2 Der Glaube an die Wissenschaft
Einer der vielen, die versucht haben, die Früchte der Wissenschaft zu sammeln, zu sichten und zu bewerten, war der aus Wien stammende, später in Cambridge lehrende Molekularbiologe Max Perutz. In einem Vortrag, der auch in Deutschland unter dem saloppen Titel «Ging’s ohne Forschung besser?» Verbreitung fand, zog er aus seiner und seiner Fachkollegen Tätigkeit eine rundum glänzende Bilanz. Nachdem er gleich zu Beginn die Wissenschaft – gemeint war hier wie meistens «Science», Naturwissenschaft also – als das edelste Erzeugnis des menschlichen Geistes vorgestellt hatte, pries er den «niemals versiegenden Strom hilfreicher Entdeckungen», der das menschliche Leben fortwährend erleichtert und bereichert habe, um schließlich seinen heutigen, historisch singulären Stand zu erreichen. Im Unterschied zu den Kirchenmännern, die dem Volk Entsagung und Ergebenheit gepredigt hätten, und den Politikern, gegen die es schließlich auf die Barrikaden stieg, sei es den Wissenschaftlern stets nur darum gegangen, der gequälten Menschheit zu helfen. Nicht bloß messbare Fortschritte, wie die Aussicht auf ein längeres und gesünderes Leben, sondern auch immaterielle Gewinne wie die Abschaffung der Sklaverei, der Kampf gegen den Hexenwahn und das Verbot der Todesstrafe seien den Naturwissenschaftlern, den Fackelträgern der Aufklärung, zu verdanken. Ganz ähnlich wie Ernst Haeckel am Anfang beklagte Max Perutz gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts die rückständige Moral der Kirchen und die mangelhafte Bildung der Regierenden: Beide hätten es versäumt, sich mit den Methoden und den Erfolgen der Naturwissenschaften vertraut zu machen und von ihnen zu lernen.[16] Das sollten sie nachholen, denn die Naturforscher hätten die Zukunft in den Knochen.
Die Liste der Erfolge, die Perutz anzubieten hat, ist lang und eindrucksvoll. Als Biologe konzentriert er sich auf die gestiegenen Erträge aus der wissenschaftlich betriebenen Landwirtschaft, der wichtigsten Voraussetzung, um eine schnell wachsende Weltbevölkerung mit Nahrung und Energie zu versorgen. Tabellen und Diagramme berichten vom Kampf gegen Bakterien und Viren, Schädlinge und Ungeziefer aller Art und vom Beitrag, den die Medizin zur Verbesserung des menschlichen Daseins leistet. Missgriffe und Enttäuschungen werden nicht verschwiegen, können die erfreuliche Bilanz aber nicht trüben, weil sie durch die Fähigkeit, aus Fehlern zu lernen und Rückschläge wiedergutzumachen, mehr als nur aufgewogen werden. Der «humanisierende Einfluss der Naturwissenschaft», resümiert Perutz, sei offensichtlich, und er zitiert den indischen Staatsmann Nehru mit der rhetorischen Frage, wer es sich heute denn noch leisten könne, auf Naturwissenschaftler zu verzichten: «Die Zukunft gehört ihnen und denen, die sich mit ihnen anfreunden können.»
Mit seinem Loblied auf den wohltätigen Einfluss der Wissenschaft folgt Perutz seinem Ahnherrn, dem englischen Lordkanzler Bacon. Anders als der fühlt Perutz sich jedoch gedrängt, eine Frage zu beantworten, die auch nur zu stellen Bacon und seinen Zeitgenossen nicht in den Sinn gekommen wäre. Keine von Bacons Schriften lässt etwas von den Vorbehalten, den lauten Einwänden und den stillen Zweifeln spüren, gegen die Perutz sich zur Wehr setzt; im Gegensatz zu Bacon ist Perutz’ Haltung defensiv. Er verzichtet auf die kühnen Entwürfe, die großartigen Versprechen und die erhabenen Visionen, mit denen die Vorkämpfer der Wissenschaft ihrem Publikum Hoffnung auf eine Zukunft ohne Arbeit, Kummer und Langeweile gemacht hatten. Die historisch einflussreichste dieser Proklamationen aus dem Geist eines praktisch gewordenen Fortschritts dürfte das Kommunistische Manifest gewesen sein. Im Revolutionsjahr 1848 erschienen, stützte es seine Vorhersage vom Anbruch einer neuen Zeit auf die gewaltigen Produktivkräfte, die im Schoße der gesellschaftlich organisierten Arbeit schlummerten und nur darauf warteten, mit Hilfe von Wissenschaft und Technik entbunden zu werden. «Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschifffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen» hießen die Stichwörter, die das gewaltige Programm umrissen. Das waren Ankündigungen, hinter denen keine politische Kraft zurückbleiben dufte, die darauf aus war, die Massen für sich zu gewinnen. Das Lied vom grenzenlosen Fortschritt durch Wissenschaft und Technik wurde von allen Parteien gesungen, von den gemäßigten kaum weniger überzeugt als von den radikalen; auch die «revisionistische» SPD liebte es, ihren Wählern das Blaue vom Himmel zu versprechen. Im eigenen Wagen würden sie um die Welt fahren oder, besser noch, «mit dem Luftgespann im Wettflug mit Wolken, Winden und Stürmen über die Erde dahinsausen», hieß es in einem Aufruf der Partei. Das wahre Evangelium des Menschenglücks auf Erden sei eben nicht in den Lehrsätzen der Kirche verborgen, sondern in den Entdeckungen der Wissenschaft und den Erfindungen der Technik. «Und fragt ihr, wer euch solches bringen wird? Nun, einzig und allein der sozialdemokratische Zukunftsstaat.»[17]
Was die Politik verkündete, war von der Wissenschaft entworfen worden. Einer ihrer Lautsprecher war der Physiologe Emil Du Bois-Reymond: ein Prophet, der etwas galt in seinem Lande. Er zog als Wanderprediger von Stadt zu Stadt, um unter Bacons Devise «Wissen ist Macht» die Naturwissenschaften zu Erben der Kirchen auszurufen. Unter seinem begeisterten Blick verwandelte sich die Vergangenheit in eine profane Heilsgeschichte, in der dem Naturforscher die Rolle des Erlösers zukam: «Schon ward aus dem werkzeugmachenden Tier, als welches wir ihn anfangs trafen, der Mensch zum vernünftigen Tiere, welches mit dem Dampfe reist, mit dem Blitze schreibt und mit dem Sonnenstrahle malt.» Neben den Wunderwerken der Gegenwart nahmen sich die sieben Weltwunder, auf die das Altertum so stolz gewesen war, wie die Erfindungen von Stümpern aus. Längst sei «dem heutigen Geschlechte» der Umfang des Planeten zu eng geworden, «kaum dass dessen Höhen und Tiefen ihm noch ein Geheimnis bergen. Wohin körperlich zu gelangen dem Menschen versagt bleibt, dahin dringt mittels des Zauberschlüssels der Rechnung sein Geist. In schwärzester Nacht, im wildesten Meere steuert sein Schiff den kürzesten Kurs; klug entweicht es aus dem verderblichen Ringe des Taifuns. Was die Wünschelrute vorspiegelte, hält die Geologie; freigebig erbohrt sie Wasser, Salz, Kohle, Steinöl. Noch mehrt sich die Zahl der Metalle, und noch fand die Chemie den Stein des Weisen nicht; morgen vielleicht besitzt sie ihn schon.» Und so geht es, im Tonfall nüchterner Verzückung, endlos weiter.[18] Am Schluss von Du Bois’ froher Botschaft steht die Vision eines Daseins ohne Irrtum und ohne Schmerz, ohne Sünde und ohne deren Preis, die Arbeit. Den Weg dorthin weise die Naturwissenschaft, das «absolute Organ der Cultur», an das man glauben und dem man opfern müsse, um irgendwann ins Paradies zurückzukehren.
Adolf von Harnack, der erste Präsident der 1911 gegründeten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, sprach leiser, dachte aber ähnlich. Auch er war das Kind einer Zeit, die an die Technik glaubte, und erwartete von der angewandten Naturforschung nicht nur den entscheidenden Beitrag zur wirtschaftlichen und militärischen Machtentfaltung des Reichs, sondern auch eine Belebung und Bereicherung der Kultur. Diese sei ohne Wissenschaft nicht möglich, meinte er, «erstens, weil zur Kultur gehört die Beherrschung der Natur, und zweitens, weil zur Kultur gehört Beherrschung des Menschen».[19] Die Zeit war den Naturwissenschaften günstig. Das humanistische Gymnasium hatte sein altes Monopol verloren und musste den Anspruch auf höhere Menschenbildung mit den Realgymnasien teilen; nach langem Kampf hatten die technischen Hochschulen das Promotionsrecht erhalten und mit den alteingesessenen Universitäten gleichgezogen; kurz nach der Jahrhundertwende war in München ein neues, das «Deutsche» Museum mit dem Auftrag gegründet worden, «Meisterwerke der Naturwissenschaft und der Technik» zu sammeln und auszustellen; schließlich hatte der Kaiser selbst das Patronat über die nach ihm benannte Wissenschaftsgesellschaft übernommen, deren beträchtliche Mittel ganz überwiegend den jungen, aufstrebenden Fächern zuflossen, vornehmlich der Physik und der Chemie. Der Wert naturwissenschaftlicher Bildung und Forschung war unbestritten, und man beeilte sich, davon zu profitieren.
Bis heute lebt die riesige, immer noch wachsende Literatur, die den Menschen ein Leben frei von Sorge, von Armut, Hunger, Angst und Not in Aussicht stellt, vom Glauben an den Siegeszug der Technik. Ziemlich unabhängig von ihren politischen, kulturellen oder sonstigen Vorlieben träumen die Autoren von einer Überflussgesellschaft, in der sich auch die abenteuerlichsten Wünsche erfüllen lassen, weil genug (und mehr als nur genug) da sei für alle. Vor diesem Hintergrund verlieren die Animositäten zwischen rechts und links, zwischen Männern wie Arnold Gehlen und Helmut Schelsky auf der einen sowie Ernst Bloch und Herbert Marcuse auf der anderen Seite des politischen Spektrums, viel von ihrer Plausibilität und Schärfe. Was sie verband, war die Hoffnung auf eine technisch vollzogene Erlösung im Diesseits; sie war nur vage, aber doch stark genug, um selbst Adorno, der sich in seinem Fatalismus von niemandem übertreffen lassen wollte, in Bann zu schlagen. Auch er berief sich auf die Annehmlichkeiten der Technik, wenn er seinen Studenten vom gelungenen...