1. Das Dilemma mit dem menschlichen Leiden
Nichts, was von außen kommt, sichert uns Freiheit vom Leiden. Selbst wenn wir Menschen alles besitzen, was wir von außen gesehen als Erfolg werten – gutes Aussehen, liebevolle Eltern, tolle Kinder, finanzielle Sicherheit, einen geliebten Lebenspartner –, genügt uns das nicht. Ein Mensch kann es warm und trocken haben, satt und gesund sein – und sich dabei trotzdem elend fühlen. Er kann Erlebnisse und Formen der Unterhaltung genießen, die in der nicht menschlichen Welt völlig unbekannt und auch nicht allen Menschen in der Bevölkerung zugänglich sind – HDTV-Fernsehen, Sportwagen, Urlaubsreisen in die Karibik –, und trotzdem psychisch schwer krank sein. Jeden Morgen kommt ein erfolgreicher Manager in sein Büro, schließt die Tür hinter sich und greift verstohlen in die unterste Schreibtischschublade nach der Schnapsflasche. Jeden Tag lädt ein Mensch, der alle materiellen Vorteile genießt, eine Pistole, schiebt sich den Lauf in den Mund und drückt ab.
Psychotherapeuten und Kliniker sind mit den düsteren Statistiken, die diese Fakten dokumentieren, nur zu gut vertraut. In den USA zeigen diese Daten zum Beispiel, dass fast 50 Prozent der Menschen im Laufe ihres Lebens an einer psychischen Störung erkranken, während die Anzahl der Menschen, die aufgrund der Probleme am Arbeitsplatz, in der Beziehung, mit den Kindern und mit den Herausforderungen des Lebens unter emotionalen Belastungen leiden, sogar noch höher liegt (Kessler et al., 2005). In den USA gibt es fast 20 Millionen Alkoholiker (Grant et al., 2004); mehrere Zehntausend Menschen begehen jährlich Selbstmord, zahllose weitere scheitern beim Versuch, sich umzubringen (Centers for Disease Control and Prevention, 2007).[1] Solche Statistiken betreffen nicht nur Ältere, denen das Leben seit Jahrzehnten zusetzt, sondern schon Jugendliche und Heranwachsende. Fast die Hälfte der Bevölkerung im College-Alter erfüllte in den letzten Jahren die Kriterien für mindestens eine Diagnose nach DSM (Blanco et al., 2008).
Wollten wir die Allgegenwärtigkeit des menschlichen Elends in den Industriestaaten mit Zahlen dokumentieren, könnten wir damit fast endlos fortfahren. Häufig führen Therapeuten und Forscher aus einem Problembereich eine Statistik nach der anderen an, wenn sie mehr Therapeutenplätze, bessere Finanzierung für psychiatrische Gesundheitsprogramme oder verstärkte Forschungsförderung in der Psychologie fordern. Gleichzeitig scheint sowohl an der Fachwelt wie an der Öffentlichkeit die bedeutsamere Botschaft dieser Statistiken als Ganzes vorbeizugehen. Nehmen wir all diese ehemals oder akut depressiven, süchtigen, angstgestörten, wütenden, selbstschädigenden, entfremdeten, besorgten, an Zwangsstörungen leidenden, zu Workaholics gewordenen, unsicheren, zwanghaft schüchternen, geschiedenen, intimitätsscheuen und gestressten Menschen zusammen, kommen wir unweigerlich zu einer erstaunlichen Schlussfolgerung: Psychische Leiden liegen im Wesen des menschlichen Lebens.
Darüber hinaus fügen die Menschen einander fortwährend Leid zu. Denken Sie daran, wie einfach es ist, andere Menschen zu entwürdigen und zu entmenschlichen. Die Weltgemeinschaft schwankt geradezu unter dem Gewicht der Entwürdigung mit allen daraus entstehenden menschlichen und wirtschaftlichen Kosten. An diese traurige Tatsache wird man jedes Mal erinnert, wenn man einen Teil seiner Kleidung ausziehen muss, um an Bord eines Flugzeugs zu gelangen, oder seinen Tascheninhalt auf ein Förderband legen muss, um in ein Amtsgebäude gelassen zu werden. Frauen bekommen für die gleiche Tätigkeit ein Viertel weniger Lohn als Männer, für Angehörige von Minderheiten ist es in Großstädten oft schwierig, ein Taxi zu bekommen, und Wolkenkratzer werden von Terroristen in Flugzeugen als Symbol dessen angegriffen, was ihnen verhasst ist; als Antwort darauf werden Bomben abgeworfen, weil man in dem Gebiet diejenigen zu treffen wünscht, die man für böse hält. Menschen leiden nicht nur, sondern lösen durch Vorurteile und Stigmatisierungen dieses Leiden aus, als sei dies so natürlich wie das Atmen.
Unsere populärsten Grundvorstellungen davon, was geistig gesund und was krank ist, haben mit dem menschlichen Leiden und der Tatsache, dass Menschen sich gegenseitig Leid zufügen, als allgemein menschliches Problem kaum etwas zu tun. Die westliche Verhaltensforschung und Medizin scheinen stark kurzsichtig gegenüber Wahrheiten zu sein, die nicht in ihre allgemein anerkannten Muster passen. Trotz überwältigender Belege für das Gegenteil heften wir menschlichem Leiden nur zu bereitwillig diagnostische Etiketten an, als ob es das Ergebnis einer Abweichung von der biomedizinischen Norm sei. Entwürdigung und Entmenschlichung sehen wir rein ethisch oder politisch – gerade so, als ob Vorurteile und Stigmata nur für die Unwissenden oder Unmoralischen gälten, aber nicht für die Leser von Büchern wie zum Beispiel dem vorliegenden. Es gibt einen „Elefanten im Zimmer“, den niemand bemerken zu wollen scheint. Es ist schwer, mit sich selbst und anderen Mitgefühl zu haben. Es ist schwer, ein Mensch zu sein.
1.1 Gesunde Normalität: die zugrunde liegende Annahme des psychologischen Mainstreams
Die Medizin ist Zeuge der „Biomedikalisierung“ des menschlichen Lebens geworden und war auch selbst daran beteiligt. Die westliche Zivilisation hat quasi das Freisein von körperlichem oder geistigem Leiden zu einem Götzen erhoben. Die Wunder der modernen Medizin „haben die Menschen überzeugt, dass Heilung die Ursache von Gesundheit ist“ (Farley & Cohen, 2005, S. 33) – nicht nur physischer, sondern jeder Art von Gesundheit. Belastende Gedanken, Gefühle, Erinnerungen oder Erlebnisse wurden vor allem als „Symptome“ verstanden. Hat jemand eine bestimmte Art und Anzahl von diesen „Symptomen“, wird ihm eine bestimmte Abweichung oder sogar eine Erkrankung zugeschrieben. Etiketten verdecken oft die bedeutsame Rolle des Verhaltens und der sozialen Umgebung bei der Bestimmung des physischen und geistigen Gesundheitszustands. Wer früher Probleme hatte, die durch schweres, fettiges Essen ausgelöst wurden, hat heute eine Störung, gegen die man eine lila Pille verschrieben bekommt. Der Schlafmangel, der aus den ungesunden Lebensgewohnheiten in einer Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft resultiert, gilt jetzt als Störung, die zeitweilig entweder durch teures CPAP-Gerät, das für konstanten Sauerstoff-Überdruck sorgt, behoben werden kann oder durch eines der neuen Schlafmittel, die in ihrer Gesamtheit einen Milliardenumsatz bringen. Die Tendenz, psychische Probleme generell nicht anders als körperliche medizinisch zu behandeln, hat sogar Auswirkungen auf die Wasserversorgung der westlichen Länder – in unseren Flüssen und sogar in den Speisefischen finden sich inzwischen nachweisbare Mengen an Antidepressiva (Schultze et al., 2010)! Selbst wenn sie vorschriftsgemäß verschrieben werden, wirken solche Mittel nur in den extremen Fällen besser als ein Placebo (Fournier et al., 2010; Kirsch et al., 2008); solche Fälle aber sind viel zu selten, als dass, verschriebe man die Medikamente nur diesen Patienten, die Qualität der Wasserversorgung beeinflusst werden könnte.
Die Vorstellung, dass man menschliches Leiden am besten in Begriffen bioneurochemischer Anomalität beschreibt, hat eine oberflächlich betrachtet ansprechende Kehrseite, nämlich dass der Mensch im natürlichen Gleichgewicht automatisch gesund und glücklich sei. Diese Annahme einer gesunden Normalität liegt den traditionellen medizinischen Ansätzen zur körperlichen Gesundheit zugrunde. Angesichts des vergleichbar großen Erfolgs der Schulmedizin ist es nicht überraschend, dass Verhaltensforschung und Psychiatrie sich diesem Ansatz angeschlossen haben. Traditionell wird physische Gesundheit einfach als Fehlen von Krankheit definiert. Sich selbst überlassen, so die Annahme, hält sich der Körper in einem Zustand der Gesundheit, die aber durch Infektionen, Verletzungen, Giftstoffe, eine Abnahme der physischen Fähigkeiten oder ein Entgleisen der körpereigenen Prozesse gestört werden kann. In ähnlicher Weise, so die parallele Annahme in der Psychiatrie, sei der Mensch inhärent glücklich, sozial eingebunden, altruistisch und im Frieden mit sich selbst – aber dieser typische Zustand der geistigen Gesundheit könne durch bestimmte Gefühle, Gedanken, Erinnerungen, Ereignisse oder Gehirnzustände gestört werden.
Als logische Folge aus der Annahme eines Grundzustandes einer gesunden Normalität geht man davon aus, dass abnormale Prozesse die Ursache geistiger und physischer Störungen sind. Diese Annahmen führen zu einem Denken und Diagnostizieren in Syndromen. Die Identifikation von Syndromen – Kombinationen von Anzeichen (äußerlich erkennbar) und Symptomen (vom Leidenden geäußerte Beschwerden) – ist gewöhnlich der erste Schritt bei der Identifikation einer Krankheit. Krankheiten sind funktionale Einheiten, das heißt Gesundheitsstörungen mit bekannter Ätiologie, bekanntem Verlauf und bekannter Reaktion auf Behandlungen. Nach der Identifikation der Syndrome beginnt die Suche nach den abnormalen Prozessen, die dieser bestimmten Kombination von Anzeichen und Symptomen zugrunde gelegt werden, und der Versuch, sie so zu verändern, dass die unerwünschten Ergebnisse verschwinden.
Diese Annahmen und die durch sie bedingten diagnostischen Strategien sind im Bereich der körperlichen Gesundheit insgesamt sinnvoll, wenn auch hier nur von begrenzter Reichweite. Gesundheit ist schließlich mehr als die bloße Abwesenheit von Krankheit (World Health Organization, 1947), und allgemein verbreitete Symptome wie Fieber, Husten, Durchfall oder Erbrechen haben auch adaptive...