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E-Book

Jürgen Bartsch: Selbstbildnis eines Kindermörders

AutorPaul Moor
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl496 Seiten
ISBN9783644023017
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Im Juni 1966 berichteten alle deutschen Zeitungen auf Seite eins über die Verhaftung eines 19-jährigen Metzgergesellen, der auf unvorstellbar grausame Weise vier Schuljungen missbraucht und zu Tode gequält hatte. Paul Moor nimmt als Korrespondent und Berichterstatter an dem Prozess teil und beginnt eine Korrespondenz mit dem Angeklagten. Und Jürgen Bartsch fasst Vertrauen. Er antwortet und schreibt sich alles von der Seele, was ihn zum Opfer und zum Täter gemacht hat. In über 8 Jahren, bis kurz vor Bartschs Tod, sammelt Paul Moor Hunderte von Briefen - das erschütternde Selbstbildnis eines vierfachen Kindermörders, wie es die Literatur nicht kannte und das einen Einblick in die Untiefen der menschlichen Psyche ermöglicht und uns erkennen lässt, warum Menschen morden.

Paul Moor (* 3. März 1924 in El Paso, Texas; ? 11. Oktober 2010 in Berlin) war ein deutscher Schriftsteller, Fotograf und Musikkritiker US-amerikanischer Herkunft, der in Berlin-Wilmersdorf lebte, auf Deutsch und Englisch publizierte und als ein Vermittler zwischen US-amerikanischer und deutscher Kultur gesehen wird. 2004 bekam er das Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland verliehen, womit sein Beitrag zu den deutsch-US-amerikanischen Kulturbeziehungen gewürdigt wurde.Paul Moor galt in seiner Jugend als musikalisches Wunderkind. Er studierte Klavier an der Juilliard School of Music und der Universität von Texas. Den Plan, eine Laufbahn als Konzertpianist einzuschlagen, gab er jedoch 1947 auf und wandte sich dem Journalismus zu.

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Leseprobe

2  Untermalung zu einem Selbstbildnis


Das im Kern unzerstört erhaltene Städtchen Langenberg liegt in der Nähe von Essen. In diesem Industrierevier nimmt sich Langenberg – im Deilbachtal, umgeben von Wiesen, Weiden, Bach und Wald – idyllisch aus: eine heile Welt. Auf der Heeger Straße kann man an einem alten Luftschutzbunker vorbeigehen, ohne es überhaupt zu merken: Vor Jahren hat man den Eingang zum Stollen betoniert. Heute weiß nur der Kenner, daß vier der scheußlichsten, grausamsten Morde der Kriminalgeschichte zwischen 1962 und 1966 in diesem Bunker begangen worden sind. Nicht weit von hier steht an der Heeger Straße ein Schild: «Zehn Minuten Fußweg zur Gaststätte Haus Senderblick». An dieser Stelle mündet ein steiler Fußweg, den Jürgen Bartsch nachts immer nehmen mußte, wenn er aus seinem Elternhaus oben am Hang hinunter zum Tatort schlich.

Die Langenberger Polizei hat Jürgen Bartsch am 21. Juni 1966 verhaftet. Am 29. November 1967 fing sein erster Prozeß in Wuppertal an; fünf Tage später, am 4. Dezember, kam ich hinzu. Um die Zeitlücke von anderthalb Jahren zwischen seiner Verhaftung und seinem ersten Brief an mich zu füllen, habe ich aus verschiedenen Quellen Material gesammelt, das unmittelbar mit Jürgen Bartsch zu tun hat.

Am linken und unteren Rande einer vergilbten Fotokopie seiner Geburtsurkunde (Nr. 882, vom 8. November 1946) sieht man eine Menge Hinzugekritzeltes, mitunter den Namen Bartsch; hier ging es offensichtlich um seine Adoption. Da liest man:

 

Die Elisabeth Anna Sadrozinski geborene Liedtke

wohnhaft in Essen, bei ihrem Ehemann

Ehefrau des Bergmanns Friedrich Sadrozinski

wohnhaft in Essen, Katernberger Straße 315

hat am 6. November 1946 um 9 Uhr 50 Minuten

zu Essen, in den Städtischen Krankenanstalten

einen Knaben geboren. Das Kind hat die Vornamen erhalten:

Karl Heinz.

Der Standesbeamte

In Vertretung: [Unterschrift unleserlich]

Eheschließung der Eltern am 8. 5. 1943 in Essen

Standesamt Essen-Stoppenberg Nr. 140/​1943

 

Buchstäblich schon im Augenblick seiner Geburt befand sich Jürgen Bartsch in einem pathologischen Milieu: Er wurde sofort nach der Entbindung von seiner tuberkulösen Mutter, die wenige Wochen später starb, getrennt. Eine Ersatzmutter für das Baby gab es nicht. In Essen, noch 1971 im Dienst auf der Wöchnerinnenstation, fand ich Schwester Anni, die das Kleinkind noch deutlich in Erinnerung hatte:

«Es war so ungewöhnlich, Kinder mehr als zwei Monate im Krankenhaus zu behalten. Jürgen blieb aber elf Monate bei uns.» Seit Sigmund Freud, und besonders seit René A. Spitz, weiß die moderne Psychologie, daß das erste Jahr im Leben eines Menschen für seine Entwicklung mit Abstand das allerwichtigste ist: Mütterliche Wärme und körperlicher Kontakt haben einen unersetzlichen Wert für die spätere Entwicklung des Kleinkindes. Am 21. Juli 1969 schrieb mir Jürgen im Alter von zweiundzwanzig Jahren: «Wenn ich Krankenhaus-Luft rieche, wird mir sofort schlecht, und ich muß mich hinlegen. Vielleicht hat das ein wenig zu tun damit, daß ich über ein Jahr ‹von Anfang an› im Krankenhaus gelebt habe.»

Aber schon in der Krankenhauskrippe begann die ökonomische und soziale Einstellung der späteren Adoptiveltern das Leben des Babys zu bestimmen. Schwester Anni erzählte mir: «Frau Bartsch hat extra bezahlt, damit er hier bei uns bleiben konnte. Sie und ihr Mann wollten ihn adoptieren, aber die Behörden zögerten, weil sie Bedenken über die Herkunft des Kindes hatten. Wie er war auch seine Mutter außerehelich geboren. Sie hatte auch eine Zeitlang bei der Fürsorgeerziehung verbracht. Man wußte nicht genau, wer der Vater war. Normalerweise schickten wir elternlose Kinder nach einer gewissen Zeit auf eine andere Station, aber Frau Bartsch wollte das nicht zulassen. Auf der anderen Station gab es ja alle möglichen Kinder, auch von asozialen Eltern.»

«Ich erinnere mich noch heute, was das Kind für strahlende Augen hatte! Er lächelte sehr früh, verfolgte, hob das Köpfchen, alles sehr, sehr früh. Einmal entdeckte er, daß die Schwester kommen würde, wenn er auf einen Knopf drückte, und das machte ihm großen Spaß. Er hatte damals keine Eßschwierigkeiten. Er war ein völlig normales, gediegenes, ansprechbares Kind.»

Andererseits aber tauchten pathologisch frühe Entwicklungen auf. Die Schwestern auf der Station mußten Ausnahmemethoden erfinden, da ein so großes Kind auf der Entbindungsstation eine Ausnahme bildete. Zu meinem Erstaunen hörte ich, daß die Schwestern das Baby schon mit weniger als elf Monaten «sauber» gekriegt hatten. Schwester Anni fand mein Erstaunen offensichtlich merkwürdig. «Vergessen Sie nicht, wie das damals war, nur ein Jahr nach einem verlorenen Krieg. Es gab überhaupt keinen Schichtwechsel für uns.» Meine Frage, wie sie und ihre Kolleginnen das geschafft hätten, beantwortete Schwester Anni ein bißchen ungeduldig: «Wir haben ihn einfach auf das Töpfchen gesetzt. Das fing mit sechs oder sieben Monaten an. Wir hatten Kinder hier im Krankenhaus, die schon mit elf Monaten laufen konnten, und auch die waren schon fast ‹sauber›.» Unter den gegebenen Umständen wird man nicht von einer deutschen Krankenschwester jener Generation, nicht einmal von einer so gutherzigen Frau wie Schwester Anni, aufgeklärte Kindererziehungsmethoden erwarten dürfen: Die Nazis hatten ja solche angeblich verweichlichenden Methoden aus Deutschland verbannt.

Es besteht kein Zweifel, daß die Eheleute Bartsch sich damals nach einem Kind sehnten, besonders Gerhard Bartsch. Als er kurz nach dem Kriege Dänemark besuchte, brachte er von dort ein Paar kleine Lackschuhe mit, obwohl kein Kind unterwegs war.

Kurz nach der Entbindung der Kriegerwitwe Sadrozinski mußte die spätere Adoptivmutter Gertrud Bartsch in dieselbe Klinik, wo eine «Totaloperation» alle Wünsche nach eigenen Kindern zunichte machte. Sie und ihr Mann lernten in dieser traurigen Zeit den kleinen blonden Jürgen (damals noch Karl-Heinz) kennen. Das Baby befand sich in einer Phase, über die René A. Spitz ausführlich geschrieben hat; solche verlassenen Kinder «entwickeln sich zuerst rascher und sind kontaktfähiger als andere, bis sie dann, wenn die dauernde mütterliche Zuwendung fehlt und die Notreserven des Kleinkindes erschöpft sind, zurückfallen hinter diejenigen, die sich in der mütterlichen Wärme Zeit lassen konnten mit der Entfaltung ihrer Bildungsfähigkeiten.»

Nach elf langen Monaten dieser pathogenen Existenz – fast das ganze, nie kompensierbare erste Jahr – kam das Kind, jetzt Jürgen genannt, zu den Adoptiveltern Bartsch. Jedem, der Frau Bartsch näher kennt, fällt sie als «Putzteufel» auf. Kurz nach der Verpflanzung aus dem Krankenhaus in sein neues Zuhause wurde das anomal früh auf «sauber» dressierte Baby rückfällig, und das erfüllte Frau Bartsch mit Ekel.

Bekannte der Familie Bartsch sahen damals, daß das Baby immer wieder Blutergüsse aufwies. Frau Bartsch hatte jedesmal eine neue Erklärung für die häßlichen dunklen Flecken, aber ihre Erklärungen wirkten wenig überzeugend. Mindestens einmal während jener Zeit hat der bedrückte Vater Gerhard Bartsch einem Freund bekannt, daß er eine Scheidung erwäge: «Sie schlägt das Kind so, ich ertrage es einfach nicht mehr.» Ein anderes Mal, als er sich eilig verabschiedete, entschuldigte sich Herr Bartsch mit der Begründung: «Ich muß nach Hause, sonst schlägt sie mir das Kind tot.»

In Anne-Eva Braunecks Buch Allgemeine Kriminologie liest man: «Aller Wahrscheinlichkeit nach war der Junge schon in seiner Bindungsfähigkeit beeinträchtigt, als er mit elf Monaten zum erstenmal die Gelegenheit zu einer stabilen menschlichen Beziehung bekam; allermindestens mußte dieser letzte Wechsel ihn verstören. Zur Entwicklung seiner Bindungsfähigkeit hätte es darum einer außerordentlich warmherzigen und großzügigen Mutter bedurft, statt einer so eingeengten Frau wie Frau Bartsch, die nicht mehr jung war, nie eigene Kinder gehabt hatte, sich für kinderlieb hielt, weil sie sich in einen Engel verliebt hatte, und einen schweren Schock erlitt, als er sich als kleines Menschentier mit einem lebhaft tätigen Unterleib entpuppte. Dies Erlebnis war für Frau Bartsch vermutlich eine wirkliche Bedrohung.»

Aus der Perspektive des Psychoanalytikers schreibt Franz Alexander: «Das erste Verbrechen, das alle Menschen ausnahmslos begehen, ist die Übertretung der Reinlichkeitsgebote. Und unter dieser Herrschaft der Kriminaljustiz der Kinderstube lernt der Mensch die Repressalien der Umwelt gegen seine ursprünglichen Triebregungen zum ersten Male kennen. Mit Recht spricht Ferenczi von der Sphinktermoral als dem Anfang und der Grundlage jeglicher Moral. Für gewisse unzugängliche Kriminelle, die in einer trotzigen Ablehnung der Sozietät verharren, könnte das Vorbild ein auf seinem Töpfchen thronendes Baby sein, das allen Beeinflussungen einen unzugänglichen Widerstand entgegensetzt und triumphierend sich in dieser souveränen Situation dem Erwachsenen überlegen fühlt. In dem Augenblick, wo das Kind zum ersten Male die Hemmungstätigkeit seines Sphinkters selbständig vornimmt, hat es den ersten entscheidenden Schritt zur Anpassung an die Umwelt getan. Es hat in einem Teil seiner Persönlichkeit eine Hemmungsinstanz aufgerichtet, die von dem übrigen Teil seiner Persönlichkeit verlangt, was bisher die Außenwelt von ihm...

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