Einleitung
Leiden kann eine Tür zur Wahrheit und Transformation sein. Es gehört zu unserem Entwicklungsprozess, der uns zu Vergebung, Heilung und Ganzheit führt.
Als meine Freundin Khadra mich fragte: »Warum leiden wir?«, antwortete ich: »Wir leiden zum Teil deshalb, weil wir etwas lernen müssen. Etwas in uns muss weicher und demütiger werden. Etwas in uns muss lernen, mitfühlender mit uns selbst und anderen zu sein.«
Dieser Aspekt unseres Leidens ist nicht verhandelbar. Wir können unsere Lektionen nicht umgehen oder dauerhaft verdrängen. Früher oder später müssen wir sie lernen. Ein bereitwillig Lernender zu sein, wird es uns allerdings viel leichter machen, durch unseren Schmerz hindurchzugehen und in unsere Kraft zu kommen.
In diesem Sinne ist Schmerz nicht unbedingt etwas Schlechtes. Er kann einem Zweck dienen. Er kann ein Weckruf sein, der uns darauf hinweist, dass sich etwas in unserem Leben verschieben muss, damit wir wieder ins Gleichgewicht kommen.
Da ist aber auch eine Schicht von Schmerz und Leid, die von unserem Widerstand gegen unsere Lebenslektionen erzeugt wird, von unserer Weigerung, weicher zu werden und zu lernen. Und dagegen können wir etwas tun. Wir können unsere Widerstände erkennen und hindurchgehen. Wir können aufhören, ein Opfer zu sein, und lernen, was das Leben uns beizubringen versucht.
Ein Großteil unseres Leidens wird durch wiederkehrende Muster des Selbstbetrugs erzeugt, die mit unseren Kindheitsverletzungen zu tun haben. Unsere Wunden an die Oberfläche zu bringen, sodass sie geheilt werden können, ist ein wichtiger Teil unseres Weges der psychischen und spirituellen Ganzwerdung. Wir alle müssen die Hindernisse erkennen und abbauen, welche die Liebe in unserem Herzen blockieren. Wir alle müssen unsere Reaktionsmuster von Kampf, Flucht oder emotionaler Erstarrung verstehen lernen und überwinden.
Wenn wir also unsere spirituelle Arbeit tun, können viele Ursachen unseres Leidens neutralisiert werden. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist, dass sich unser Leiden noch vergrößert, wenn wir diese Arbeit nicht tun.
Wir haben die Wahl. Manche von uns beachten die Botschaft, wenn ihr Überbringer das erste Mal an die Tür klopft. Andere zögern zunächst und hoffen, dass der Botschafter wieder verschwindet.
Das ist Wunschdenken. Heute ist der Botschafter vielleicht ein Therapeut oder Lehrer. Nächste Woche kommt er möglicherweise mit einer Horde Soldaten, die einen Rammbock schwingen. Und dann bleibt dir nichts anderes übrig, als die Tür zu öffnen. Manche von uns lernen bereitwillig. Andere müssen auf die Knie gezwungen werden, bevor sie den Weckruf beachten und um Hilfe bitten.
Zwei Arten von Menschen
Es gibt zwei Arten von Menschen auf diesem Planeten: die, die ihren Schmerz fühlen, und jene, die das nicht tun. Erstere fühlen normalerweise auch den Schmerz anderer. Menschen, die ihren Schmerz nicht fühlen, fällt es schwer, den Schmerz anderer wahrzunehmen.
Für diejenigen, die ihren Schmerz spüren, besteht die Herausforderung darin, sich nicht damit zu identifizieren. Sie müssen lernen, dass sie, wenn sie leiden, nicht ihr Schmerz sind. Wenn sie sich mit ihrem eigenen Schmerz und dem anderer identifizieren, bleiben sie darin stecken. Sie verbringen ihr Leben als Opfer und geben ihre Macht an andere ab. Sie fühlen sich unfähig, die für ihr Wachstum und ihre Transformation notwendigen Veränderungen in ihrem Leben vorzunehmen.
Täter hingegen leugnen, dass sie verletzt sind, und verstecken ihre Verletzungen hinter einer Maske des »Erfolgs« oder hinter einschüchterndem Verhalten. Dennoch wird ihr Verhalten unbewusst von Verletztheit gesteuert, und sie verletzen andere fortwährend so, wie sie früher selbst verletzt wurden. Für Menschen, die ihren Schmerz nicht fühlen, besteht die Herausforderung also darin, den Schmerz, den sie anderen zufügen, selbst zu fühlen. Auf diese Weise können sie anfangen, ihren eigenen Schmerz wahrzunehmen.
Menschen mit soziopathischen oder narzisstischen Tendenzen fällt das allerdings nicht leicht. Andere müssen sich ihnen vielleicht entgegenstellen oder ihnen klare Grenzen setzen, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Solange ein Opfer ein Problem damit hat, Nein zu sagen und für sich einzustehen, werden Täter weiterhin leben und handeln, ohne sich ihrer Übergriffe und des Schmerzes, den sie verursachen, bewusst zu sein. Wenn wir andere dominieren und kontrollieren, spüren wir natürlich in der Regel weder ihren noch unseren eigenen Schmerz. Diese hartnäckige Verleugnung unseres Schmerzes macht Heilung fast unmöglich.
Weder das Verleugnen des Schmerzes noch die Identifikation damit sind Strategien für Wachstum und Transformation. Ja, wir müssen unseren Schmerz und den Schmerz anderer fühlen, um den Weg der Heilung zu beschreiten. Aber das ist nur der erste Schritt. Der nächste besteht darin, unseren Schmerz und den Schmerz anderer mitfühlend halten zu lernen, ohne uns damit zu identifizieren oder davon bestimmen zu lassen.
Schmerz versus Leiden
Schmerz und Leiden haben miteinander zu tun, aber sie sind nicht dasselbe. Nehmen wir an, du stößt dir deinen großen Zeh und verspürst plötzlich einen unerträglichen Schmerz. Du weißt sofort, was den Schmerz verursacht hat, und auch, dass er bald nachlassen und schließlich verschwinden wird, wenn du einfach abwartest und eine Weile in ihn hineinatmest.
Leiden hat aber nicht nur mit dem Schmerz zu tun, den wir fühlen, sondern vor allem damit, wie wir ihn interpretieren oder »halten«. Wenn wir dem Schmerz mit Verständnis und Mitgefühl begegnen, machen wir ihn nicht schlimmer, als er ist. Vielleicht lindern wir ihn dadurch sogar. Begegnen wir dem Schmerz aber mit Wut, Angst, Selbstverurteilung oder der Verurteilung anderer, verschlimmern wir ihn.
Das heißt: Unsere psychische Reaktion auf den Schmerz hat großen Einfluss auf unsere Schmerzwahrnehmung und seine Dauer. Diese Verbindung zwischen Körper und Psyche ist gut dokumentiert.
Menschen, die im Opferbewusstsein leben und anderen die Schuld an ihrem Schmerz geben, verstärken und/oder verlängern so den Schmerz, der dann oftmals sogar chronisch wird. Diejenigen, die sich selbst und anderen vergeben und die Verantwortung für ihre eigene Erfahrung übernehmen, lindern dadurch oft den Schmerz, verringern also seine Intensität.
Einfach ausgedrückt: Deine Gedanken und Gefühle haben eine enorme Auswirkung auf dein Erleben. Wie du etwas siehst oder beurteilst, beeinflusst deine Erfahrung des Ereignisses.
Was der eine Mensch als Bedrängnis und Angriff erlebt, betrachtet ein anderer vielleicht als Herausforderung und Lernchance. Die Person, die sich angegriffen fühlt, macht den Angriff zu einer Realität und reagiert darauf, indem sie einen Gegenangriff startet, sich verschließt oder flüchtet. Dadurch verfestigt und verlängert sie den Schmerz.
Ein Mensch hingegen, der die Sache nicht übelnimmt, sieht die Angst hinter dem Angriff und reagiert nicht. Sein Schmerz währt nur kurz. Er erlebt ihn für einen Moment und lässt ihn dann los.
Deine Freundin
Deine Freundin läuft mit einer Geschichte über sich selbst durch die Gegend und lebt in dieser Geschichte. Sie kann dir alle Gründe dafür aufzählen, warum etwas mit ihr nicht in Ordnung ist und »repariert« werden muss. Und sie kann dir alle möglichen Gründe dafür nennen, warum ihr das niemals gelingen wird.
Ihre Geschichte ist eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Sie glaubt, dass sie ihr Leben nicht ändern kann, bestärkt sich damit immer wieder in ihrer Geschichte und durchlebt sie stets aufs Neue. Damit ihr Leben gelingen könnte, müsste sie erkennen, dass es eine »Story« ist und dass diese nicht wahr ist. Dann könnte sie die Geschichte vielleicht verändern.
Es gibt eine einfache Möglichkeit, die Geschichte zu ändern, indem man den ersten Satz umformuliert in: »Ich bin in Ordnung, so, wie ich bin. An mir muss nichts in Ordnung gebracht werden.« Wenn ihr das gelänge, würde sie aufhören, als Opfer durchs Leben zu gehen. Anstatt zu sagen: »Ich kann nicht«, würde sie sagen: »Ich kann.« Und das würde ebenfalls zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden.
Eigentlich eine einfache Sache, oder nicht? Einfach indem sie die Geschichte von »Ich kann nicht« in »Ich kann« verändert, kommt sie aus ihrer Opferhaltung heraus und in ihre Kraft hinein.
Das Prinzip ist nicht schwer zu verstehen, aber die Veränderung, über die wir hier sprechen, ist enorm. Die meisten Menschen sind dazu einfach nicht in der Lage. Und der Grund dafür ist, dass wir an unserem Opferbewusstsein festhalten.
Wir alle wurden vom Leben verletzt, doch anstatt unsere Wunden zu versorgen, damit sie heilen können, benutzen wir sie als Entschuldigung dafür, dass wir im Leben erfolglos bleiben oder das Recht haben, andere zu kontrollieren oder kleinzumachen.
Sowohl das Leugnen unserer Verletzungen als auch die Identifikation mit ihnen bewirkt, dass wir im Opferbewusstsein stecken bleiben. Und beides bedeutet eine Weigerung, zu heilen und Verantwortung für unser Leben zu übernehmen.
Solange wir weiterhin mit dem Opferbewusstsein leben, unsere Macht an andere abgeben oder versuchen, andere zu schwächen, ist kein Wandel möglich. Wir werden dann einfach zu unserer Geschichte, und unser Schmerz und unser Leiden werden chronisch und vorhersagbar.
Die Projektion unseres Schmerzes beenden
Der meiste Schmerz, das meiste Leid auf dieser Welt entspringt der Projektion des unterdrückten (nicht erkannten) und...