Die Selbstverwaltung verfügt in Deutschland über eine lange Tradition und genießt eine hohe Wertschätzung. Sie verfügt in der neuzeitlichen Entwicklung über eine freiheitliche Traditionslinie und das in einem Land, dessen Staats- und Verwaltungsstrukturen lange Zeit durch autoritäre Strukturen geprägt waren. Dass sich die Selbstverwaltung in zahlreichen Lebensbereichen etabliert ist daran zu erkennen, dass nicht nur von kommunaler, sondern auch von wirtschaftlicher, berufsständischer, akademischer, studentischer, kultureller und sozialer Selbstverwaltung die Rede ist. Institutionen der Selbstverwaltung sind beispielsweise Gemeinden oder Kreise, genauso wie die Industrie- und Handelskammern, die Handwerkskammern und Innungen, die Anwalts- und Ärztekammern, die Universitäten und verfassten Studentenschaften, die Sozialversicherungsträger, die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die Wasser - und Bodenverbände etc. Die Selbstverwaltung, die außerhalb des kommunalen Bereichs stattfindet, wie beispielsweise die der Pflegekammer, bezeichnet man üblicherweise als funktionale Selbstverwaltung.[35]
Der Verfasser geht hier von Selbstverwaltung im Rechtssinne aus, d.h. „in Orientierung an der klassischen Formel von H. J. Wolff als selbstständige, fachweisungsfreie Wahrnehmung enumerativ oder global überlassener oder zugewiesener eigener öffentlicher Aufgaben durch unterstaatliche Träger oder Subjekte öffentlicher Verwaltung.“[36]
Kennzeichnend für die Selbstverwaltung sind zum einen die Erledigung eigener Angelegenheiten und zum anderen die Übertragung weiterer staatlicher Aufgaben, die auch in eigener Verantwortung, jedoch unter staatlicher Aufsicht durchgeführt werden. Mit diesem Selbstverwaltungsrecht ist die Befugnis, eigene Rechtsgrundsätze zu erlassen, verbunden.[37] Mit seinem Beschluss vom 09.05.1972 hat das Bundesverfassungsgericht bestätigt, dass die Selbstverwaltungsidee und auch der Autonomiegedanke im Verfassungsrecht verankert sind:
„Die Verleihung von Satzungsautonomie hat ihren guten Sinn darin, gesellschaftliche Kräfte zu aktivieren, den entsprechenden gesellschaftlichen Gruppen die Regelung solcher Angelegenheiten, die sie selbst betreffen und die sie in überschaubaren Bereichen am sachkundigsten beurteilen können, eigenverantwortlich zu überlassen und dadurch den Abstand zwischen Normgeber und Normadressat zu verringern. Zugleich wird der Gesetzgeber davon entlastet, sachliche und örtliche Verschiedenheiten berücksichtigen zu müssen, die für ihn oft schwer erkennbar sind und auf deren Veränderungen er nicht rasch genug reagieren könnte.“[38]
Die Entwicklung der autonomen Selbstverwaltung war schon immer eng verbunden gewesen mit der staatlichen Vorherrschaft. Abhängig von ihr war die Bedeutung der Rechtssetzungsfähigkeit autonomer Verbände. Die berufsständische Selbstverwaltung - wie wir sie heute kennen - hat sich jedoch erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt.[39]
Nach alter deutscher Rechtsauffassung konnte jeder Verband für seinen Bereich rechtliche Entscheidungen treffen, weshalb sich vor allem in den mittelalterlichen Städten eine Vielzahl von Vereinigungen mit unterschiedlichsten autonomen Satzungen bildeten. Als Vorläufer der berufsständischen Selbstverwaltung gilt deshalb das im 12. Jahrhundert entwickelte Zunftwesen. Zur damaligen Zeit waren Zünfte Vereinigungen von Handwerkern, die auf Anordnung der Stadtherren als Organe zur Überwachung von Preis- und Marktvorschriften oder als freiwilliger Zusammenschluss auf gegenseitige Hilfestellung fungierten. Neben den Zünften waren die Innungen mit dem Recht der Satzungsgebung über Arbeitslöhne der Gehilfen, Warenpreise und Gerichtsbarkeit ausgestattet. Es lässt sich festhalten, dass bis zum Beginn der Neuzeit nicht nur die ständischen Organisationen, sondern auch die Kommunen mit Satzungsautonomie ausgestattet waren.[40]
Mit dem Absolutismus kam es jedoch zu einem Entwicklungseinbruch, da jede Form autonomer Selbstverwaltung innerstaatlicher Verbände ausgeschaltet wurde. „Hatte man zuvor die Ansicht vertreten, dass jedem Verband von sich aus Satzungsautonomie zustehe, wurde jetzt die Auffassung vertreten, dass die Rechtsbildung eine monopole Funktion des Staates sei.“[41]
Ab 1802 entstand allerdings ein durch das moderne, liberalisierte Gedankengut der französischen Revolution gestärktes Kammerwesen. Die Interessengemeinschaften erhielten den Charakter hoheitlich legitimierter und beauftragter Körperschaften des öffentlichen Rechts mit eigener Rechtspersönlichkeit, die erstmals auch öffentlich-rechtliche Aufgaben wahrnahmen und den Interessen des Staates dienten.[42]
Nachdem es im gesamten Reichsgebiet sukzessiv zu Körperschaftsgründungen kam, wurde im Jahr 1830 für die beiden Städte Barmen und Elbersfeld die erste Handelskammer gegründet. Die gesetzliche Legitimierung folgte jedoch erst durch die Verfassung von 1848, die erstmals das Recht zur freien Bildung von Vereinigungen enthielt.[43]
Durch die neue allgemeine Kammergesetzgebung für alle bis dato gegründeten Industrie- und Handelskammern in Preußen wurde den Kammern die bis heute beibehaltene Organisationsrechtsform einer rechtsfähigen Körperschaft des öffentlichen Rechts mit dem Recht der Selbstverwaltung verliehen. Nach der Verfassung von 1848 - auch Paulkirchenverfassung genannt - folgten Gesetzgebungsakte zu den Kammern der Rechtsanwälte (1878) sowie der Heilberufe (1887) und den weiteren berufsständischen Kammern und Wirtschaftskammern. „Dass die Kammern durch den Gesetzgeber begründet wurden (…) macht deutlich, dass es sich durchweg um eine Neukonzeption handelt, und nicht um die Fortführung mittelalterlich geprägter ständischer Strukturen, wie es vielfach außerhalb des fachwissenschaftlichen Diskurses angenommen bzw. suggeriert wird. Mit der Rechtsform der Körperschaft des öffentlichen Rechts und dem Selbstverwaltungsrecht wurden vielmehr moderne, für die demokratische Legitimationsvermittlung und einen dezentralen Staatsaufbau typische Organisationsrechtsformen verwendet, die auf der gesamtstaatlichen Ebene erst ein halbes Jahrhundert später etabliert werden sollten.“[44]
Während der Weimarer Republik musste gleichzeitig mit der Einrichtung der parlamentarischen Demokratie die Rolle und Funktion autonomer Selbstverwaltung überdacht werden. Mit dem Übergang in die Demokratie wurde die Funktion der staatlichen Organe auf eine bloße Rechtsaufsicht reduziert. Der Konflikt zwischen staatlicher (parlamentarischer) Gesetzgebung und autonomer Selbstverwaltung war dabei vor allem im Punkt Gesetzgebungskompetenz vorprogrammiert.[45]
Während des Dritten Reiches wurden entsprechend dem Führerprinzip alle Kammern zu absolut weisungsabhängigen Untergliederungen des Staates umorganisiert. Der totalitäre Staat benutzte sie als Disziplinierungsinstrument. Wollte die Kammer ihre Rechtssetzungskompetenz nutzen, so wurde vorausgesetzt, dass die Autonomie mit den Zielen des totalitären Staates übereinstimmte.[46]
Durch die 1953 erlassene Handwerksordnung und das 1956 in Kraft getretene Gesetz zur Regelung der Industrie- und Handelskammern, wurde nach dem temporären Funktionsverlust während des national-sozialistischen Regimes erneut die rechtliche Grundlage für ihre Existenz geschaffen. Heutzutage bestehen hierzulande die folgenden Berufskammern: Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern, Industrie- und Handelstag und der Handwerkskammertag (als Spitzenorganisation der obigen Kammern), Landwirtschaft-, Wirtschafts-, und Arbeitnehmerkammern, sowie Kammern für freie Berufe (Rechtsanwalts-, Notar-, Architektenkammern und die der Heilberufe - außer der Pflege.)[47]
In der Bundesrepublik Deutschland unterscheidet man zwischen drei Formen von Kammern[48]:
Kammern der gewerblichen Wirtschaft (Handwerkskammer, Industrie- und Handelskammern),
Kammern des Wirtschaftslebens (Arbeitnehmerkammern, Landwirtschaftskammern, Wirtschaftskammern) und
Berufsständische Kammern der freien Berufe (z.B. Ärztekammern).
Dieses Prinzip beruht auf einer spezialgesetzlichen Grundlage und findet in den jeweiligen Kammergesetzen der Bundesländer seinen Niederschlag.
Bisler definiert Kammern als „organisatorische Zusammenschlüsse, die auf freier Initiative der Interessenten beruhen und die den verschiedenen ideellen und materiellen Gruppeninteressen, Einfluss auf die staatlichen Entscheidungen, am Markt oder in sonstigen ökonomischen, sozialen oder kulturellen Prozessen verschaffen sollen,...