Vorwort
Vor langer Zeit landeten drei spanische Ritter auf der Insel Favignana vor der westlichsten Spitze Siziliens. Sie hießen Osso, Mastrosso und Carcagnosso und waren auf der Flucht. Einer ihrer Schwestern war von einem hochmütigen Edelmann Gewalt angetan worden, und die drei Ritter waren aus Spanien geflohen, nachdem sie die schändliche Tat blutig gerächt hatten.
In einer der vielen Höhlen und Grotten auf Favignana fanden Osso, Mastrosso und Carcagnosso Zuflucht und zudem einen Ort, wo sie den Zorn ob des ihnen widerfahrenen Unrechts in einen neuen Verhaltenskodex münden ließen und einen neuen Geheimbund gründeten. In den folgenden 29 Jahren ersannen und verfeinerten sie die Regeln der Ehrenwerten Gesellschaft, ehe sie ihre Botschaft schließlich in die Welt hinaustrugen.
Osso weihte sein Leben dem heiligen Georg, begab sich auf das nahe gelegene Sizilien und gründete dort jenen Zweig der ehrenwerten Gesellschaft, der als Mafia bekannt werden sollte.
Mastrosso wählte sich die Muttergottes zur Schirmherrin und segelte nach Neapel, wo er einen weiteren Zweig ins Leben rief: die Camorra.
Carcagnosso schließlich verehrte den Erzengel Michael. Er überquerte die Meerenge zwischen Sizilien und dem italienischen Festland nach Kalabrien und gründete dort die ’Ndrangheta.
Omertà handelt von den Ursprüngen und Anfängen der drei meistgefürchteten kriminellen Vereinigungen oder Mafias in Italien. Allerdings kann kein Historiker von sich behaupten, er habe als Erster das Rätsel lösen wollen, wie die sizilianische Mafia, die neapolitanische Camorra und die kalabrische ’Ndrangheta ihren Anfang nahmen. Die Ersten waren nämlich die Mafiosi selbst. Jedes der großen Verbrechersyndikate verfügt über einen eigenen Entstehungsmythos. Die Geschichte von Osso, Mastrosso und Carcagnosso beispielsweise ist die offizielle Version der ’Ndrangheta zu ihren Ursprüngen: Sie wird kalabrischen Rekruten erzählt, die dem örtlichen Clan beitreten wollen, um sich einem von Mord, Erpressung und Drogenhandel bestimmten Leben zu verschreiben.
Aus historischer Sicht haben die drei spanischen Ritter in etwa so viel Substanz wie die drei Bären aus dem gleichnamigen Märchen. Die Geschichte ist purer Unsinn, wenn auch todernster, pseudosakraler Unsinn. Die Erforschung des Nationalismus gemahnt uns daran, dass eine verklärte Vergangenheit jede Schandtat rechtfertigt. In den vergangenen 150 Jahren ist es den Mafias außerdem immer wieder gelungen, die Wahrheit zu verschleiern, indem sie ihr die eigene Version überstülpten. So entpuppte sich die offizielle Geschichtsversion allzu oft als ein Produkt aus den Mythen der Mafia, die weitaus heimtückischer sind, als der Unsinn über Osso, Mastrosso und Carcagnosso zunächst vermuten ließe. Keine einzige gewöhnliche Gang, und sei sie noch so mächtig, hat so lange überlebt wie die Mafias; oder so viel Einfluss auf die Art und Weise, wie ihre eigene Vergangenheit geschildert wird. Allein die Tatsache, dass die Mafias der Historie einen so hohen Stellenwert beimessen, verrät den ungeheuerlichen Grad ihres Ehrgeizes.
Die Geschichte der Mafias ist mit weitaus größeren Ungeheuerlichkeiten angefüllt. Am sichtbarsten sind die von erschreckender Brutalität begleiteten Aktionen. Die verstörende Grausamkeit der Mafiaorganisationen ist wesentliche Grundlage ihres Seins und Tuns. Eine gewaltfreie Mafia existiert nicht. Dabei ist die Gewalt nur die Spitze des Eisbergs. Mit Hilfe der Gewalt und des großen Handlungsspektrums, das sie ermöglicht, korrumpieren die Mafias die demokratischen Institutionen der Republik, beschneiden drastisch die Lebenschancen ihrer Bürger und setzen ihre eigennützigen Machenschaften an die Stelle des Rechts. Das wahrhaft Ungeheuerliche an den Mafias in Italien ist daher nicht etwa die Tatsache, dass durch sie zahllose Leben – auch innerhalb der Vereinigungen – auf grausame Weise beendet wurden. Ebenso wenig sind es die vielen Existenzen, die vernichtet, die Ressourcen, die vergeudet, die kostbaren Landschaften, die zerstört wurden. Das wirklich Ungeheuerliche ist die Tatsache, dass diese Mörder im Süden Italiens eine Parallelregierung bilden. Sie unterwandern Polizei und Justiz, Stadt- und Gemeinderäte, regionale Ministerien und Wirtschaftsunternehmen. Sie verfügen auch über ein gewisses Maß an öffentlicher Unterstützung, und zwar seit der Gründung des italienischen Staates im Jahr 1861. Als Italien größer wurde, wuchsen die Mafias mit ihm. Ungeachtet dessen, was die faschistische Propaganda vielen Menschen weiszumachen versuchte, überlebten die kriminellen Vereinigungen unter Mussolinis Regime, unterwanderten es sogar. Im Frieden und der Demokratie, welche die Zeit seit 1946 prägten, gediehen sie schließlich besser denn je. Als Italien sich in den 1960er Jahren in eine der reichsten kapitalistischen Wirtschaften verwandelte, wurden die kriminellen Vereinigungen stärker, reicher und brutaler als je zuvor. Sie vervielfältigten und verbreiteten sich, erzeugten neue Mafias und neue Plagen in Gegenden des Staatsgebiets, die zuvor immun zu sein schienen. Italien ist ein junges Land, eine moderne Schöpfung; und die Mafias sind eines der Symptome dieser Modernität, auf italienische Art.
Dort, wo die Macht der Mafia am stärksten ist, in den ländlich geprägten Regionen, ist sie heute nichts weniger als ein verbrecherisches Regime. In einem geheimen Bericht aus dem Jahr 2008, der auf die Website von Wikileaks geriet, schilderte der Generalkonsul der Vereinigten Staaten in Neapel die Zustände in Kalabrien, der Region an der Spitze des italienischen Stiefels, in der die ’Ndrangheta heimisch ist. Man kann sich über die eine oder andere seiner Statistiken streiten, aber der Kern der Diagnose ist ebenso wahr wie ernüchternd:
»Das Verbrechersyndikat ’Ndrangheta kontrolliert große Teile des Hoheitsgebiets und der Wirtschaft Kalabriens und erzielt mindestens drei Prozent von Italiens Bruttoinlandsprodukt (wahrscheinlich weit mehr) durch Drogenhandel, Erpressung und Wucher (…) Ein Großteil der kalabrischen Industrie ist bereits vor über zehn Jahren zusammengebrochen. Das Ergebnis: Umweltschäden und wirtschaftlicher Ruin. Die Region steht in beinahe jeder Wirtschaftsdisziplin innerhalb Italiens an letzter Stelle. Die meisten Politiker vor Ort, mit denen wir sprachen, waren der fatalistischen Auffassung, dass der ökonomischen Abwärtsspirale des Landes und dem Würgegriff der ’Ndrangheta wenig entgegenzuhalten sei. Andere wiederum behaupteten verlogen, das organisierte Verbrechen stelle längst kein Problem mehr dar (…) Niemand hier glaubt, dass die Regierung in Rom auch nur den geringsten Einfluss auf die Verhältnisse in Kalabrien hat, und Politiker vor Ort gelten ausnahmslos als ineffektiv und/oder korrupt. Würde Kalabrien nicht zu Italien gehören, wäre es ein gescheiterter Staat.«
Italien war schon immer eine Gesellschaft mit tiefreichenden Problemen. Dennoch ist das Land weder eine südamerikanische Bananenrepublik oder eine verarmte Warlord-Domäne in Asien noch die Ruine eines zerschlagenen osteuropäischen Staates. Wenn sich unsere Landkarten nicht fatal irren, befindet sich die wie ein Stiefel geformte Halbinsel keineswegs in einer Region der Welt, in der die Autorität des Staates erwartungsgemäß durch eine gewalttätige raubgierige alternative Macht untergraben wird. Italien ist ein vollwertiges Mitglied in der Familie westeuropäischer Nationen. Doch als einzige unter diesen Nationen beherbergt es die Mafias. Hierin liegt sowohl die Faszination als auch die dringende Notwendigkeit einer Geschichte der Mafia begründet.
Die Beschäftigung mit der Geschichte der Mafia ist allerdings ein junges Forschungsfeld, entstanden nach der beispiellosen Mafiagewalt der 1980er und frühen 1990er Jahre, als italienische Wissenschaftler begannen, ihre Empörung in geduldige und konsequente Forschung umzusetzen. Die überwältigende Mehrheit dieser Historiker, deren Zahl beständig wächst, stammt gerade aus jenen südlichen Regionen, die am schlimmsten von Italiens permanentem kriminellen Ausnahmezustand betroffen sind – Regionen, in denen auch heute noch Mafiageschichte geschrieben wird. Einige dieser Forscher sind, so wie ich, in der glücklichen Lage, einen Lehrstuhl innezuhaben. Andere sind Richter und Juristen, wieder andere einfach nur engagierte Bürger. Doch sie alle sind fest entschlossen, den Lügen und Mythen der Mafia, die weitaus heimtückischer sind, als es der Humbug von den spanischen Rittern zunächst glauben machen könnte, mit harten Fakten und offenen Debatten zu begegnen. Es gibt wohl nur wenige Bereiche in der Geschichte, in denen die Erforschung der Vergangenheit einen so direkten Beitrag zu einer besseren Zukunft leisten kann. Um die Mafias zu besiegen, gilt es zunächst zu verstehen, was sie eigentlich sind; und sie sind genau das, was die Geschichtswissenschaft uns offenbart, nicht mehr und nicht weniger. Den Bemühungen einer Vielzahl von Historikern ist es zu verdanken, dass wir mittlerweile imstande sind, ein wenig Licht in das Dunkel der frühen Jahre des organisierten Verbrechens in Italien zu bringen und Fakten offenzulegen, die nicht nur erschreckend sind, sondern von erschreckender Relevanz für die Gegenwart.
Das vorliegende Buch entspringt meiner Überzeugung, dass die Erkenntnisse dieses wachsenden Forschungszweigs zu wichtig sind, um sie den Spezialisten vorzubehalten. Der Text vereint die bereits bekannte Dokumentation mit den besten Ergebnissen der jüngeren Forschung, so dass, wie man sagen könnte, eine Art Chor entsteht, eine vielstimmige Erzählung. Meine eigene Stimme ist insofern Teil des...