Beamte, Bullen, Bastarde: Kann man Gruppen beleidigen?
Eine persönliche Ehre hat jeder von uns. Wir teilen uns nicht eine (abstrakte) Ehre – nein, jeder hat seine. Was ist also mit Fällen, in denen Gruppen kollektiv beleidigt werden? Altkanzler Schröder nannte mal (alle) Lehrer «faule Säcke». Was passiert bei solchen Aussagen? Kann es eine Art Gruppenehre geben, die man per Beleidigung verletzt? Wie funktionieren beleidigende Aussagen über Gruppen?
In der Regel beleidigen Personen andere Personen. Ich zeige dir den Vogel, du nennst mich «Arschloch».[*]
Ich. Du. Niemand sonst.
Doch im Fall von Bachmann, der Flüchtlinge als «Viehzeug» bezeichnet, oder im Fall von Gauck, der NPDler «Spinner» nennt, richten sich die Äußerungen eines Einzelnen nicht nur gegen einen Menschen – sondern gegen viele.
In seiner radikalen Ausprägung wenden sich solche Aussagen gegen eine Gruppe in ihrer Gesamtheit.
(Alle) Flüchtlinge sind Viehzeug.
Alle Soldaten sind Mörder.
ACAB – All Cops Are Bastards.
Wie verhält es sich da? Der gesunde Menschenverstand sagt: Was für den Einzelnen strafbar ist, muss für eine Menge von Menschen ebenso strafbar sein.[*] Vielleicht ist die Situation noch heikler, immerhin beleidigt man deutlich mehr Menschen.
Ist es rechtlich so? Nicht immer.
Halten wir uns das bekannte Beispiel ACAB vor Augen. Diese Abkürzung ist seit Jahrzehnten in diversen Gruppen beliebt, um die eigene Ablehnung gegenüber der Polizei kundzutun. Kommunikativ gesehen bezeichnet man mit diesem – natürlich vor allem unter Polizisten! – bekannten Kürzel alle Polizisten als Bastarde.
Schon oft stand das Kürzel ACAB im Zentrum von Beleidigungsprozessen. Die genauen Umstände sind jeweils verschieden. Der kommunikative Inhalt der Äußerung ist jedoch in allen ACAB-Fällen gleich. Für alle X gilt, sie sind Y. In diesem Fall ist X die Menge aller Polizisten, und Y beschreibt die Eigenschaft, ein Bastard zu sein. Ein Bastard ist ein unehelich geborenes Kind. Das ist die ursprüngliche Bedeutung. Sie stammt aus einer Zeit, in der es als unmoralisch galt, Kinder ohne Trauschein in die Welt zu setzen. Heute heiraten weniger Menschen – und bekommen dennoch Kinder. Technisch gesehen wimmelt es also nur so von Bastarden auf der Welt.
Doch sollten unverheiratete Freunde ein Kind bekommen, wäre es eher unhöflich, nach der Geburt zu fragen: «Ich hoffe, die Mutter und der kleine Bastard sind wohlauf?»
Der Bedeutungsinhalt des Wortes «Bastard» ist nämlich mittlerweile verblasst.
Zeiten ändern sich.
Sprachen ändern sich.
Geblieben ist die Funktion des Wortes «Bastard» – als Beleidigung.
Zurück zu ACAB. Man muss ACAB nicht mündlich kommunizieren, damit es kommunikativ im Raum steht. Sehr üblich sind ACAB-Schmierereien mit Edding oder Sprühdose, T-Shirts, auf denen ACAB steht oder auch Buttons, die man sich an die Jacke steckt.
Polizisten sehen das wiederum gar nicht gerne. Weder die ehelich noch die außerehelich geborenen. Im Gegenteil: Sie fühlen sich angegriffen. In ihrer Ehre.
Eine Strafanzeige wegen Beleidigung ist wohl ihr gutes Recht. Und hat auch gute Chancen auf Erfolg. Denkt man.
Das Oberlandesgericht Karlsruhe hat das mitunter anders gesehen.
Entschieden wurde über einen Fall, wo ein Banner mit der Aufschrift ACAB im Fußballstadion hochgehalten wurde. Ein Polizist fühlte sich beleidigt und zeigte es an – unter Berufung auf den Beleidigungsparagraphen (§ 185 StGB).
Doch dieser Fall von ACAB stellt keine strafbare Beleidigung nach § 185 StGB dar, weil «es an dem erforderlichen Maß an zahlenmäßiger Überschaubarkeit des betroffenen Personenkreises und Individualisierbarkeit der ihm zugehörigen Personen fehlt».[1]
Es ist unklar, wer konkret in dieser Situation beleidigt wurde.
Das mag überraschen. Sollte es jedoch nicht wirklich. Denn wie wir im Grundgesetz gesehen haben (Artikel 5 Absatz 2), ist das, was die Meinungsfreiheit einer anderen Person einschränken kann, die persönliche Ehre.
Das ist die juristische Perspektive. Auf philosophisch-kommunikativer Ebene hat hingegen eine abstrakte Beleidigung stattgefunden. Gegen alle Polizisten, die es gibt. Die Rechtsprechung kümmert sich aber primär um Menschen, nicht um Kollektive.
Hier teilt die Rechtsprechung die oben erarbeitete Sichtweise auf das Wesen von Beleidigungen: Sich-angegriffen-Fühlen reicht als Beleidigungsmerkmal nicht aus. Es geht auch um Nachvollziehbarkeit.
Die Gesamtheit aller Polizisten hat keine persönliche Ehre. Durch das Banner wurde niemand direkt angesprochen. Auch wenn derjenige Polizist, der die Anzeige erstattet hat, sich angesprochen fühlte. Der Juraprofessor Mark Zöller bringt das Gedankenbeispiel eines türkischen Polizisten, der das deutsche Fußballspiel per Fernsehübertragung aus der Türkei schaut.[2] Was ist mit ihm? Wird er beleidigt?
Nein. Jedenfalls nicht wesentlich. Auch wenn dieser Polizist sich gekränkt und angesprochen fühlt, wird er nicht hinreichend individuell angesprochen, um Rechtsansprüche geltend zu machen nach § 185 StGB. Das Banner im Stadion ist Hunderte Kilometer entfernt und richtet sich nicht gegen seine persönliche Ehre.[*]
Rechtlich gesehen muss jemand mehr oder minder direkt beziehungsweise persönlich angesprochen werden. Beleidigungen sind in der Regel konkret gegen jemanden. Manche Äußerungen sind zu abstrakt, um als konkrete Beleidigung zu gelten. Das macht auch aus philosophischer Perspektive Sinn.
Wird ein Mensch konkret angesprochen, sieht die Lage anders aus. Ich rate also davon ab, zu einem Polizisten zu gehen, ihm tief in die Augen zu schauen und «ACAB, Motherfucker!» zu rufen. Auch ohne den Motherfucker.
Beleidigungen richten sich immer gegen jemanden. Dazu gehört, dass man von außen sehen kann, wen sie (be-)treffen. Das liegt in der Logik der Beleidigung. Es muss ein Betroffener identifizierbar sein.
Ein anderes Beispiel. Ich bedrucke ein T-Shirt mit dem Schriftzug «Alle Bienenzüchter sind Hurensöhne». Das ist, analog zu ACAB, an sich eher nicht strafbar. Als Aufdruck.
Wenn ich damit zu einer Bienenzüchtertagung gehe, wird es brisant. Der zuvor unüberschaubare Personenkreis «personalisiert» sich. Wenn ich mich dann mit dem T-Shirt vor einem – oder auch drei – Bienenzüchtern aufbaue und stolz auf mein Shirt verweise, dann ist die Handlung strafbar im Sinne einer Beleidigung. Ganz abgesehen davon, dass ich mich wie das allerletzte Arschloch benehme.
Das musste auch der Regensburger Fußballfan feststellen, der sich mit einem T-Shirt, auf dem COPACABANA stand, vor zwei Polizisten präsentierte. Die Wortmitte war hervorgehoben. Immerhin originell.
Doch auch originelle Beleidigungen sind Beleidigungen. Diese Auffassung teilte auch das Amtsgericht Regensburg.[3] Weil der Fußballfan zwei Polizisten sein T-Shirt präsentierte und diese ihn anzeigten, wurde er zu 15 Tagessätzen à 15 Euro verurteilt – und das T-Shirt wurde ihm weggenommen. Nicht weil er alle Polizisten auf der Welt mit seinem ACAB-Shirt beleidigt hatte, sondern zwei.
Wenn Schweine fliegen könnten, bräuchten Bullen keine Hubschrauber
Die in der Allaussage[*] ACAB umschriebene anonyme Gruppe wird im konkreten Fall durch einige ihrer Mitglieder verkörpert. Und diese haben als Bürger selbstverständlich das Recht, sich nach einer offenbar absichtsvollen Kränkung an die Gerichte zu wenden. Im Sinne von § 185 StGB.
Diese juristischen Überlegungen haben einen großen philosophischen Wert. Sie betreffen das genaue Verhältnis von Individuum und Gruppe. Das macht sie interessant.
Bei Kollektivbeleidigungen ist die Gruppengröße wichtig. Es geht um Überschaubarkeit und Individualisierbarkeit. Wenn das Kollektiv klein ist, gibt es größere Probleme.
Es ist sicherlich nicht straffrei, wenn ich sage: «Alle Vorstandsmitglieder von Volkswagen sind Verbrecher.» Denn: Es handelt sich nicht um ein Kollektiv, in dem die Mitglieder in der Masse anonym verschwinden. Dafür ist die Gruppe einfach nicht groß genug. Der Vorstand von VW besteht aus neun Menschen.
Für eine Beleidigung sollte gegeben sein, «dass sich die Äußerung auf eine hinreichend überschaubare und abgegrenzte Personengruppe bezieht» im Sinne einer «personalisierten Zuordnung».[4] Wir müssen wissen, wer gemeint ist.
Der Copacabana-Fall macht zudem deutlich, dass man sich aus Beleidigungen nicht einfach rausreden kann. Von wegen: «Das war nicht meine Absicht.» Als Menschen bewerten wir wie gesagt unsere Handlungen. Die sind sichtbar und öffentlich. Absichten sind privat und nur schwer überprüfbar.
Der Angeklagte sagte im Copacabana-Fall aus, er wisse nicht, was er da trägt. Andere Angeklagte haben versucht, das Kürzel ACAB positiv umzudeuten. Natürlich nachdem man sie erwischt hat. Acht Cola, Acht Bier....