erlebnis ist so unerwartet und surreal, dass dem Schlafenden in diesem Moment bewusst wird, zu träumen. Derselbe Reality-Check liefert also ein abweichendes Ergebnis, je nachdem, ob man ihn im Wach- oder Traumzustand ausführt.
Es gibt eine ganze Reihe solcher Selbsttests, die auf diesem Prinzip aufbauen. Bevor wir uns damit beschäftigen, wie man die Checks am sinnvollsten über den Tag verteilt und mit dem zuvor besprochenen kritischen Bewusstsein verbindet, gebe ich ein paar weitere Beispiele und verdeutliche die jeweiligen Vor- und Nachteile. Welcher ist Ihr Favorit?
Die Top-Reality-Checks
Tief durchatmen Der gerade erwähnte Reality-Check, bei dem Sie sich die Nase zuhalten und versuchen einzuatmen, ist mein persönlicher Favorit und hat mir mittlerweile zu unzähligen Klarträumen verholfen. Der größte Vorteil ist, dass das Ergebnis im Traum regelrecht erschreckend wirkt und kaum eine Chance besteht, es zu ignorieren. Unsere Atmung wird zudem sonst im Schlaf völlig unbewusst gesteuert und allein die...