Einleitung
Wir alle sind – zumindest medial – Augenzeugen eines Jahres der unerwarteten, sich immer weiter ausbreitenden und durchaus folgenreichen Proteste gewesen. Das US-amerikanische Nachrichtenmagazin TIME hat ihre zentrale Figur, den Demonstranten, sogar zur »Person des Jahres 2011« erklärt.1 Von Tunesien aus ist der Funke auf Ägypten und dann von einem arabischen Land zum nächsten übergesprungen. Protestierende haben so lange aufbegehrt, bis sie ihre Regime zu Fall gebracht und ihre Potentaten verjagt hatten. Das wiederum hat Akteure in Ländern außerhalb des arabischen Raums dazu gebracht, sich an der Besetzung des Tahrir-Platzes in Kairo zu orientieren, diese zum Modellfall zu erklären und ihr Heft schließlich selbst in die Hand zu nehmen. Resultat war ein regelrechter Dominoeffekt. In zahlreichen Ländern ließen sich Hunderttausende von jungen Leuten durch den sogenannten Arabischen Frühling inspirieren, begannen selbst zu demonstrieren und ihre eigenen Plätze zu besetzen.
Dies alles hat sich vor dem Hintergrund dramatischer Großereignisse abgespielt, mit deren Folgen wir vermutlich noch lange zu tun haben werden. Im März 2011 kam es zu der Nuklearkatastrophe von Fukushima, die die Bundesregierung, die erst Monate zuvor ihren Ausstieg aus dem Atomausstieg proklamiert hatte, dazu gebracht hat, sich die wichtigste Forderung der Anti-AKW-Bewegung zu eigen zu machen und stufenweise aus der Atomenergie auszusteigen. Im Frühjahr verschärfte sich die Staatsverschuldung Griechenlands so sehr, dass sich die Regierung des Mittelmeerlandes im April mit der Bitte an die Europäische Union und den Internationalen Währungsfonds wandte, das infolge der Finanzkrise angebotene Rettungspaket in Anspruch nehmen zu dürfen. Seitdem hat sich dort nicht nur die Schulden- zu einer veritablen Stabilitätskrise ausgeweitet, die weitere EU-Länder bedroht, sondern eine Krise der Europäischen Währungsunion und der Europäischen Union insgesamt ausgelöst. Die Großdramen einer transnationalen Finanzkrise, die so weit geht, einen ganzen Staatenverbund in seiner Existenz zu bedrohen, und einer monströsen Umweltkatastrophe, die die Unbeherrschbarkeit der Atomenergie ein weiteres Mal bewiesen hat, stellen mehr als nur die Hintergrundkulisse dar, vor der sich auf eruptive Weise die Dynamiken sozialer Bewegungen abspielen.
Auch wenn nicht immer ganz klar ist, ob und wie sich Teile des alten Machtapparates – wie etwa das Militär in Ägypten – arrangiert haben und die Konflikte in manchen Ländern – wie vor allem in Syrien – unvermindert weiter anhalten und längst in bürgerkriegsähnliche Unruhen übergegangen sind, so haben die Proteste die politischen Verhältnisse in dieser Region, nicht zuletzt in Libyen, bereits nachhaltig verändert. Doch der Anstoß, den der Arabische Frühling gegeben hat, ist keineswegs auf diesen Raum beschränkt geblieben und hat mit Spanien, Portugal und Frankreich etwa auf Länder übergegriffen, die politisch, kulturell und religiös völlig anders strukturiert sind. Und dann ist noch ein Land hinzugekommen, das historisch wie politisch als Sonderfall gilt und dessen bisherige Sicherheitsarchitektur im Gefolge der genannten Ereignisse zunehmend auf dem Prüfstand steht: Israel. Dass auch dort Hunderttausende junger Leute, die vor allem zur Mittelschicht zu zählen sind, auf die Straße gegangen sind, macht eine weitere große Überraschung aus.
Schließlich ist im September 2011 in New York mit Occupy Wall Street eine Bewegung mit einer besonderen Ausstrahlung hinzugekommen. Es sieht ganz so aus, als sei die soziale und politische Welle, die über Monate hinweg so viele und so unterschiedliche Länder in Atem gehalten hat, nun im Epizentrum der Macht, zumindest der des internationalen Finanzkapitals, angekommen.
So gering die Anzahl der Demonstranten im Zuccotti-Park in Manhattan im Vergleich zur Menge auf dem Tahrir-Platz in Kairo und anderswo auch sein mochte, so stark war andererseits ihre symbolische Bedeutung. Mitten im New Yorker Finanzviertel, gewissermaßen an der Pforte zur wichtigsten Börse der Welt, der New York Stock Exchange, die Macht der Banken infrage zu stellen, ist erheblich gravierender, als dies an irgendeinem anderen Ort oder Platz auf der Welt zu tun.
Wer sich occupywallst.org, die Website der Aktivisten, anschaut, um sich mit ihrem eher minimalistisch anmutenden Selbstverständnis vertraut zu machen, dem fallen drei Punkte auf. Die Bewegung versteht sich als nichthierarchische Widerstandsbewegung unterschiedlicher Hautfarben, Geschlechter und Überzeugungen, als Ausdruck der seit den Worten des Ökonomen Joseph Stiglitz seitdem in aller Munde befindlichen »99 %«, die nicht länger bereit seien, die Gier und Korruption des »1 %« zu tolerieren, und – in ausdrücklicher Anlehnung an die Formen des »revolutionären Arabischen Frühlings« – als überzeugte Vertreter der Gewaltfreiheit. Vermutlich ist es gerade diese programmatische Kargheit, die es manchem Prominenten erleichtert hat, sich an die Seite der Demonstrierenden zu stellen.
Bereits einen Monat später hatten am 15. Oktober 2011 die Protestaktionen gegen das Banken- und Finanzsystem eine globale Dimension erreicht. Weltweit wurde in mehr als 900 Städten in rund 80 Ländern demonstriert. Hunderttausende sind an diesem Tag auf die Straßen gegangen, allein in Spanien und Italien dürften es zusammen eine Million gewesen sein. Mit einem Mal schien es, als seien durch das Auftreten von Occupy Wall Street die unterschiedlichsten Bewegungsströmungen miteinander synchronisiert worden.
Wer sich ein wenig mit der Phänomenologie dieser an so unterschiedlichen Stellen des Globus entstandenen Protestszenarien vertraut zu machen beginnt, dem wird schnell klar, wie schwierig es ist, das alles auf einen gemeinsamen Nenner bringen und auf dieser Grundlage Prognosen, vor allem Vorhersagen über Erfolg oder Misserfolg, formulieren zu wollen. Es erscheint schon schwierig genug, die Phänomene des Protests zu lesen, die neuartigen, ein ums andere Mal in die Medien gespülten Slogans, Codes und Chiffren zu verstehen. Seit einigen Monaten geht es um so schillernde wie gewöhnungsbedürftige Namen wie Adbusters und Anonymous, kryptisch anmutende Ausdrücke wie Culture Jamming und Hashtags, eigenwillige Bezeichnungen wie Geração à rasca und diplômé chômeur, bislang weitgehend unbekannte Frauen wie Camila Vallejo und Tawakkul Karman, einen gewissen Guy Fawkes oder eigentümliche Gerätschaften wie Human Microphones. Eine neue Bewegung bringt am laufenden Band neue Keywords hervor. Die Sprache der Akteure zu verstehen und die mit diesen Ausdrücken verbundenen sozialen Szenarien zu begreifen, stellt zunächst einmal eine ganz elementare Aufgabe der Decodierung dar.
Dann stellen sich folgende Fragen: Warum sind diese so energiegeladenen Proteste gerade in den nordafrikanischen Staaten aufgebrochen und warum haben sie sich in Windeseile von einem arabischen Land zum nächsten ausbreiten können? Warum sind die Proteste sogar über den Atlantik gesprungen und haben das mächtigste Land der Welt erfasst? Und wo liegen die Gemeinsamkeiten der Akteure? Gibt es überhaupt eine gemeinsame Schnittmenge bei den gegenwärtigen Protesten?
Angesichts des Panoramas, das sich im Lauf des Jahres 2011 ausgebreitet hat, ist es zwingend, in einer ganzen Reihe von Ländern von mehr als nur Protest zu sprechen. Zwar hat alles mit den üblichen Protestformen wie Demonstrationen, Sitzblockaden und Kundgebungen begonnen, jedoch ist es dabei vielerorts keineswegs geblieben. In zahlreichen Fällen wurde aus Protest Widerstand, aus Widerstand Aufruhr, und dieser wiederum mündete in einzelnen Fällen in einen regelrechten Aufstand gegen den oder die jeweiligen Machthaber. Die Fähigkeit zur Massenmobilisierung, zur Entschiedenheit im Vorgehen und zur Flexibilität im Umgang mit den in ihrer Gewaltförmigkeit zumeist haushoch überlegenen Organen der Staatsmacht hat Dynamiken ungeahnten Ausmaßes freizusetzen vermocht.
In der vorliegenden Publikation geht es um Protest, aber auch um mehr als nur diesen. Es handelt sich um eine Form, die die Protestaktionen der westlichen mit denen der arabischen Staaten miteinander verbindet – es geht um Aufruhr. Doch was macht einen Aufruhr eigentlich aus? Während es beim Protest um eine kollektive, in der Öffentlichkeit vorgebrachte Äußerung von Widerspruch und Unmut geht, steigert sich beim Aufruhr dieser Einspruch zu einer Form der Empörung, die in eine Auflehnung gegen die Staatsgewalt münden kann. Beim Aufstand handelt es sich hingegen um eine Form des zielgerichteten Widerstands gegen die Staatsgewalt, der sich zu seiner Durchsetzung auch gewaltsamer Mittel bedienen und zu einem Regierungssturz oder gar zu einem Wechsel des gesamten Systems führen kann.
Über die jeweiligen Aktionen hinaus wird aber auch nach den Trägern der Protest- und Widerstandsformen gefragt, danach, ob es im Hinblick auf die Akteure Spezifika gibt. Beobachter kamen rasch darin überein, dass es sich bei den...