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E-Book

Wie Kinder sich die Welt erschließen

Persönlichkeitsentwicklung und Bildung im Kindergartenalter

AutorBarbara Senckel
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl277 Seiten
ISBN9783406699474
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,49 EUR

Charakteristische Persönlichkeitsstrukturen und Einstellungen gegenüber Lernen und Wissen bilden sich schon im Kindergartenalter heraus. Ihr harmonisches Zusammenspiel ist die Voraussetzung dafür, daß später der Erwachsene selbstbewußt, sinnerfüllt, verantwortungsfähig und sozial akzeptiert sein Leben meistern kann. Das vorliegende Buch von Barbara Senckel vermittelt ein umfassendes, differenziertes, auch dem Laien verständliches Gesamtbild der kindlichen Persönlichkeitsentfaltung und Bildung. Die Autorin macht deutlich, daß die kindliche Persönlichkeitsentwicklung in Familie und Kindergarten durch eine angemessene Umwelt- und Beziehungsgestaltung günstig zu beeinflussen ist und daß darin die wichtigste Aufgabe für Eltern und Erzieherinnen liegt.



<p>Barbara Senckel, geb. 1948, hat Germanistik, Psychologie und Philosophie studiert. Sie begr&uuml;ndete die Entwicklungsfreundliche Beziehung nach Dr. Senckel&reg; und war von 1986 bis 2014 Dozentin an der Ludwig Schlaich Akademie in Waiblingen f&uuml;r die Fachbereiche Heilerziehungspflege und Heilp&auml;dagogik. Von ihr sind im Verlag C.H.Beck erschienen: Mit geistig Behinderten leben und arbeiten (2015) und Du bist ein weiter Baum (2011).</p>

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Leseprobe

  II. Die Persönlichkeitsentwicklung bis zur Schulreife


Um den Horizont zu erhellen, der das kindliche Bildungsgeschehen im Vorschulalter umgibt, stelle ich im folgenden die Persönlichkeitsentwicklung mit den zu meisternden Entwicklungsaufgaben bis zum Schulalter dar.

1. Der Beginn des Lebens und die Geburt


Bereits die Zeit im Mutterleib scheint, wie neuere Forschungen nahelegen, einen prägenden Einfluß auf die spätere Persönlichkeit auszuüben, weil das Kind durch die biologische Einheit mit der Mutter an deren körperlicher Verfassung und Gefühlswelt teilhat, seine eigenen Sinne bereits arbeiten und das fötale Nervensystem in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft schon hinreichend ausgebildet ist, um Erlebnisspuren zu speichern.

Mögen die Einflüsse der Schwangerschaft auf das weitere Leben im Detail schwer nachweisbar sein, die Bedeutung der Geburt steht außer Frage. Die Geburt stellt für den ins Leben hineinwachsenden Menschen einen herben Einschnitt dar. Nie wieder bis zum Tod wird er einen so radikalen Wechsel seiner Daseinsbedingungen vollziehen. Im Bauch seiner Mutter war es in den letzten Wochen zwar eng, so daß er in seinen Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt war, doch war es auch gleichmäßig warm und weich. Licht und Lärm drangen nur gedämpft zu ihm; von Schmerzen blieb er weitgehend verschont; Hunger und dergleichen drängende Bedürfnisse kannte er nicht; die Ernährung und Versorgung mit Sauerstoff erfolgte über die Nabelschnur; zusätzliche Bewegung vermittelte der mütterliche Körper. Nun ändert sich dies alles: Der Weg durch den Geburtskanal ist mühevoll, oftmals quälend lang und von Schmerzen begleitet. Die neue Welt ist kalt, rauh, hell und laut. Die Schwerkraft wirkt ungemildert und beeinträchtigt die Bewegungsfähigkeit. Die lebenswichtigen Funktionen müssen nun selbständig ausgeübt werden: die Erhaltung der Körpertemperatur, die Atmung, die Nahrungsaufnahme. Hunger und unbekannte Schmerzen stellen sich ein, und zum ersten Mal wird eine Trennung vollzogen.

Mit dem Eintritt in die Welt verbunden ist folgende grundlegende Erfahrung, die nach M. Mahler einen Zwiespalt und eine in zwei entgegengesetzte Richtungen drängende Sehnsucht aufbrechen läßt, welche erst mit dem Tod enden: Es gibt etwas, das bedeutet Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und Selbständigkeit, zugleich aber auch Trennung und Alleinsein. Diese Qualität wird erworben um den Preis der Einheit, der umfassenden Geborgenheit und des vollständigen Versorgtwerdens. Beide Seinsformen, die aus der intrauterinen Zeit vertraute Einheit und die neu hinzugewonnene Selbständigkeit, erscheinen von nun an als gleichermaßen verlockend und drängen auf Verwirklichung. Durch ihre Gegensätzlichkeit entsteht eine Disharmonie, die immer wieder gelöst werden muß und so die Persönlichkeitsentwicklung vorantreibt. Der Symbiose-Autonomie-Konflikt, also der zwischen den Polen der sozialen Einheit und der individuellen Selbstbestimmung, ist erwacht. Die Verhaltensmuster, um den Konflikt stets erneut auszubalancieren, müssen erst erworben werden, hängen von den prägenden Beziehungserfahrungen ab und bilden ein Kernelement der sich entwickelnden Identität. Die gesunde Persönlichkeit erreicht immer wieder eine Versöhnung zwischen den beiden widersprüchlichen Tendenzen und erlebt sich vorwiegend als «autonom in sozialer Gebundenheit».

2. Der Säugling


Bis ein Kind ein Jahr alt wird, hat es in körperlicher, emotionaler und sozialer Hinsicht die Grundlagen seiner Identität – und damit den Kern seiner Persönlichkeit – erworben. Es kann krabbeln, stehen und vielleicht auch einige Schritte laufen, sich also selbständig fortbewegen, und hat schon so viele Bewegungserfahrungen gesammelt, daß es «weiß», welche Glieder zu seinem Körper gehören. Es besitzt auch ein anfängliches «inneres Wissen» um körperliche Proportionen und die zweckmäßige Organisation von Bewegungsabläufen, d.h. ein keimhaftes Körperschema.

In sozialer Hinsicht ist das Kind im günstigen Fall nun fest an seine Eltern gebunden. Vorrangig von der Mutter erwartet es verläßliche Fürsorge und Schutz; an ihrem Ausdrucksverhalten orientiert es sich bei seinen beginnenden Ausflügen in die Welt. Längst hat es die Qualität der Beziehung zu seiner wichtigsten Bezugsperson verinnerlicht. Sie beeinflußt als Urbild von Beziehung sein Selbsterleben und prägt zu einem gewissen Teil die Erwartungen, die es an alle späteren Partner richten wird, insofern diese wirklich innere Bedeutung gewinnen. Auf diese Weise schlägt sich das frühe Beziehungserleben auch in seinem Identitätsgefüge nieder.

Die Summe aller bisherigen Erfahrungen ergeben darüber hinaus das Grundgefühl, mit dem das Kind zukünftig sich selbst, anderen Menschen und dem Leben überhaupt begegnet. Entsprachen diese Erfahrungen überwiegend seiner Fähigkeit, sie emotional zu verarbeiten, waren sie in diesem Sinne weitgehend «gut», so wird sich auch ein positives Grundgefühl, von E. Erikson als «Urvertrauen» bezeichnet, einstellen. Dieses Urvertrauen besteht in der Gewißheit: Das Leben gewährt, was ich brauche, es bietet genügend Möglichkeiten der Befriedigung und ich bin ihrer wert. Ich kann mich selbst annehmen und auf das Dasein einlassen. Denn ich darf vertrauen: anderen Menschen, mir selbst und dem Leben überhaupt. Dieses Grundvertrauen trägt später auch durch schwierige Lebenssituationen und verleiht die für eine positive Bewältigung notwendige Zuversicht.

Ob das Kind Urvertrauen entwickeln kann, hängt im hohen Maße ab von der Art der Beziehung zur primären Bezugsperson. Denn diese gestaltet seine Erlebniswelt. Nimmt sie es ohne Vorbehalte an, ist sie verläßlich, einfühlsam, hinlänglich emotional stabil und präsent, so wird sie die Signale des Babys beachten und angemessen beantworten. Damit bietet sie günstige Voraussetzungen für die Entstehung einer sicheren Bindung (J. Bowlby) und des Grundvertrauens. Umgekehrt gilt: Je schlechter die emotionalen Bedingungen sind, unter denen ein Kind heranwächst, um so schwächer wird sich sein elementares Vertrauen entfalten und schließlich sogar in ein bleibendes, tiefes Mißtrauen umschlagen. Damit ist eine emotionale Haltung gemeint, die von immer wiederkehrenden Zweifeln, negativen Erwartungen und innerer Distanz den eigenen Impulsen sowie der Welt gegenüber geprägt ist. Die Beständigkeit dieser emotionalen – vertrauenden oder mißtrauenden – Grundhaltung macht sie ebenfalls zu einem wichtigen Bestandteil der Identität der Persönlichkeit.

Was weiß man nun im einzelnen über die Bedingungen, die ein Säugling benötigt, um die Entwicklungsaufgabe seines ersten Lebensjahres, den Erwerb der sicheren Bindung und die Bildung des Urvertrauens erfüllen zu können? Zunächst einmal braucht er, weil er gar so hilflos und unreif zur Welt kommt, die liebevolle Aufnahme in einen «sozialen Uterus» (Pörtner), der ihm «gebärmutterähnliche» Verhältnisse bietet. Das bedeutet konkret, daß man im ersten halben Lebensjahr alle seine Bedürfnisse schnellstmöglich (und später immer noch recht schnell) befriedigt, wenn er sie durch Unruhe oder Schreien verkündet. Denn im Mutterbauch gab es keinen Mangel an Nahrung, Wärme, Sinneseindrücken und Kontakt. Zudem besitzt der Säugling im ersten halben Jahr noch keinerlei Fähigkeiten, mit denen er selbst für die Milderung seiner Nöte sorgen könnte. Er vermag auch nicht auf irgendwelche beruhigenden Erinnerungen und Vorstellungen zurückzugreifen. Denn noch weiß er nicht, daß Menschen und Dinge weiterhin existieren, wenn er sie nicht sieht. Er hat noch keinen Raum- oder Zeitbegriff, weiß also nicht, was es bedeutet, «fünf Minuten zu warten». Auch hat er die Erfahrung eines stabilen «Wenn-dann-Zusammenhanges» noch nicht gemacht und besitzt daher keinerlei Frustrationstoleranz. Statt dessen versetzen ihn unbefriedigte Bedürfnisse in einen unerträglichen Streß und lösen existentielle Ängste aus, die sein Gehirn speichert.

Man muß keine Bedenken haben, daß ein Säugling im ersten halben Lebensjahr verwöhnt würde, wenn man ihn möglichst wenig schreien läßt, sich ihm zuwendet und ihm viel Körperkontakt bietet. Denn allen Bemühungen zum Trotz bleiben noch genügend unerkannte und nicht linderbare Nöte – beispielsweise Verdauungsprobleme – bestehen. So kann man nur dafür sorgen, daß der Streß nicht überhandnimmt, das Angebot des Lebens als vertrauenswürdig empfunden wird und die vertrauensvolle Bindung an die fürsorglichen Erwachsenen wächst.

Ein ganz besonders wichtiges Bedürfnis ist das Erleben emotionaler Einheit (Symbiose) mit der bedeutsamsten Bezugsperson, das nun die verlorene Einheit im Mutterbauch ersetzen muß. Sie bildet neben der schnellen Bedürfnisbefriedigung das wichtigste Element für den Aufbau der sicheren Bindung und des Urvertrauens.

Das Empfinden emotionaler Einheit erfährt der Säugling...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel2
Zum Buch3
Über die Autorin3
Impressum4
Widmung5
Zitat5
Inhaltsverzeichnis7
Einleitung9
I. Der Begriff der Bildung11
1. Die Entwicklung des Bildungsbegriffs12
2. Das vorliegende Bildungsverständnis17
3. Bildung und Persönlichkeitsentwicklung im Kindergartenalter20
II. Die Persönlichkeitsentwicklung bis zur Schulreife25
1. Der Beginn des Lebens und die Geburt25
2. Der Säugling26
3. Das Kleinkind32
4. Das Kindergartenkind37
III. Emotionale Voraussetzungen für den Bildungsprozeß43
1. Gelöste Aufmerksamkeit43
2. Sichere Bindung46
3. Grundlagen der emotionalen Konstanz50
IV. Den Bildungsprozeß unterstützende Bedingungen54
1. Die sinnliche Gestaltung der Lebenswelt55
Das Problem der Reizüberflutung55
Die funktional gegliederte, lebendige Ordnung57
Exkurs: Der Wald als Bildungsraum64
2. Die rhythmische Lebensordnung66
3. Die Bedeutung der Bewegung70
4. Die Beziehung zu Eltern und Erzieherinnen75
Die Experten- oder Vorbildfunktion76
Achtung und Wertschätzung77
Emotionale Präsenz und Einfühlung79
Echtheit und Klarheit83
Behutsame Führung86
Autonomie gewähren90
Teilhaben lassen und teilnehmen95
Fazit: Die Bedeutung der Bezugsperson97
V. Spezielle Entwicklungsthemen im Kindergartenalter und ihre Funktion im Bildungsgeschehen99
1. Die Gruppenfähigkeit: Der schwierige Ausgleich zwischen «Ich» und «Wir»99
2. Das kindliche Gewissen: Zum Umgang mit Normen und Werten107
3. Aggression: Von der unkontrollierten Wut zur sozialverträglichen Selbstbehauptung112
4. Leistungsmotivation: Der erwachende Ehrgeiz und seine Probleme120
5. Frustration: Hemmnis und Anreiz für die Entwicklung128
VI. Formen kindlicher Weltaneignung136
1. Die Nachahmung, das Experiment und die Wiederholung138
Die Nachahmung138
Das Experiment141
Die Wiederholung143
2. Das Denken145
Die Denkentwicklung145
Die Förderung des Denkens150
3. Die Sprache152
Die Funktion der Sprache152
Der Spracherwerb155
Die Förderung der Sprachkompetenz157
4. Das Spiel und das bildnerische Gestalten160
Das Wesen des Spiels160
Exkurs: Das instrumentalisierte Spiel161
Die Spielentwicklung162
Die Entwicklung des bildnerischen Gestaltens168
Problematisches Spiel- und Gestaltungsverhalten172
VII. Bereiche der Bildungsangebote177
1. Alltagsbewältigung177
Hauswirtschaftliche Arbeiten177
Der eigene Körper180
Verkehrserziehung182
2. Naturerleben183
3. Existentielle Fragen187
Geburt, Tod, Krankheit189
Trennung, Trauer, Verlust197
Streit, Scheitern, Schuld200
Angst203
Staunen, Freude, Glück206
Grund und Sinn: Das Weltbild210
4. Künstlerische Ausdrucksformen217
Bildnerisches Gestalten218
Literatur224
Musik und Rhythmik233
VIII. Die Förderung des Bildungsgeschehens239
1. Die personale Bezogenheit239
2. Selbstbestimmung und Selbständigkeit241
3. Die kindgerechte Umwelt243
4. Ganzheitliches Lernen243
IX. Fazit: Die Bildung des sechsjährigen Kindes247
1. Entwicklungsskalen247
2. «Kompetenzinventar»269
Literatur276

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