»Sehr schönes Thema, die Revolution und die Juden. Behandeln Sie dann nur auch den führenden Anteil der Juden an dem Umsturz.«1
»Das Ganze eine namenlose jüdische Tragödie«
Die Trauerfeier für den ermordeten bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner am 26. Februar 1919 auf dem St. Martinsplatz vor dem Münchner Ostfriedhof war ein Ereignis, das in der Geschichte des deutschen Judentums einmalig dasteht. Ein jüdischer Deutscher, der wenig später selbst Regierungsverantwortung in der bayerischen Räterepublik übernehmen sollte, hielt die Grabrede auf einen jüdischen Ministerpräsidenten, der drei Monate zuvor die sieben Jahrhunderte regierende Dynastie der Wittelsbacher gestürzt hatte. Beide hatten sich schon lange von der Religion ihrer Vorfahren losgesagt, und doch wussten beide genau, dass sie ihre Bande mit der jüdischen Gemeinschaft nicht lösen konnten. So hielt Gustav Landauer, einer der engsten Weggefährten Eisners und im April 1919 Volkskommissar für Volksaufklärung, Unterricht, Wissenschaft und Künste, es für angebracht, am Sarg des ermordeten bayerischen Ministerpräsidenten, vor Tausenden Trauergästen, darauf zu verweisen, wer Kurt Eisner gewesen ist: »Kurt Eisner, der Jude, war ein Prophet, weil er mit den Armen und Getretenen fühlte und die Möglichkeit, die Notwendigkeit schaute, der Not und Knechtung ein Ende zu machen.«2
Kurt Eisner, der Jude. Meistens waren es seine Feinde, die ihm seine Herkunft unter die Nase rieben. Ein ganzes Konvolut wüster antisemitischer Beschimpfungen findet sich im Nachlass Eisners. Landauer, der nur wenig später grausam ermordet wurde, ging es kaum besser, ebenso den anderen jüdischen Trägern und Gegnern dieser Revolution und ihrer Nachbeben. Doch auch unter den Juden selbst war die jüdische Herkunft vieler Revolutionäre ein heftig diskutiertes Thema. In ihrer Mehrzahl waren sie entschiedene Gegner der Revolution oder standen ihr zumindest mit der Sorge gegenüber, sie müssten am Ende den Preis für die Taten der Eisners und Landauers zahlen. Der Philosoph Martin Buber, ein enger Freund Landauers und ein Bewunderer Eisners, hatte München auf Einladung Landauers im Februar 1919 besucht. Er reiste am Tag der Ermordung Eisners ab und fasste den Eindruck seines Besuchs in München so zusammen: »Eisner hatte ich in die Dämonie seiner zwiegespaltenen Judenseele hineingesehen, das Verhängnis strahlte aus seiner Glätte hervor, er war gezeichnet. Landauer wahrte sich mit äußerster Anstrengung der Seele den Glauben an ihn und deckte ihn, ein Schildträger von erschütternder Selbstverleugnung. Das Ganze eine namenlose jüdische Tragödie.«3
Gustav Landauer inmitten einer Menschenmenge bei Kurt Eisners Beerdigung auf dem Münchner Ostfriedhof
Nicht lange vorher, am 2. Dezember 1918 hatte Landauer Buber noch aufgefordert, über genau diese Aspekte zu schreiben: »Lieber Buber, Sehr schönes Thema, die Revolution und die Juden. Behandeln Sie dann nur auch den führenden Anteil der Juden an dem Umsturz.«4 Bis heute ist dieser Wunsch nicht eingelöst worden. Das von Landauer genannte Thema wird in der historischen Forschung zwar immer wieder erwähnt, ist aber letztlich eine Marginalie geblieben. Auch in der Flut neuer Veröffentlichungen aus Anlass des hundertjährigen Jubiläums der Revolution weisen Historiker und Journalisten eher verschämt darauf hin, dass die prominentesten Akteure der Revolution und der beiden Räterepubliken jüdischer Herkunft waren.5 In ihren Biographien wird zumeist hervorgehoben, dass sie sich gar nicht mehr als Juden betrachtet hätten.6
Der Grund für die Zurückhaltung bei diesem Thema liegt auf der Hand. Man begibt sich im Allgemeinen auf sehr dünnes und sehr glattes Eis, wenn man über die Juden und ihre Beteiligung am Sozialismus, Kommunismus und den revolutionären Bewegungen forscht. Ganz dünn wird das Eis dann, wenn es sich um den Ort handelt, der unmittelbar nach Ende des revolutionären Geschehens zur Wirkungsstätte Adolf Hitlers und der nationalsozialistischen Bewegung wurde. Zu oft ist dieses Thema von antisemitischer Seite dazu benutzt worden, antijüdisches Verhalten zu rechtfertigen.7 So hat Hitler selbst in Mein Kampf das Kapitel seiner Wirkungszeit in München ab dem November 1918 mit »Beginn meiner politischen Tätigkeit« betitelt und den direkten Zusammenhang zwischen dem, was er als »Judenherrschaft« betrachtete und seinem politischen Erwachen hergestellt.8
In bürgerlichen Kreisen diente das Motiv der Verbindung zwischen Juden und Linken, wenn auch nicht als Rechtfertigung, so oftmals doch als Erklärungsansatz für den Antisemitismus. Golo Mann, der als Gymnasiast selbst Zeuge der Ereignisse in München war, sei als eines von vielen Beispielen herausgegriffen, weil er eine durchaus problematische, aber eben nicht untypische, moralische Wertung vornimmt und sich explizit auf die Münchner Episode bezieht: »Nicht das Judentum – das gibt es gar nicht –, aber einzelne Menschen jüdischer Abstammung haben durch ihre revolutionäre Agitation, ihre revolutionären Experimente in der Politik in Mitteleuropa zu gewissen Zeiten eine schwere Schuld auf sich geladen. Der Versuch etwa, der im Frühling 1919 in München gemacht wurde, dort ein Sowjetregime zu errichten, wurde zu einem Teil unbestreitbar von Juden gemacht, und das war in der Tat ein sträflicher, ungeheurer Unfug, der nicht gut ausgehen konnte und durfte.« Unter den Revolutionären waren gewiss »edle Menschen«, wie etwa Gustav Landauer, resümiert er. »Dennoch können wir als Historiker an den radikal-revolutionären Wirkungen des Judentums nicht mit einer ableugnenden Geste vorübergehen. Sie haben schwere Folgen gehabt, sie haben der Ansicht, wonach das Judentum in seiner Gesamtheit oder überwiegend revolutionär, umstürzlerisch, subversiv sei, Nahrung gegeben.«9 Noch schärfer zugespitzt hatte es unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg der Historiker Friedrich Meinecke formuliert: »Zu denen, die den Becher der ihnen zugefallenen Macht gar zu rasch und gierig an den Mund führten, gehörten auch viele Juden. Nun erschienen sie allen antisemitisch Gesinnten als die Nutznießer der deutschen Niederlage und Revolution.«10
Für viele zeitgenössische Beobachter und spätere Interpreten ließ sich die Frage der Kausalität klar beantworten: Das sichtbare Hervortreten jüdischer Revolutionäre, von denen die meisten zudem nicht aus Bayern stammten, verursachte eine Gegenbewegung, die sich in einem bisher nicht gekannten Ausmaß antisemitischer Hetze und Gewalt Platz verschaffte. Jüdische Zeitzeugen wollten den Zusammenhang ebenso erkannt haben wie Antisemiten. Ein Teil dieses Buches wird darauf näher eingehen. Selbst Revolutionäre verwiesen aus der Sicht von 1933 auf diesen Zusammenhang, wenngleich aus anderer Perspektive. Am »Tag der Verbrennung meiner Bücher in Deutschland« schrieb Ernst Toller in der Vorbemerkung zu seiner Autobiographie Eine Jugend in Deutschland: »Wer den Zusammenbruch von 1933 begreifen will, muß die Ereignisse der Jahre 1918 und 1919 in Deutschland kennen, von denen ich hier erzähle.«11
Zu den Grundprinzipien historischer Analyse gehört es, prädeterministischem Denken eine Absage zu erteilen.12 Das Geschehen von 1918/19 und von 1920 bis 1923 musste keineswegs zwangsläufig zu den Ereignissen von 1933 führen. Dennoch können wir auch als Historiker unser Wissen von dem, was 1933 und in den Folgejahren passiert ist, nicht einfach ausblenden. Eine Geschichte der Revolution und der Reaktion in München, die 1930 geschrieben worden wäre, hätte zwangsläufig andere Bewertungen vorgenommen als eine Geschichte, die nach 1945 geschrieben ist. Nicht, weil sich nachträglich etwa der Ablauf der historischen Ereignisse geändert hätte, sondern weil sich unser Blickfeld verschoben hat und sich in der Zwischenzeit andere Fragestellungen ergeben haben. Wäre Hitler 1933 nicht zum Reichskanzler...