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E-Book

Mein Sohn ist schwerbehindert

und hat mir geholfen, die Welt besser zu verstehen

AutorIan Brown
Verlagbtb
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783641221317
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
In seinem vielfach preisgekrönten Buch erzählt der kanadische Journalist und Sachbuchautor Ian Brown vom Alltag mit seinem schwerbehinderten Sohn: Walker wurde mit einem äußerst seltenen genetischen Defekt geboren. Im Alter von 12 Jahren braucht Walker immer noch Windeln, kann nicht sprechen und muss einen Helm und spezielle Armschützer tragen, um sich nicht selbst zu verletzen. Mit schonungsloser Ehrlichkeit und doch voller Humor schildert Brown die Herausforderung, die das Leben mit Walker für ihn und seine Familie bedeutet, und berichtet von den schwierigen Entscheidungen, vor die er sich gestellt sieht, um das Beste für seinen Sohn zu ermöglichen.

(Dieses Buch ist im btb Verlag schon einmal unter dem Titel 'Der Junge im Mond' erschienen.)

Ian Brown ist kanadischer Journalist und Sachbuchautor. Daneben ist er bekannt als Rundfunk- und Fernsehmoderator. Für seine journalistische Tätigkeit wurde er vielfach ausgezeichnet. Brown lebt in Toronto.

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Leseprobe

Eins

IN DEN ERSTEN acht Jahren von Walkers Leben ist jede Nacht gleich. Bis ins kleinste Detail der gleiche Ablauf, immer in der gleichen Reihenfolge, jede Einzelheit ist alltäglich, und doch ist jede alles entscheidend.

Dieser immer gleiche Ablauf führt dazu, dass die acht Jahre einem lang vorkommen, beinahe endlos, bis ich später versuche, über sie nachzudenken, und dann lösen sich die acht Jahre in nichts auf, denn nichts hat sich verändert.

Heute Nacht wache ich im Dunkeln auf und höre ein gleichmäßiges, mechanisches Geräusch. Etwas stimmt nicht mit dem Wasserkocher. Nnngah. Pause. Nnngah. Nnngah.

Aber es ist nicht der Wasserkocher. Es ist mein Junge, Walker, der grunzt, während er sich wieder und wieder gegen den Kopf schlägt.

Er tut dies, seitdem er knapp zwei Jahre alt ist. Er ist mit einer unfassbar seltenen Mutation auf die Welt gekommen, dem Cardio-Facialen-Cutanen-Syndrom, einem technischen Begriff für eine Kombination von Symptomen. Er ist ganz allgemein behindert und kann nicht sprechen, deshalb weiß ich auch nie, was ihn quält. Niemand weiß das. Es gibt auf der ganzen Welt nur etwas mehr als hundert Menschen mit CFC. Die Anomalie tritt zufällig auf, ein Fehler, der keine spezifischen Gründe oder Ursachen hat; Ärzte nennen das ein seltenes Syndrom, im angelsächsischen Sprachraum sagt man »orphan syndrome«, aufgrund seiner Seltenheit und weil es aus dem Nichts zu kommen scheint.

Ich zähle die Grunzlaute, während ich in sein Zimmer tapse: jede Sekunde einen. Um ihn dazu zu bringen, dass er sich nicht mehr selber schlägt, muss ich ihn wieder zum Schlafen bringen, was bedeutet, dass ich ihn mit nach unten tragen, ihm ein Fläschchen bereiten und ihn mit zu mir ins Bett nehmen muss.

Das hört sich doch leicht an, oder? Aber mit Walker ist alles kompliziert. Wegen seines Syndroms kann er keine feste Nahrung zu sich nehmen, ja nicht einmal ohne Schwierigkeiten schlucken. Weil er nicht essen kann, nimmt er seine Milchnahrung während der Nacht durch einen Ernährungsapparat auf. Die Milchnahrung fließt von einem Nahrungsbeutel, durch eine Pumpe an einem Metallständer angetrieben, über einen Schlauch durch ein Loch in Walkers Schlafanzug in einen raffiniert aussehenden permanenten Zugang in seinem Bauch, der manchmal PEG-Sonde oder einfach »Mickey« genannt wird. Um ihn aus dem Bett zu heben und nach unten in die Küche zu tragen, wo ich das Fläschchen zubereite, das ihn wieder in den Schlaf zurück versetzen wird, muss ich den Schlauch von der Sonde abtrennen. Damit ich das tun kann, muss ich erst einmal die Pumpe abstellen (im Dunkeln, damit er nicht gänzlich hellwach wird) und den Schlauch abklemmen. Wenn ich den Schlauch nicht abklemme, tropft die klebrige Milchnahrung auf das Bett oder den Fußboden (der Teppichboden in Walkers Zimmer ist blassblau: Es gibt darauf Flecken, die sich von all den Malen, an denen ich es vergessen habe, wie die Wüste Gobi anfühlen). Um den Schlauch zusammenzudrücken, schiebe ich einen winzigen roten Plastikhebel herunter. (Das ist mir der liebste Teil dieses routinierten Ablaufs – immerhin eine Sache, die leicht und völlig unter meiner Kontrolle ist.) Ich mache den Reißverschluss seines einteiligen Schlafanzuges auf (Walker ist klein und wächst so langsam, dass er eineinhalb Jahre lang den gleichen Schlafanzug tragen kann), greife hinein, um den Schlauch vom »Mickey« abzumachen, ziehe ihn durch das Loch in seinem Schlafanzug und hänge ihn an den Ständer, an dem auch die Pumpe und der Nahrungsbeutel hängen. Schließe den »Mickey«, mache den Schlafanzug wieder zu. Dann beuge ich mich herunter und hebe Walker mit seinen vollen dreiundzwanzig Kilo aus den Tiefen seines Kinderbettes. Er schläft immer noch in einem Kinderbett. Nur so können wir sicher sein, dass er nachts im Bett bleibt. Er kann allein eine Menge Schaden anrichten.

Dies ist keine Beschwerdeliste. Es hat keinen Sinn, sich zu beklagen. Wie die Mutter eines anderen CFC-Kindes einmal zu mir sagte: »Man tut, was man zu tun hat.« Das ist, wenn überhaupt, noch der leichteste Teil. Schwierig wird es, wenn man versucht, die Fragen zu beantworten, die Walker jedes Mal in mir auslöst, wenn ich ihn hochhebe. Worin besteht der Wert eines solchen Lebens – eines Lebens im Zwielicht und oftmals in Schmerzen? Was für Lasten bürdet sein Leben denjenigen um ihn herum auf? »Wir geben eine Million Dollar aus, um ihr Leben zu retten«, sagte erst vor Kurzem eine Ärztin zu mir. »Aber wenn sie entbunden und auf der Welt sind, ignorieren wir sie.« Wir saßen in ihrem Behandlungszimmer, und sie weinte. Als ich sie fragte, warum, sagte sie: »Weil ich es die ganze Zeit erlebe.«

Manchmal, wenn ich Walker beobachte, ist es so, als würde ich den Mond anschauen: Man sieht den Mann im Mond, obwohl man doch genau weiß, dass es ihn nicht gibt. Aber warum ist Walker, wenn er nicht im eigentlichen Sinn präsent ist, so wichtig für mich? Was will er mir zeigen? Ich will einfach nur wissen, was in seinem verformten Kopf vor sich geht, in seinem zerberstenden Herzen. Aber jedes Mal, wenn ich frage, überredet er mich irgendwie dazu, in mein eigenes Herz zu schauen.

Aber da gibt es noch ein weiteres Problem. Bevor ich mit Walker nach unten zu seinem Fläschchen schlüpfen kann, wallt um mich herum der Duft seiner Windel auf. Walker kann nicht auf die Toilette gehen. Ohne eine frische Windel wird er auch nicht wieder einschlafen und nicht aufhören, sich gegen seinen eigenen Kopf und seine Ohren zu hämmern. Und so wenden wir uns vom Routine-Nahrungsschlauch ab und der Routine-Windel zu.

Ich drehe mich um 180 Grad zum ramponierten Wickeltisch und frage mich, wie ich es jedes Mal tue, wie das wohl gehen soll, wenn er zwanzig sein wird und ich sechzig. Der Trick ist, seine Arme so festzunageln, dass er sich nicht selbst schlägt. Aber wie soll man einem dreiundzwanzig Kilo schweren Jungen die volle Windel wechseln und gleichzeitig seine beiden Hände festklemmen, damit er sich nicht gegen den Kopf haut oder (schlimmer noch) hinunter langt, um sich seinen winzigen, an eine Pflaume erinnernden, nun plötzlich freiliegenden Hintern zu kratzen und dabei alles mit Exkrementen vollzuschmieren? Und außerdem noch beide Füße ruhig halten, weil sonst dito? Man darf nicht mal für eine Sekunde seine Aufmerksamkeit schweifen lassen. Noch dazu geschieht all dies im Dunkeln.

Aber ich habe dafür meine Routine entwickelt. Ich halte seine linke Hand mit meiner Linken und klemme mir seine rechte Hand, damit sie nichts anrichten kann, unter meine linke Achsel. Ich habe das so oft getan, dass es für mich so selbstverständlich wie gehen geworden ist. Ich halte seine Fersen außerhalb der Gefahrenzone, indem ich meinen rechten Ellbogen dazu benutze, seine Knie am Beugen zu hindern, und mache die ganze schmutzige Arbeit mit meiner Rechten. Meine Frau Johanna kriegt das allein nicht mehr hin und ruft mich manchmal zu Hilfe. Wenn sie das tut, bin ich nie besonders nett zu ihr.

Und das Wechseln selber: eine Aufgabe, der man sich mit all dem Fingerspitzengefühl eines Munitionsexperten aus einem James Bond-Film, der gerade eine Atombombe entschärft, nähern muss. Das Auseinanderfalten und Anlegen einer neuen Windel, das vertraute Gefühl der kratzigen Klettbänder auf der weichen Windel, der Unglaube, dass das je halten wird, die gewaltige, aufwallende Erleichterung, dass man sie schließlich doch zugeklebt kriegt – wir haben es geschafft! Die Welt ist wieder sicher! Dann werden seine Beine wieder in den Schlafanzug gestopft.

Jetzt sind wir so weit, nach unten zu gehen, um sein Fläschchen zu machen.

Drei Treppen, auf Händen und Füßen, dabei aus den Fenstern an den Treppenabsätzen schauen, während wir runtermarschieren. Er windet sich, und so beschreibe ich ihm mit leiser Stimme die Nacht. Heute Nacht scheint der Mond nicht, und für November ist es ziemlich feucht.

In der Küche widme ich mich dem Fläschchen-Ritual. Die gewichtslose Plastikflasche (das dritte Fabrikat, das wir ausprobiert hatten, bis wir eins fanden, das passte und groß genug für seine nicht allzu feine Motorik war, aber leicht genug, damit er es festhalten konnte), die Sparpackungs-Box mit Milchnahrung (deren Ausmaß frustrierend ist, weil es so viel impliziert), das komplizierte Titrieren von winzigen Mengen Spezialbabybrei mit Haferflocken (er aspiriert Dünnflüssiges; wir brauchten Monate, um die für ihn passenden Mengenverhältnisse herauszufinden, die die genau für ihn passende Konsistenz besitzen. Mein Kopf schwirrt mir von all diesen Mengen und Zahlen: Dosierungen, Aufwärmzeiten, der Rhythmus seiner Darmtätigkeit/seines Kratzens/seiner Schreie/seiner Nickerchen). Der nächtliche Stich über den feinen Film von Breipulver, der sich über alles legt: Werden wir jemals wieder so etwas wie ein normales Leben führen können? Der zweite Stich, aus Scham darüber, dass man überhaupt solche Gedanken hegt. Das Wühlen im wie immer vollen, blau-weißen Geschirr-Abtropfständer (immer waschen wir gerade irgendetwas ab, eine Pipette, eine Spritze, eine Flasche oder einen Messbecher für ein Medikament) nach einem Sauger (aber der richtige Sauger, einen, dessen Öffnung ich zu einem X vergrößert habe, damit er die angedickte Flüssigkeit durchlässt) und nach einer Saugerkappe aus Plastik. Dann den Sauger in die Kappe, das befriedigende Plopp, wenn er richtig sitzt. Ab in die Mikrowelle, die die Keimdrüsen schrumpfen lässt.

Wieder drei Treppen hoch. Walker versucht immer noch, sich den Kopf einzuschlagen. Warum macht er das? Weil er sprechen will, es aber nicht kann? Weil – das ist meine neueste Theorie – er nicht all das tun kann, was er bei anderen Menschen sieht? Ich bin sicher, dass er weiß, wie...

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